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Vorn ist noch Platz - Band 3: Band 3
Vorn ist noch Platz - Band 3: Band 3
Vorn ist noch Platz - Band 3: Band 3
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Vorn ist noch Platz - Band 3: Band 3

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About this ebook

Die alte Issa ist gestorben, ihr lebloser Körper liegt in ihrem Turm unter der Luke, die auf das Tyrrhenische Meer schaut. Sie selbst jedoch, höchst lebendig und begleitet von ihrer inneren Stimme, ist in ihrer Vergangenheit unterwegs:
In ihrem letzten Lebensabschnitt lässt ihr sorgloses italienisches Leben Sehnsucht nach neuen Herausforderungen aufkommen. Und solche stellen sich auch sogleich ein: Nach Afrika führen sie die Ereignisse. Sie schließt sich - zunächst als Gast und Beobachterin - einer deutschen Hilfsorganisation für afrikanische Frauen an. Zunächst bestaunt und bewundert sie die Arbeit, die in Tansania geleistet wird, dann aber nimmt sie neben all dem Kraftvollen und Liebenswerten, das ihr von den schwarzhäutigen Menschen entgegenkommt, auch wahr, wie Armut und Bildungsmangel oft zu Not und listenreicher Suche nach persönlichen Vorteilen führen können. Freundschaften entstehen, und immer stärker wird ihr Verständnis für diesen Kontinent.
Als sie nach Monaten wieder nach Italien zurückkehrt, weiß sie, dass sie ihre letzten Lebenskräfte für die Frauen in Tansania einsetzen will. Carlo, die letzte Liebe ihres Lebens, unterstützt sie dabei, obwohl beide dafür viel gemeinsame Zeit opfern müssen. Immer wieder führt die Arbeit Issa an den Kilimanjaro zurück - bis das Schicksal ihr eines Tages harte Grenzen setzt.
Am Ende ihres Lebens stehen die Mysterien des Loslassens.
LanguageDeutsch
Release dateMay 15, 2017
ISBN9783744857611
Vorn ist noch Platz - Band 3: Band 3
Author

Erika Burchard

Erika Burchard, geboren 1934 in Berlin, verbrachte die wesentlichen Kindheitsjahre da, wo heute Polen ist, ihre Jugend- und Studienjahre in München, London, Frankfurt am Main. Dort heiratete sie. Die Kindheit ihrer drei Söhne verlebte die Familie in einem hessischen Dorf. Ihre berufliche Entwicklung verlief ungefähr in Jahrzehnten: Sie schrieb für Zeitungen und arbeitete als Übersetzerin, wurde Lehrerin an einer Waldorfschule und in einem Seminar, machte nebenberuflich jahrelang Erfahrungen in der Bewährungshilfe, zog schließlich nach Italien und produzierte Olivenöl, gründete im Schwarzwald zusammen mit Freunden eine Hilfsorganisation für afrikanische Frauen und arbeitete in Tansania. Jetzt wohnt sie in einem norddeutschen Dorf und buddelt im Garten.

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    Vorn ist noch Platz - Band 3 - Erika Burchard

    Widmung

    Den Aktivisten

    vom Netzwerk RAFAEL e.V.

    in Dankbarkeit dafür, dass sie dranbleiben

    Herzlich Dank

    sage ich den Freunden, die durch Ermunterung und

    – wie Guido Hinrichs -

    mit Arbeit an Druckformat und Einband

    dafür gesorgt haben, dass das Manuskript dieses Buches

    doch noch aus der Schublade herausgekommen ist

    Was bisher geschehen ist

    Die alte Issa durchlebt während ihres Sterbens noch einmal die Zeit, als sie kurzentschlossen und naiv ihr Haus an der Pfälzer Weinstrasse verkauft, alles Inventar verschenkt und einen Turm in einem italienischen Dorf bezieht. Ihr anfängliches Leben dort bringt sie in groteske Sprachschwierigkeiten. Von Land und Leuten hat sie wenig Ahnung. Eine Hilfe ist ihr die Bekanntschaft mit dem Lebenskünstler Carlo. Obwohl sich zwischen beiden Zuneigung entwickelt, wird auch eine Barriere spürbar, deren Ursache lange Zeit nicht zur Sprache kommt.

