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Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte: Die nicht gehörten Propheten des 20. Jahrhunderts
Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte: Die nicht gehörten Propheten des 20. Jahrhunderts
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Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte: Die nicht gehörten Propheten des 20. Jahrhunderts

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About this ebook

Since 1997, FORUM has been an integral part of the landscape of European studies. In addition to contemporary history, it offers insights into the history of ideas and reviews books on Central and Eastern European history. It offers more than just historyfor instance, interdisciplinary discussions by political scientists, literary, legal, and economic scholars, and philosophers. FORUM sees itself as a bridge between East and West. Through the translation and publication of texts and contributions from Russian, Polish, and Czech researchers, it offers the Western reader access to the scholarly discourse of Eastern Europe.

The 'short' 20th century is one of the best-documented eras in history. Nevertheless, it holds more mysteries than many periods of antiquity or the Middle Ages of which we have only sparse relics. One of the biggest mysteries is the question of the causes of the collapse of civilization in the first half of the century. In Germany as well as in Russia, regimes came to power invoking the implementation of utopias that had been dreamt up during the 'long' 19th century yet which had been considered unrealizable. Now, it turned out, even the most radical utopian blueprint could be put into place. This development, intertwined with an extraordinarily deep crisis of European democracy, did not happen overnight. It had been looming for a long time. There had even been several prescient voices heralding the upcoming crisistrailing away without being noticed. Volume 19, Issue 1 of FORUM recognizes some of these unheard prophets and scrutinizes their writings.
LanguageEnglish
PublisherIbidem Press
Release dateMay 3, 2016
ISBN9783838268828
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    Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte - Ibidem Press

    9783838268828

    ibidem Press, Stuttgart

    Inhaltsverzeichnis

    Einführung

    I. Die nicht gehörten Propheten des 20. Jahrhunderts

    Rudolf Morsey

    Fritz Gerlich (1883-1934) – Ein vergeblicher Warner vor der nationalsozialistischen Gefahr

    Leonid Luks

    Georgij Fedotov über die russische und die europäische Krise der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

    II. Ideengeschichte

    Bernice und Konstantin Kaminskij

    Teilhabe und Solidarität. Der Bühnenautor Karol Wojtyła  und die dramatischen Ursprünge der ostmitteleuropäischen Dissidentenbewegung

    Dirk Mathias Dalberg

    Europas verschwundene Mitte. Die Mitteleuropavorstellung des tschechischen Philosophen Karel Kosík

    III. Zeitgeschichte

    Ulf Walther

    Aspekte des sicherheitspolitischen Transformationsprozesses in der Ukraine ― Vom KGB der Ukrainischen SSR zum SBU einer unabhängigen Ukraine

    IV. Dokumente

    Briefwechsel zwischen Simon L. Frank und Ludwig Binswanger (1934 – 1950) Briefe aus den Jahren 1946-1950

    Über die Autoren

    Einführung

    Bei einem Versuch, das „kurze 20. Jahrhundert zu charakterisieren, müsste man wohl darauf hinweisen, dass es durch die Verwirklichung von Utopien geprägt wurde, die im „langen 19. Jahrhundert entstanden waren und die zunächst als wirklichkeitsfremd und unrealisierbar galten. 1917 und 1933 gelangten indes diese Utopien an die Macht. Es stellte sich nun heraus, dass auch die radikalsten utopischen Entwürfe verwirklicht werden konnten. Der russische Philosoph Nikolaj Berdjaev sagte in diesem Zusammenhang: Im 19. Jahrhundert habe man sich oft darüber beklagt, dass die Utopien zwar schön seien, sich aber leider nicht verwirklichen ließen. Im 20. Jahrhundert sei die Menschheit mit einer ganz anderen Erfahrung konfrontiert worden. Utopien seien leichter realisierbar, als man dies zunächst angenommen habe. Die Frage, die sich nun stelle, sei, wie man die Verwirklichung von Utopien verhindern könne.[1]