    Nach einem ersten Sommer am Tyrrhenischen Meer wird Issa nach Deutschland gerufen, um eine Verwaltungsangelegenheit zu regeln. Daraus ergibt sich der freudige Plan eines Wiedersehens mit Kindern und Stiefkindern. Jedoch lässt ein jäher Schicksalsschlag dieses Treffen zur Trauerversammlung werden, bei der die Anfangsjahre der Familiengeschichte unter den Geschwistern wie eine späte Abrechnung diskutiert werden. Issa taucht noch einmal tief in ihre Herzensbindung zu Norbert ein, dem Vater ihrer Stiefkinder.

    Kurz vor ihrer Rückreise nach Italien erscheint überraschend Carlo bei ihr, in der Meinung, Issa könne nach all dem Schwierigen der letzten Wochen einen Freund und Chauffeur für die lange Heimfahrt brauchen. Auf dieser Fahrt machen sie eine folgenschwere Mittagspause in Mailand.

    Die alte Issa stirbt. Sie bemerkt dies jedoch kaum, denn ihr Bewusstsein durchläuft weiterhin lebhaft viele Ereignisse ihres Lebens. Sie erlebt sich noch einmal an vielen Orten in aller Welt, auch in Kindheit, Jugend, Kriegszeiten und der Familiengeschichte aus zwei Jahrhunderten. Der Dialog mit ihrer inneren Stimme, die sie bei allen Ereignissen begleitet, reißt auch durch Issas Tod nicht ab.

    Inhaltsverzeichnis

    Dritter Band

    Afrika

    MarettoUnbekanntes schwarzes Mädchen

    VetuloniaJakobs Bedenken

    LörrachErster Schritt nach Afrika

    HausenZweiter Schritt nach Afrika

    VetuloniaImmerwährende Wahrheit

    KilimanjaroJubel

    Uhuru HostelDer Gecko

    ObangoVolkspädagogische Meisterleistung

    Uhuru HostelNach der Kampagne

    ShimbweFilmvorführung

    Uhuru HostelEntscheidende Begegnung

    KCMCRosarote Krankenschwestern

    Elementary School 4Wer lügt hier?

    Uhuru HostelDen Kopf klarkriegen

    MoshiHochzeit feiern

    Uhuru HostelDie Hündin mit den langen Zitzen

    Uru OstUrkunden für Rothemden

    MoshiÄrzte für Tiere – gibt’s das?