    Ließen sich diese Entwicklungen voraussagen? Durchaus. Es gab sowohl im Osten als auch im Westen zahlreiche Mahner, die vor dem sich anbahnenden Zivilisationsbruch mit Nachdruck warnten. Zu ihnen zählten z. B. die Autoren des 1909 in Moskau erschienenen Sammelbandes Vechi (Die Wegmarken), die die Vorboten der herannahenden russischen Katastrophe frühzeitig erkannten.[2] Sie warnten vor den verhängnisvollen Folgen des in Russland verbreiteten utopistischen Denkens, vor der Illusion, man könne über Nacht ein soziales Paradies auf Erden errichten, und zwar durch die mechanische Beseitigung des Bösen als dessen Verkörperung den linken Utopisten das Zarenregime galt. Acht Jahre später gelangten die Utopisten vor denen die Vechi-Autoren gewarnt hatten, an die Macht.

    Aber nicht nur vor den linksextremen, sondern auch vor den rechtsextremen Gefahren wurde unentwegt und rechtzeitig gewarnt. Dies tat z. B. im Jahre 1928, also inmitten der damals herrschenden Friedenseuphorie, einer der Führer der Sozialistischen Partei Italiens Filippo Turati, der Folgendes über den Faschismus sagte: Der Faschismus, der aus dem Krieg geboren worden sei, müsse auch selbst unbedingt Krieg erzeugen. Wenn er sich konsolidieren und ausdehnen würde, würde er imstande sein, in Europa und sogar auf der ganzen Welt den Zustand eines ständigen Kriegszustandes herbeizuführen und in jedem Staat eine Trennung nicht mehr nach Klassen, sondern nach Rassen zu bewirken. Er würde auf unabsehbare Zeit eine winzige Herrenrasse und eine riesige Sklavenrasse schaffen. Die einzige Kraft, die sich der Infizierung ganz Europas durch das faschistische Kriegsprinzip entgegenstellen könne, sei die europäische Demokratie.[3]

    Einem anderen Warner vor der rechtsextremen Gefahr ist der erste Beitrag unserer Rubrik „Die nicht gehörten Propheten des 20. Jahrhunderts" gewidmet, die sich im Wesentlichen auf die gleichnamige Ringvorlesung des ZIMOS von 2014/15 stützt. Es handelt sich dabei um einen unbeugsamen katholischen Gegner des Nationalsozialismus – Fritz Gerlich. Am 31. Juli 1932, am Tag, an dem, die NSDAP bei den Reichstagswahlen mit 37,3% der Stimmen ihren bis dahin größten Wahlerfolg erzielen konnte, schrieb Gerlich in der von ihm herausgegebenen Zeitung Der gerade Weg. Deutsche Zeitung für Wahrheit und Recht: „Nationalsozialismus […] bedeutet: Feindschaft mit den benachbarten Nationen, Gewaltherrschaft im Innern, Bürgerkrieg, Völkerkrieg. Nationalsozialismus heißt: Lüge, Hass, Brudermord und grenzenlose Not".

    Trotz vieler anderslautender Aussagen, war es also durchaus möglich die Folgen einer eventuellen nationalsozialistischen „Machtergreifung" mit großer Präzision vorauszusagen. Warum verhallten diese Warnungen beinahe ohne Resonanz? Mit dieser Frage befasst sich in seinem Beitrag der Speyer Historiker Rudolf Morsey, der zu den besten Kennern der Geschichte des politischen Katholizismus in Deutschland, nicht zuletzt auch des katholischen Widerstandes gegen Hitler, zählt.