    Dr. vet. Allalalawi

    Uhuru HostelHeimweh

    UsariHeilige Nacht

    Uhuru HostelDie Entführung

    KCMCDas Geständnis

    Uhuru HostelBischof Mwembas Frühstück

    Mission erfolgreich beendet

    Die Entscheidung

    Kilimanjaro AirportDirektflug nach Rom

    Tyrrhenisches MeerGeld für Afrika

    Hausen im WiesentalErfolg und Sehnsucht

    VetuloniaHeiliger Computer

    HausenBetteln lernen

    ZürichSiebenhundert Rosen

    HausenAnita lernt Europa

    St. GotthardDie Alpen sind weg

    VetuloniaSchneeweißchen und Ebenholz

    TansaniaZurück am Kilimanjaro

    BundaNacht des Schreckens

    Tyrrhenisches MeerVor Sonnenaufgang

    Finale

    VetuloniaMysterien des Loslassens

    Zitat Erwin Strittmatter

    Über die Autorin

    Wo sind

    die Auferstandenen

    die ihren Tod

    überwunden haben

    das Leben liebkosen

    sich anvertrauen

    dem Wind

    Kein Engel

    verrät

    ihre Spur

    Rose Ausländer

    Afrika

    Maretto

    Unbekanntes schwarzes Mädchen

    Unweit von Natalyas prächtigem Wohnsitz biegt Hilkas kleiner Fiat von der Landstraße in einen ausgefahrenen Waldweg mit tiefen Regenlöchern ein. Issa folgt ihr. Der Versuch, den Löchern auszuweichen, scheitert. Man kann nur hoffen, dass die Achsen diese Achterbahnfahrt unbeschadet hinnehmen. Das letzte Stück des Weges ist leichter zu befahren, eine gut befestigte Schotterpiste, die vor einem stattlichen Tor mit zwei Flügeln endet. Hinter diesem liegt ein großes gärtnerisch genutztes Gelände, eine Baumschule mit unüberschaubaren Reihen von Buchsbaum in allen Größen vom Winzling bis zum dicken Busch. Geräteschuppen gibt es, eine Garage und ein Wohnhaus, dessen Kiesterrasse von unzähligen blühenden Sträuchern und Topfpflanzen eingerahmt ist. Alles sieht gehegt und gepflegt aus, aber dennoch bescheiden.

    Hilka, Mitte fünfzig, offensichtlich bereits in jungem Alter grauhaarig geworden, kräftig und gerundet gebaut, kommt aus einer bekannten süddeutschen Baumschule, die ihr Ehemann in der dritten Generation führt. Dort hat sie als junges Flüchtlingsmädchen eingeheiratet, zusammen mit der Großfamilie gearbeitet und ihre beiden Söhne großgezogen. Bis ihre Hautkrankheit, eine Schuppenflechte, immer mehr überhand nahm, so dass sie nichts mehr anfassen konnte und arbeitsunfähig wurde. Nichts half, ihre hautlosen Stellen wurden immer größer. Und weil die Ärzte rieten, sie solle sich am Meer niederlassen, das Meerwasser sei das beste Therapeutikum für sie, hatte ihr Mann die grandiose Idee, ein Meer-nahes Grundstück in der Maremma zu kaufen und seine Frau dort neben ihrer Genesung auch eine Buchsbaumzucht betreiben zu lassen. Die Investition in ihre Gesundheit sollte sich auch für die Baumschule lohnen. Unter der südlichen Sonne wachsen Buchsbäume mindestens dreimal so schnell wie in Deutschland, was für die Gärtnerei ein enormes Geschäft verhieß. Hilka tat, was sie konnte, und der Buchs gedieh auch, ihre Haut allerdings weniger. Sie arbeitete allein und sehr fleißig auf dem Gelände, machte ständig neue Stecklinge, pflanzte, wässerte, hackte, trimmte und bediente daneben auch noch die zahlreichen Familienmitglieder, die in steter Folge in Maretto Ferien machten. Im Laufe der Jahre hatte die brave Hilka schon unzählige LKW-Ladungen Buchs in lieferfertiger Größe und attraktiv beschnittener Form für Deutschlands Markt produziert, als sie plötzlich kühn wurde und verlangte, sich jetzt mal ausschließlich um ihr Ekzem kümmern zu dürfen. Aufruhr in der Großfamilie! Auch der Firmenchef war empört, denn jetzt ging es um die Störung des bisher so erfolgreichen Geschäfts. Schließlich kam es zu einem Zerwürfnis, das damit endete, dass man Hilka zur Strafe auf ihren Buchsbäumen sitzen ließ und sich abwendete. Nur noch die beiden Söhne besuchten sie und nahmen ihr gelegentlich eine Ladung Pflanzen ab. Hilka hatte nun keine Einnahmen, und aus Deutschland kamen auch keine Unterhaltszahlungen mehr. Den Gürtel enger schnallen musste sie und von Gelegenheitsjobs leben wie zum Beispiel der Übersetzungskontrolle bei notariellen deutsch-italienischen Verträgen. Bei dem Notar Dottor Leone hatte Issa sie in dieser Funktion kennengelernt.

    Die jetzt nicht mehr exportierten Buchsbäume hatten viel Zeit, sich zu gesunden Büschen und Sträuchern zu entwickeln, die in Reih und Glied auf Hilkas Acker stehen blieben - bestellt und nicht abgeholt. So stehen sie noch immer da. Mit Hilka aber ist ein Wunder geschehen: Ihre Haut hat sich von ganz allein schon bald nach ihrer familiären Verstoßung geschlossen und ist vollkommen gesund geworden.