    Der russische Exilhistoriker Georgij Fedotov, dem der nächste Beitrag der Rubrik gewidmet ist, gehörte, ähnlich wie Fritz Gerlich, zu den unbequemen und zugleich ungehörten Warnern vor den totalitären Gefahren, die zu einer beispiellosen Herausforderung für die europäischen Demokratien werden sollten. Besonders scharf setzte sich Fedotov mit dem radikalen Nationalismus auseinander, der sich „in eine Dämonie verwandelt, die unsere Zivilisation zerstört", so Fedotov im Jahre 1940.[4]

    Der Hass gegen das Fremde sei nun viel wichtiger als die Liebe zur eigenen Nation geworden, hob der Historiker zu Beginn der 1930-er Jahre hervor, als Europa sich in ein Pulverfass verwandelte, das erneut zu explodieren drohte. Es gebe nur drei Lösungsmöglichkeiten für die gegenwärtige Krise, sagt Fedotov: Erstens, die Zerstörung der europäischen Zivilisation, zweitens, die Zwangsvereinigung der bestehenden Staaten durch eine imperiale Macht und schließlich drittens, eine allmähliche Integration der einzelnen Staaten in einen globalen übernationalen Staat. Nur die dritte Lösung könne Europa und die Welt vor einer Katastrophe bewahren, setzt Fedotov seine Ausführungen fort. In diesem Sinne solle man auch versuchen, die Weltwirtschaft, das internationale Recht und die globalen Sicherheitsstrukturen zu organisieren. Der von Fedotov befürwortete übernationale Staat sollte den Nationalstaaten viele Attribute ihrer Souveränität nehmen, ihre geistige und kulturelle Eigenart sollte aber unangetastet werden.[5]

    Dieses Modell ist demjenigen der Europäischen Union in vielerlei Hinsicht zum Verwechseln ähnlich. Die von Fedotov favorisierte dritte Lösung der globalen bzw. der europäischen Krise ist allerdings dann geschichtswirksam geworden, als die beiden ersten, von Fedotov erwähnten Szenarien ausprobiert waren: eine europäische Zwangsvereinigung durch das Dritte Reich, das 1941 beinahe den gesamten europäischen Kontinent vom Atlantik bis zu den Vororten von Moskau beherrschte. Das wiederum führte zu dem von Fedotov vorausgesagten Zivilisationsbruch. Erst nach diesen tragischen Erfahrungen begannen die Anhänger der europäischen Integration die Oberhand im europäischen Diskurs zu gewinnen. Nun waren einzelne Staaten des alten Kontinents bereit, auf einen Teil der bis dahin als eine Art Heiligtum gehüteten nationalen Souveränität zu verzichten und übergeordnete gemeinsame Werte zu akzeptieren. All diese Erscheinungen zeigen, dass die so oft vertretene These von der Unfähigkeit der Menschen aus der Geschichte zu lernen, recht oberflächlich ist.

    Auch der erste Beitrag unserer Rubrik „Ideengeschichte ist den im Wesentlichen verkannten Autoren gewidmet. Es handelt sich dabei um osteuropäische Regimekritiker, die zur Erosion der Regime des „real existierenden Sozialismus und der dort herrschenden marxistischen Ideologie erheblich beigetragen haben. Im Westen werde deren Leistung indes, so die Konstanzer Literaturwissenschaftler Bernice und Konstantin Kaminskij, kaum gewürdigt. Hier werde eher die These vertreten, die kommunistischen Regime hätten in erster Linie im Wettbewerb der Systeme versagt.

    Kaum eine andere Gruppe der Regimekritiker trug zum Legitimitätsverslust der kommunistischen Machthaber im Ostblock so stark bei wie die polnischen Katholiken. Dabei griffen diese regimekritischen Autoren die marxistische Ideologie keineswegs frontal an. Im Gegenteil, sie bedienten sich bei ihrer Auseinandersetzung mit den ideologischen Kontrahenten der Kunst einer flexiblen und mehrdeutigen Polemik, operierten mit Anspielungen und Metaphern. Sie benutzten solche Methoden sogar in der Stalin-Zeit, als die kommunistische Gesinnungsdiktatur mit besonderer Brutalität jede Infragestellung der herrschenden Ideologie im Keime zu ersticken suchte. Paradigmatisch für diese Art von Polemik der katholischen Regimekritiker waren die Werke des künftigen Papstes, Karol Wojtyła, die in dem oben erwähnten Beitrag untersucht werden.