    „Und wovon lebst du jetzt?" fragt Issa.

    „Gute Frage! Hilka lacht. „Ab und zu verkaufe ich auch hier mal ein Bäumchen, sagt sie. „Außerdem baue ich meinen eigenen Bedarf Obst und Gemüse selber an und schaffe mir Vorräte für den Winter. Und wenn das alles nicht reicht, betreue ich auch mal Ferienwohnungen und gehe putzen. Jetzt kann ich endlich mal erleben, wie groß Buchsbäume werden können, wenn man sie einfach wachsen lässt," lacht sie.

    Auch Issa erzählt ihre Geschichte, während die beiden Frauen zwischen den duftenden und überreich blühenden Büschen am Kaffeetisch sitzen. Hilka holt einige Fotoalben hervor, und ehe sich die beiden versehen, ist es später Nachmittag geworden. Hilka führt Issa durch das ganze Gelände und zeigt ihr alle Gebäude. Das Maschinenhaus will sie zu einem kleinen Ferienhaus umbauen lassen, wenn sie genügend Geld zusammengespart hat, und das will sie später mal vermieten.

    Was für eine Frau! Issa ist begeistert. Als Hilka sie bittet, zum Abendessen zu bleiben, nimmt Issa die Einladung gern an. Am Abend schaut Hilka auf die Uhr und sagt schüchtern, da sei jetzt gleich eine Seriensendung im Fernsehen, die sie bisher nie versäumt hat. Ob nicht vielleicht auch Issa Lust dazu habe, es sei eine Frauensendung, die dauere nur dreißig Minuten. Issa hat jahrelang nicht mehr ferngesehen, sie lässt sich gern wieder einmal auf so eine Erfahrung ein. Als man sich vor Hilkas beachtlich großen Bildschirm niedergelassen hat, stellt sich heraus, dass er auf den Empfang deutscher TV-Sender eingerichtet ist. „Die italienischen Programme sind ja nicht auszuhalten, sagt Hilka, „da wird man ja zur Mickey Mouse. Issa fühlt sich an ihre gelegentlichen Mahlzeiten bei Walter und Fioralba erinnert, bei denen der Fernseher gewissermaßen mit am Esstisch saß, und die Mickey Mäuse alle Gespräche dominierten.

    Die aktuelle Sendung aus Deutschland nennt sich Mona Lisa und ist für Frauen gedacht. In einem Vorspann wird gewarnt, dass diese besondere Sendung am heutigen Abend für Jugendliche unter sechzehn Jahren und besonders empfindsame Menschen ungeeignet sei. Gezeigt werden soll ein realer Fall von Genitalverstümmelung eines afrikanischen Mädchens in Boukina Faso.

    „Genitalverstümmelung? Was soll denn das sein?" fragt Hilka.

    Zuerst sieht man ein Mädchen im Kreis ihrer großen Familie und der Dorfleute ein Fest feiern. Eine Trommlergruppe spielt, einige bemalte und kostümierte Jungen tanzen. Das Mädchen ist vierzehn Jahre alt und zeigt stolz lächelnd sein neues Gewand her, rotgeblümt und reich mit Rüschen ausgestattet. Offenbar ein luxuriöses Gewand, gemessen an den ärmlichen Verhältnissen in diesem Dorf. Das Kleid ist eigens zu diesem Fest für Bouta, so heißt das Mädchen, genäht worden. Bouta darf an diesem Festtag auch nach Belieben ihre Lieblingsspeisen haben. Sie wird sichtbar von ihren weiblichen Verwandten hofiert. Mutter und Großmutter werden vorgestellt, viele Tanten. Alle scheinen in Hochstimmung zu sein, lachen in die Kamera, und manche posieren sogar ein wenig, um gefilmt zu werden. Auch Männer sitzen zahlreich im Kreise, essen, trinken und reden miteinander, aber sie bleiben von der Kamera weniger beachtet im Hintergrund. Für das Fernsehpublikum ist das ein interessanter Einblick in afrikanische Festgebräuche.

    Freilich nur bis zu dem Augenblick, als das Mädchen Bouta, immer noch stolz lächelnd, in eine Hütte geführt wird, wo eine alte Frau auf dem Boden hockt. Neben sich hat sie ein Tuch mit allerlei Instrumenten, die die Kamera genau erfasst, es sind Messer in verschiedenen Größen und eine Art Zange.

    Was dann kommt, beginnt abrupt.

    Schlagartig ist der von allen bisher lächelnd zur Schau getragene Festbetrieb vorbei. Mehrere Frauen, darunter auch Boutas Mutter und Großmutter, packen das Mädchen und ziehen es zu Boden. Als ihr Kleid hochgezogen wird, zeigt sich, dass sie keine Unterwäsche anhat. Man spreizt ihre Beine weit auseinander und hält sie mit vielen Händen am ganzen Körper fest. Sie sieht ängstlich aus, lässt aber alles schweigend mit sich geschehen. Die Kamera zieht sich zurück und gewährt den Zuschauern einen gnädigen Abstand, als die blutige Prozedur beginnt. Die Alte, von der es im Kommentar geheißen hatte, sie sei zugleich Hebamme und Heilerin, nimmt ein Messer und säbelt eine der Schamlippen des Kindes ab, als trenne sie einen unerwünschten Sehnenstrang von einem Bratenstück.

    Bouta stößt einen gellenden Schrei aus, alle Hände, die sie am Boden festhalten, straffen sich, sie kann sich keinen Millimeter bewegen. Als das Messer die zweite Schamlippe abtrennt, stürzt Issa aus dem Raum, begleitet von den tierisch klingenden Schreien des jungen Mädchens. Issa rennt in Panik an Hilkas Remisen vorüber mit Würgegefühlen im Hals, sie rennt durch die Buchsreihen bis zum Ende des Geländes. Dort übergibt sie sich. Dann schaut sie, schwer durchatmend, zum Nachthimmel auf. Das da oben ist ein zunehmender Mond, fast schon ein Halbmond, konstatiert sie, um wieder zu sich zu kommen. Warum wird Gottes Schöpfung so sinnlos zerstört? fragt sie sich, als sie sich einigermaßen beruhigt hat.

    Dann hört sie Hilka rufen: „Komm, komm wieder rein, es ist vorbei!"

    Sie geht zurück, noch immer zitternd.

    Hilka sagt, sie habe den Fernseher ausgemacht, als dem Kind auch noch die Klitoris abgeschnitten wurde, was allerdings nicht mehr gefilmt worden sei. Ob Issa das jetzt folgende Podiumsgespräch zwischen Ärzten und Afrikaexperten sehen wolle, fragt Hilka.

    Issa winkt ab. Dankbar greift sie zu dem Weinglas, das Hilka ihr in ihrem süß duftenden Kies-Rondell einschenkt. Issa blickt in den herrlich klaren Sternenhimmel, und wieder versucht sie, noch immer fassungslos, das Gesehene in den Kontext der majestätischen Natur einzupassen.

    „Es tut mir leid, entschuldigt sich Hilka, „dass du ausgerechnet sowas bei mir sehen musstest. Diese Sendungen sind sonst immer ganz anders...

    „Kein Grund zum Bedauern, ich war ja durch den Vorspann gewarnt und hätte gleich gehen können."

    „Wusstest du, dass es sowas gibt?"

    „Genitalbeschneidung? Doch, ich habe darüber gelesen, sagt Issa, „und das ist ja gerade das Schlimme: Der Mensch kann so etwas durchaus wissen, es auch als grausam verurteilen. Aber er wendet sich davon auch schnell wieder ab, wie von so vielen schlimmen Informationen, von denen wir täglich überflutet werden, uns kurz aufregen und sie dann doch wieder vergessen. Es gibt so viel Krieg, Unterdrückung, Qual und Verzweiflung auf der Welt! Und vieles davon ließe sich auch verändern. Wenn wir nur nicht immer ausschließlich mit unseren eigenen Angelegenheiten beschäftigt wären!

    „Aber es nützt doch diesem Mädchen gar nichts, wenn du jetzt so außer dir bist, wendet Hilka ein. „du kannst doch gar nichts tun dagegen. Afrika ist so weit weg, eine Welt für sich, da haben wir gar keinen Einfluss.