    Eine These der Autoren ist allerdings strittig. Sie sprechen von einem „fundamentalen Unterschied zwischen der ostmitteleuropäischen und sowjetischen Dissidentenbewegung. Die letztere sei angeblich nicht imstande gewesen, die begriffliche Deutungshoheit des Regimes zu erschüttern, und zwar deshalb, weil sie „die Versatzstücke des Machtdiskurses [lediglich) mimetisch reproduzierte und daran scheiterte, sich im sozialen Feld als moralische Autorität zu etablieren.

    In Wirklichkeit stellten aber die sowjetischen Bürgerrechtler mit ihren Forderungen nach Beachtung der Menschenrechte und nach „Glasnost´", ähnlich wie die ostmitteleuropäischen Dissidenten, die Deutungshoheit der kommunistischen Machthaber vehement in Frage, und zwar mit Erfolg. Die Tatsache, dass die Gorbačevsche Perestrojka sich mit ihren Postulaten bewusst oder unbewusst an einige dieser Forderungen anlehnte, stellt ein deutliches Indiz hierfür dar.

    Der zweite Beitrag der Rubrik befasst sich mit dem Mitteleuropa-Diskurs, der nach dem Scheitern des Prager Versuchs, den „Sozialismus mit menschlichen Antlitz" aufzubauen, eine Renaissance erlebte, und zwar in erster Linie in Tschechien und in Ungarn – also in den ehemaligen Kernländern des Habsburger Reiches. Das Trauma vom August 1968 führte den ostmitteleuropäischen Regimekritikern ihre politische Ohnmacht deutlich vor Augen. Verknüpft wurde dieses Ohnmachtsgefühl mit der Enttäuschung über das Verhalten der Westmächte, die beschuldigt wurden, sich mit dem Jalta-System, das die Teilung Europas symbolisierte, abgefunden zu haben. So begann in den von Moskau abhängigen Vasallenstaaten Ostmitteleuropas eine Rückbesinnung auf die eigene Identität, die sich sowohl von derjenigen des Ostens als auch des Westens unterschied.

    Der in Prag wirkende Historiker Dirk Mathias Dalberg analysiert diese Rückbesinnung auf die mitteleuropäischen Traditionen am Beispiel des tschechischen Philosophen Karel Kosík.

    Im Beitrag des Berliner Historikers Ulf Walther, den wir in der Rubrik „Zeitgeschichte abdrucken, wird das Schicksal eines anderen Landes untersucht, das sich im sogenannten „Zwischeneuropa – also im Ländergürtel zwischen Russland und Deutschland – befindet. Es handelt sich dabei um die Ukraine und um den Umbau ihrer Sicherheitsorgane infolge der Auflösung der Sowjetunion und des 1991 begonnenen „nation-building-Prozesses. Der Autor analysiert die fortwährende Spannung zwischen den alten Strukturen, die die Zäsur von 1991 beinahe unbeschadet überlebten, und den Kräften, die nach Erneuerung strebten. Auch die Abhängigkeit der Sicherheitsbehörden der inzwischen unabhängigen Ukraine von denjenigen Russlands, und zwar in erster Linie auf dem Gebiet der Auslandsaufklärung wird thematisiert. Paradox ist dabei die Tatsache, dass „Russland zu den potentiellen Hauptgegnern der Ukraine zählte.

    In der Rubrik „Dokumente" veröffentlichen wir den vierten und letzten Teil des Briefwechsels zwischen dem russischen Philosophen Simon L. Frank und dem Schweizer Psychologen Ludwig Binswanger. Er umfasst die letzten Lebensjahre Franks (1946-1950), die er in London verbrachte.

    Im letzten Forum-Heft publizierten wir Franks Briefe aus den Jahren 1942-1945, in denen er über seine vergeblichen Versuche berichtete, das besetzte Frankreich zu verlassen und nach England auszuwandern, wo seine Kinder lebten. Wegen seiner jüdischen Herkunft befand sich Frank im besetzten Frankreich in permanenter Lebensgefahr. Sein Überleben verdankte er in erster Linie der Aufopferungsbereitschaft seiner Frau, Tat´jana Sergeevna, die ihn in seinem Versteck versorgte.