    „Meine Aufregung nützt freilich niemand was, da hast du Recht. Aber es ist eine massive Menschenrechtsverletzung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nirgendwo politische oder humanitäre Kräfte gibt, die gegen so eine himmelschreiend qualvolle Verstümmelung angehen. Die müsste man unterstützen. Es kann doch nicht sein, dass sich da niemand drum kümmert."

    „Wie sollte man so etwas denn unterstützen? Ausgerechnet in Afrika. In Europa hat auch jeder so seine eigenen Sorgen, und die sind auch hier nicht immer leicht zu ertragen."

    „Du hast tatsächlich große eigene Sorgen, Hilka."

    „Aber das geht doch jedem so."

    „Nein, Hilka, nicht jedem! Schau mich an: meine Kinder sind erwachsen und unabhängig. Ich bin damals aus Deutschland abgehauen, weil mein Leben dort in eine Schieflage geraten war. Aber jetzt bin ich hier und führe das Leben einer Made im Speck."

    Hilka protestiert lachend: „Unter Made im Speck stell ich mir was ganz anders vor. Zum Beispiel die Leute, die da draußen auf dem mare tirreno mit ihren feinen Seglern kreuzen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen."

    „Ich fühl mich aber so. Noch nie hab ich so sorglos gelebt wie heute. Davon müsste man doch leicht was abgeben können, meinst du nicht?"

    „Hast du nicht gesagt, du hast deinen Freunden in Vetulonia Geld geliehen? Da hat die Made ja bereits was von ihrem Speck abgegeben," versucht Hilka zu scherzen und schenkt Wein nach.

    „Das Geld kriege ich wieder. Walter und Fioralba konnten sich damit ein Waldgelände kaufen und ins Korkeichengeschäft einsteigen. Da werden sie Gewinn machen, und ich hab mein Geld wieder."

    „Auch Geld ausleihen ist eine Hilfe, sagt Hilka, „für diese beiden Leute konntest du was tun. Aber dem Mädchen in Afrika kannst du nicht helfen, es ist ganz sinnlos sich aufzuregen.

    „Ich rege mich nicht nur über dieses eine Mädchen auf, Hilka, sondern bei dem Gedanken, dass jedes Jahr viele Tausende von Kindern auf diese Weise gefoltert werden. Sie nennen das Tradition! Kannst du dir vorstellen, auf welche Art diese Frauen ihr Leben führen, nachdem man sie derartig amputiert hat?"

    „Sicherlich doch wohl ohne Sex."

    „Ohne Sex? Und wer kriegt die Kinder in Afrika?"

    „Schreckliche Vorstellung, wenn man sich das mal so richtig ausmalt!"

    * * *

    Und? fragt Issa erwartungsvoll.

    Was heißt: und? ist die Gegenfrage der Stimme.

    Du hast mich wegen meiner Eitelkeit schon zweimal getadelt. Wäre da jetzt nicht ein bisschen Anerkennung angebracht? Immerhin fange ich endlich an, mein Leben kritisch zu analysieren. Hast du das bei mir nicht immer vermisst? Ich bemerke selber, dass ich im letzten Jahr allzu sorglos und nur für meine eigenen Interessen gelebt habe.

    Solche Gedanken entsprechen dem ganz normalen Selbstzweifel, den manche Leute spätestens in der Lebensmitte kriegen. Du bist lediglich ein bisschen spät dran damit.

    Und wo bleiben die Selbstzweifel bei denen, die sorglos auf ihren Segelyachten sitzen?

    Woher weißt du denn, dass sie da sorglos sitzen? Gegen Segeln an sich, auch gegen den Besitz einer Segelyacht, kann ja wohl niemand moralische Bedenken haben. Das ist nun wieder so ein ähnlicher Kurzschluss wie dein Bedauern über den üppigen Lebensstil, in dem deine Enkel aufwachsen.

    Ja, ja, sowas hast du schon öfter gesagt: Es ist sinnlos, auf andere zu schauen. Verändern kann jeder nur sich selbst. Ich weiß.