    Erst nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches gelang es den Franks, nach England auszuwandern.

    Franks Briefe aus der unmittelbaren Nachkriegszeit enthalten viele pessimistische Passagen:

    [In] betreff der Weltwirklichkeit ueberhaupt und in der jetzigen Weltlage insbesondere [bin ich] eher entschiedener Pessimist: ich glaube nicht an einen praedestinierten Sieg des Guten über das Boese" (20.03.1946) […] „Die alte europaeische Kultur naht sich fatal ihrem Ende zu (14.06.1948).

    Franks Kreativität wurde allerdings durch dieses pessimistische Urteil über den „Weltzustand" kaum beeinträchtigt. Im Gegenteil. Gerade in dieser Zeit gelang es ihm, sein grundlegendes Werk Die Realität und der Mensch abzuschließen, das eine Art Bilanz seines gesamten philosophischen Wirkens darstellte. Veröffentlicht wurde diese Monographie allerdings erst postum – sechs Jahre nach Franks Tod.

    Leonid Luks


    [1] Berdjaev, Nikolaj: Novoe srednevekov´e. Razmyšlenija o sud´be Rossii i Evropy. Berlin 1924, S. 121 f.

    [2] Vechi. Sbornik statej o russkoj intelligencii. Moskau 1909.

    [3] Turati, Filippo: Faschismus, Sozialismus und Demokratie, in: Nolte, Ernst (Hrsg.): Theorien über den Faschismus. Köln 1967, S. 143 ff, 150 ff.

    [4] Fedotov, Georgij: Zaščita Rossii. Stat´i 1936-1940 iz „Novoj Rossii". Paris 1988, S. 273.

    [5] Fedotov, Georgij: Sumerki otečestva, in: Rosija, Evropa i my. Sbornik statej. Paris 1973, S. 143-154.

    I. Die nicht gehörten Propheten des 20. Jahrhunderts

    Rudolf Morsey

    Fritz Gerlich (1883-1934) – Ein vergeblicher Warner vor der nationalsozialistischen Gefahr

    I.

    Der Münchner Archivar und Publizist Fritz Gerlich zählt zu den frühen und – auch deswegen – lange Zeit vergessenen Opfern des Hitler-Regimes. Wegen seiner radikalen Kampfpublizistik gegen Hitler und den Nationalsozialismus wurde er bereits am Abend 9. März 1933 verhaftet, im Zuge der auf revolutionärem Wege erfolgten Machtergreifung der NSDAP in München. Dabei stürmten und verwüsteten SA-Trupps Verlag und Redaktion seiner Zeitung „Der gerade Weg" und misshandelten ihren Chefredakteur.

    Vier Tage später verbot Heinrich Himmler, der neue Polizeipräsident von München, die Zeitung. Gerlich blieb fast 16 Monate lang im Polizeigefängnis in sog. „Schutzhaft – ohne Rechtsbeistand und ohne Anklage. Am Abend des 30. Juni 1934 wurde er in das KZ Dachau gebracht und dort, im Zuge des angeblichen „Röhm-Putsches, ermordet. Sein Leichnam wurde im Krematorium am Ostfriedhof in München eingeäschert, seine Asche in einer Urne an unbekannter Stelle beigesetzt. Da sein Kampf gegen Hitler so früh endete, gehört er zu den Vorläufern späterer Widerstandsbewegungen.

    Dennoch war Gerlichs Name jahrzehntelang verblasst. Dafür gibt es Gründe. Der im Calvinismus aufgewachsene Publizist war ein „sperriger Charakter, eine „explosive Natur, ein fanatischer Wahrheitssucher. Er wechselte mehrfach seine politische Meinung. Im bürgerlich-demokratischen Lager galt er wegen der Schärfe, mit der er den braunen – wie vorher schon den roten – Totalitarismus bekämpfte, als unbequemer Mahner und Warner. Viele Katholiken störte seine Kritik an der Politik des Reichskanzlers Brüning und an den „nicht grundsatzfesten" katholischen Parteien Zentrum und Bayerische Volkspartei.