    Du siehst es ein – bravo! lässt sich die Stimme nun doch lobend hören.

    Brava – es muss brava heißen, weibliche Endung, denn ich bin eine Frau.

    Du bist eine Frau – gewesen! Und du willst noch immer unbedingt rechthaben.

    * * *

    Vetulonia

    Jakobs Bedenken

    Issas jüngster Sohn am Telefon aus Frankfurt: „Ich habe weisungsgemäß dreitausend Euro von deinem Konto an diese Femmeprotect Organisation überwiesen. Wenn ich mir die Frage erlauben darf: Verschenkst du in letzter Zeit nicht ein bisschen viel von deinem Geld?"

    Issas Antwort: „Das ist eine Spende an eine renommierte Frauen-Hilfsorganisation, die in Afrika Gesundheitsaufklärung betreibt gegen die Verstümmelung von jungen Mädchen. Die Überweisung an Walter und Fioralba dagegen war nur ein Darlehen und kein Geschenk. Das Geld kriege ich wieder."

    „Existiert da ein Darlehensvertrag?"

    „Nein, sagt Issa überzeugt, „das ist nicht nötig. Das sind ehrliche Leute.

    „Auch ehrliche Leute wissen manchmal nicht mit Geld umzugehen und gehen pleite."

    „Jakob, solche Gespräche führe ich nicht gern."

    „Genau darum hast du mich aber zum Hüter deines Bankkontos bestimmt. Darf ich noch einen Zweifel loswerden?"

    „Ungern, sagt Issa, „aber – schieß los!

    „Was weißt du denn über diese Organisation Femmeprotect? Hast du dich mal schlau gemacht, was die mit deinem Geld tun? Deine dreitausend Euro Spende ist für dich kein Pappenstiel."

    „Sei unbesorgt, Jakob. Ich hab mir Unterlagen schicken lassen. Die Zentrale der Institution ist in Paris. Das deutsche Zweigbüro sitzt in Lörrach bei Basel und arbeitet unabhängig von Frankreich. Sie haben mehrere Projekte in Europa, Asien und Afrika laufen, die dort Frauen unterstützen. Es gibt verschiedene Aktionen: Wirtschaftliche, die verschaffen Frauen Kleinerwerbsbetriebe. Medizinisch arbeiten sie mit Ärzte ohne Grenzen zusammen, und sie werben für Schulpatenschaften besonders für Mädchen. Außerdem haben sie in Afrika zwei Aufklärungsinitiativen laufen gegen Genitalverstümmelung. Spender können selbst bestimmen, in welchen Fond ihr Geld gehen soll. Ich habe im Fernsehen eine Sendung über die Frauenbeschneidung gesehen, und das Thema ist mir so unter die Haut gegangen, dass ich speziell diese Arbeit unterstützen will."

    „Weißt du, Mutter, sagt Jakob und man merkt ihm an, dass er seine Worte sorgfältig abwägt, „ich hab das, was du mir über Femmeprotect sagst, auch schon im Internet nachgelesen. Trotzdem meine ich, jemand wie du, die nur eine durchschnittliche Rente bezieht und kein Vermögen außer dem unbedeutenden Rest vom Hausverkauf hat, sollte ihr Geld nicht emotional verwalten, sondern sehr genau prüfen, bevor sie so große Beträge bedingungslos zur Verfügung stellt.

    „Auch wenn du in der dritten Person von mir sprichst, spottet Issa, „ahne ich, dass du am liebsten einen Hamster aus mir machen willst. Ich soll horten für schlechte Zeiten und nichts mehr abgeben. Ist es das, was du meinst?

    „Nein, sagt Jakob geduldig, „das ist es nicht. Du sollst nicht horten, aber auch nicht unbesorgt verteilen! Wenn du ein paar Tausender in die Hand nimmst, um sie in irgend eine Zielsetzung zu stecken, ist es nicht dasselbe, wie wenn du Greenpeace oder Amnesty International erlaubst, jeden Monat zwanzig Euro von deinem Konto abzubuchen. Ich denke, mit der Größe der einzelnen Spende wächst auch deine Verantwortung, dass sie genau da ankommt, wo du sie haben willst. Und nicht etwa für andere Zwecke genutzt wird, also zum Beispiel für unnötig aufgeblähte Verwaltungsapparate. In diesem Fall könntest du nämlich deine Kohle wirkungsvoller selber nach Afrika tragen und sie dort verschenken.