    Auch besaß Gerlich keine Nachkommen, die sein Andenken hätten wachgehalten können.

    Zudem nahm der Publizist eine Sonderstellung im Katholizismus ein, zu dem er 1931 konvertierte; denn er vertrat kompromisslos die Glaubwürdigkeit der stigmatisierten Mystikerin Therese Neumann in Konnersreuth. Schließlich war Gerlichs Zeitung lange Zeit kaum zugänglich (sie steht inzwischen im Internet) und kein schriftlicher Nachlass bekannt. Er war viele Jahre lang in der Hofmühlbrauerei der Familie Emsländer in Eichstätt aufbewahrt worden. Seit langem befindet er sich in Besitz eines Unternehmers in der Schweiz, Dr. Max A. Hoefter, der ihn der Wissenschaft geöffnet hat.

    Im Folgenden gilt es, zwei Fragen zu beantworten: Aus welchen Gründen hat sich dieser bayerische Archivar, der von 1920 bis 1928 als Hauptschriftleiter der „Münchner Neuesten Nachrichten" aus dem Staatsdienst beurlaubt war, zwei Jahre später wieder als Publizist betätigt, und zwar betont gegen Hitler und den Nationalsozialismus? Und: Welche Rolle spielte bei seiner Rückkehr in die Öffentlichkeit Therese Neumann, auch für seine Konversion und Publizistik?

    Meine Antworten auf diese Fragen ergeben sich aus der Schilderung von Gerlichs Vita und Werk. Sie haben keinen Bezug zu dem laufenden Seligsprechungsprozess für Therese Neumann, auch nicht zu den kürzlich angekündigten Vorüberlegungen für eine Seligsprechung Gerlichs.

    II.

    Zunächst zu dessen Vita. Geboren wurde er am 15. Februar 1883 in Stettin, der Hauptstadt der preußischen Provinz Pommern. Als er 16 Jahre alt war, starb sein Vater, ein Kaufmann, der sein Unternehmen verloren hatte. Die resolute Mutter prägte die drei Söhne mit ihrer calvinistischen Grundhaltung. Nach dem Abitur in Stettin, 1901, wollte Fritz Gerlich zunächst Schiffsbauer werden. Er begann jedoch ein Studium der Naturwissenschaften, und zwar in München, das ihm seitdem zur Wahlheimat wurde.

    Nach drei Semestern wechselte er zur Geschichte und Anthropologie. Er engagierte sich in der Freien Studentenschaft – einer Verbindung gegen Burschenschaften und Korporationen. Nebenbei arbeitete er in der Werbeabteilung von Kathreiners Malzkaffee Fabriken. Dabei lernte er die Industriewelt kennen. Politisch vertrat der Student sozial-liberale ,Positionen im Sinne des Sozialpolitikers Friedrich Naumann, auch dessen gemäßigten Imperialismus.

    1907 beschloss Gerlich sein Studium mit einer Dissertation aus der mittelalterlichen Geschichte. Nach einer Staatsprüfung begann er den höheren Archivdienst und erhielt 1910 die bayerische Staatsbürgerschaft. Zwei Jahre später erschien das von ihm erarbeitete „Generalregister der Allgemeinen Deutschen Biographie, die inzwischen mit Band 55 abgeschlossen war – eine enorme Arbeitsleistung. 1913 publizierte der Archivreferendar ein Buch „Geschichte und Theorie des Kapitalismus. Darin beschrieb er die schöpferische Persönlichkeit als treibende Kraft der Wirtschaft. Das Werk verschaffte ihm allerdings nicht die erhoffte Professur für Nationalökonomie.