    „Du willst also sagen, ich soll mich genauer darüber informieren, wie viel Prozent der eingenommenen Spenden in die Verwaltung und wie viel in die eigentlichen Projekte fließen? Konntest du das denn im Internet nicht erfahren?"

    „Nicht so genau. Auch die Art, wie das Projekt im einzelnen verwaltet ist, kannst du nicht aus dem allgemeinen Prospektmaterial erfahren."

    „Gut. Lörrach liegt ja günstig für mich, gleich hinter der Schweizer Grenze. Ich frage einfach an, ob ich Femmeprotect mal einen Besuch abstatten darf. Da ganz in der Nähe, im Schwarzwald, wohnt übrigens Klaus Schirmer, erinnerst du dich an ihn? Der hat mich schon lange eingeladen, sein neu gebautes Haus anzuschauen, wenn ich mal wieder in Deutschland bin. Da schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn ich hinfahre. Die Schirmers haben inzwischen schon ein dreijähriges Kind. Das kenne ich noch gar nicht - so lange hab ich sie nicht gesehen."

    „Schirmer? Der wohnt jetzt im Schwarzwald? War der nicht Student bei dir an der Hochschule? Der Kerl mit dem Umweltfimmel, der mit dem Tandem zu seiner eigenen Hochzeit gefahren ist."

    „Genau der. Und das Wort Fimmel will ich mal leutselig überhört haben. Ich bin um jeden Menschen froh, der nicht wie gewisse andere Leute mit einem BMW-Cabrio den CO2 Ausstoß auf die Spitze treiben, sogar in einer Stadt wie Frankfurt, wo das öffentliche Verkehrsnetz eine beispielhafte Dichte hat. Also – soll ich nun zu Femmeprotect hinfahren und mir den Laden ansehen?"

    Trotz der Anzüglichkeit in der Rede seiner Mutter versucht Jakob sachlich zu bleiben: „Sagen wir so: Wenn du vorhast, dort Dauerspenderin zu werden, dann würde sich so ein persönliches Kennenlernen durchaus empfehlen. Wenn das jetzt allerdings nur eine einmalige Spende war, wäre der Reiseaufwand zu groß, denn an der letzten Überweisung kannst du nichts mehr ändern – die ist weg, auch wenn Femmeprotect dafür einen Betriebsausflug gemacht haben sollte."

    „Ich überleg mir das mal in Ruhe. Was du sagst, leuchtet mir durchaus ein. Sei mir nicht böse, dass ich anfangs so wenig Lust hatte, mit dir darüber zu reden. Du hast vollkommen Recht, Jakob. Ich danke dir, dass du mich immer so schön streng überwachst!"

    „Spotte du nur, sagt er ungerührt. „Schon vergessen: Du hast vor gar nicht allzu langer Zeit auf dem Eselsberg einen Plastikbeutel mit mehreren zehntausend Mark zuerst in den Müll geschmissen, dann wieder rausgeholt und an einen Wandnagel gehängt und dort vergessen.

    „Und du hast vor achtundzwanzig Jahren in die Hose gemacht."

    Lörrach

    Erster Schritt nach Afrika

    Das Büro von Femmeprotect ist erstaunlich klein: Ein dunkler Korridor, von dem aus es in drei Räume geht. Kati Knierim, die Geschäftsführerin, begrüßt Issa an der Tür. Keine Sekretärin, kein Empfangspersonal ist zu sehen, stattdessen vollgestopfte Regale und ein überladener Schreibtisch in Knierims Zimmer. Sie bietet Issa einen Stuhl an und rollert ihren Schreibtischsessel heran, um Issa gegenüber sitzen zu können. Sie ist eine Frau um die vierzig, energiegeladen, breitschulterig und schlank.

    „Nochmals herzlichen

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