    Während des Ersten Weltkriegs war Gerlich, seit 1915 Beamter, „militäruntauglich. Der bisherige Jungliberale rückte politisch nach Rechtsaußen, zur alldeutschen Vaterlandspartei. Als ihr Propagandist wurde er in national-konservativen Kreisen Münchens bekannt. Denn er publizierte regelmäßig in den „Süddeutschen Monatsheften, aber auch in den „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland in München, die sein Chef Georg Maria von Jochner herausgab. In einem Beitrag von 1917 „Kirche und Staat findet sich ein Satz, der zu seiner Devise werden sollte: Neben und über dem staatlichen Gesetze steht das Naturrecht, so daß dasjenige, was diesem Naturrechte widerspricht, niemals Gesetz werden kann." Mit dieser Einsicht befand sich Gerlich – was ihm erst später deutlich wurde – bereits in katholischer Gedankenwelt.

    Nach dem Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 engagierte er sich gegen den Kommunismus und die Münchner Räterepublik. Dabei wechselte er, in einer politischen Rückbesinnung, wieder von rechts in die linke Mitte, zur liberalen Deutschen Demokratischen Partei. Er erreichte aber 1920 kein Mandat für den Bayerischen Landtag und den Reichstag.

    Noch in diesem Jahr erschien ein zweites Buch Der Kommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich. Darin enthüllte er den roten Totalitarismus als diesseitigen Messianismus, als eine „utopische, kulturvernichtende Lehre". Dabei bekämpfte er – wie auch später – den verbreiteten Antisemitismus.

    Gerlichs Einbindung in national-konservative Netzwerke zahlte sich aus. Am 1. Juli 1920 wurde der 38jährige Archivassessor Hauptschriftleiter der Münchner Neuesten Nachrichten, der größten Zeitung in Süddeutschland. Deren Verlag hatte soeben – insgeheim – ein Konsortium der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie übernommen. Gerlich sollte die beabsichtigte Rechtsschwenkung des Blattes verschleiern. Er erhielt die erbetene Beurlaubung aus dem Archivdienst.

    Zu diesem Zeitpunkt dachte er an eine Heirat, und zwar mit der gleichaltrigen Sophie, geb. Stempfle, aus dem schwäbischen Babenhausen. Das erwies sich jedoch als schwierig; denn seine künftige Frau – katholisch, zeitweise Verkäuferin in München –, hatte eine uneheliche Tochter, die von Verwandten erzogen wurde. Das war für die Eheschließung eines höheren Beamten offensichtlich ein Hindernis. Um es zu überwinden, ging Sophie Stempfle mit dem Vater ihres Kindes, einem Apotheker Botzenhart, Ende 1919 eine Scheinehe ein, die rasch wieder geschieden wurde. Im folgenden Jahr heiratete Gerlich sie, nur standesamtlich, unter ihrem neuen Namen Botzenhart. Die Ehe blieb kinderlos. Sophie Gerlich war später weitgehend gelähmt. Sie nahm keinen Einfluss auf die Publizistik ihres Mannes.

    III.

    Der neue Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten besaß umfassendes Wissen, zudem scharfe, ja schneidende Intelligenz. Das Selbstbewusstsein des pommerschen „Stockpreußen", wie er sich nannte, stieß sich nicht selten an der gemütvolleren bayerischen Mentalität. In seiner ständigen Suche nach Wahrheit revidierte er erneut frühere politische Erkenntnisse. Gerlich brachte die Zeitung auf die von ihren Besitzern erwartete Linie: Gegen Sozialismus und Kommunismus, aber auch gegen die neue Republik mit ihrem revolutionär-sozialistischen Beginn. Demokratie war für ihn eine Regierungsform, keine Weltanschauung.

    In den frühen zwanziger Jahren glich München einem völkisch-nationalistisch aufgeheizten Hexenkessel. Dazu trug Gerlichs Zeitung bei. Sie unterstützte zunächst die rechtsradikalen Einwohnerwehren, die sich als Garanten der sog. „Ordnungszelle Bayern" verstanden. Unter deren – teilweise bewaffneten – Vaterländischen Kampfverbänden dominierte bald die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Gerlich teilte zunächst ihren Antibolschewismus und ließ sie gewähren. Er traf 1923 dreimal mit Hitler zusammen,

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