Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Der junge Hitler: Korrekturen einer Biographie 1889 - 1914
Der junge Hitler: Korrekturen einer Biographie 1889 - 1914
Der junge Hitler: Korrekturen einer Biographie 1889 - 1914
Ebook1,181 pages15 hours

Der junge Hitler: Korrekturen einer Biographie 1889 - 1914

Rating: 4 out of 5 stars

4/5

()

Read preview

About this ebook

Fundierte Einblicke in die bislang oft zu wenig beachtete Kindheit und Jugend Adolf Hitlers gibt diese Biographie – und korrigiert dabei auch manches Fehlurteil über die Wurzeln seiner Weltanschauung, zu deren Entstehung freilich Hitler selbst beigetragen hat.

Zugegeben, es gibt viele Bücher zum Thema Hitler. Aber kaum ein Werk hat sich die Zeit zum Inhalt genommen, in der die Grundlagen seines Weltbildes gelegt wurden: Kindheit und Jugend. Akribisch spürt Autor Dirk Bavendamm jenen Jahren im Leben des späteren "Führers" und Reichskanzlers nach, die – wie bei jedem Menschen – prägend für den weiteren Lebensweg waren. Dabei kann ein Blick auf Hitlers eigene Schilderungen in "Mein Kampf" keineswegs genügen, denn auch in dieser Autobiographie der frühen Jahre zeigen sich Kindheit und Jugend entweder lückenhaft oder selbstidealisierend dargestellt. Und so beginnt der Autor seine Recherchen bereits bei der Herkunft der Familie und dem Lebensweg seiner Vorfahren. Weitere Stationen im Leben des jungen Hitler sind neben dem Geburtsort Braunau am Inn Lambach und Leonding sowie die Städte Steyr und Linz, wo Hitler zur Schule ging. Gerade an Linz lässt sich die Bedeutung jugendlicher Prägung besonders gut ablesen: Welchen Einfluss hatten Lehrer, Schule oder die Vereine, deren Mitglied der junge Hitler war, auf sein späteres Weltbild? Neben der geografischen Spurensuche bietet dieses Buch aber vor allem Einblick in die vielfältigen geistesgeschichtlichen "Väter" von Hitlers Weltbild und Überzeugungen: Der Autor beleuchtet das Verhältnis Hitlers zu der Gedankenwelt von Richard Wagner, Friedrich Schiller, Gustav Mahler, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Karl May und den politischen Vorstellungen von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie dem Führer der Sozialdemokraten Victor Adler, dem christlichsozialen Wiener Bürgermeister Karl Lueger und dem deutschnationalen Aktivisten Georg von Schönerer.
LanguageDeutsch
PublisherAres Verlag
Release dateJan 1, 2017
ISBN9783902732750
Der junge Hitler: Korrekturen einer Biographie 1889 - 1914

Related to Der junge Hitler

Related ebooks

Modern History For You

View More

Related articles

Reviews for Der junge Hitler

Rating: 4 out of 5 stars
4/5

1 rating0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Der junge Hitler - Dirk Bavendamm

    1984.

    TEIL I

    Geburt eines Traumes

    1. Kapitel: Der Vater

    Braunau, April 1889

    Im Lauf des Monats wurde das Wetter besser. Unterhalb der Festungsmauern, am Ufer des Inns, hatte die Arbeit in den grünenden Gärten begonnen: Man säte und pflanzte und schnitt die dürren Zweige aus den Obstbäumen. Nach den dunklen, kalten Wintermonaten wagten sich die jungen Mütter in ihren bodenlangen Röcken und Kleidern wieder auf die Straßen. Sie fuhren ihre Säuglinge in hochrädrigen Kinderwagen aus, die der Kaufmann F. de Giorgi in seinem Laden „zu billigsten Preisen" feilgeboten hat, und wenn die Sonne hervorkam, spielten die größeren Buben und Mädchen im Freien.

    Trotz des Frühlings hing jedoch der Schatten einer apokalyptischen Zeit nicht nur über Braunau, sondern über ganz Österreich-Ungarn – einer Zeit, die auf Entscheidungen drängte, einer Wendezeit. Am 30. Januar 1889 hatte sich der Kronprinz unter mysteriösen Umständen in Schloss Mayerling bei Wien das Leben genommen – erschossen. Rudolf, die Hoffnung des Reiches! In Windeseile war die schlimme Nachricht auch nach Braunau gelangt. Die Beamten der Bezirkshauptmannschaft und der gegenüberliegenden k.k. Finanzbehörde wurden zum Trauergottesdienst befohlen. Am Rathaus und an der Stadtpfarrkirche hingen wochenlang schwarze Fahnen, Symbole für die beginnende Totenstarre der Habsburgermonarchie. Aus dem Frühjahr drohte ein österreichisch-ungarischer Winter zu werden.

    Der Samstag vor dem Osterfest war wolkig und windig. An diesem 20. April 1889 wurde gegen 18.30 Uhr im Haus Salzburger Vorstadt 219, also jenseits des südlichen Stadttors, ein Kind geboren. Das Geburts- und Taufbuch der Stadtpfarre Braunau verzeichnete es unter dem Namen „Adolfus". Die Neue Warte am Inn, „Organ für Interessenvertretung des Bauern- und Gewerbestandes", veröffentlichte die Nachricht in ihrer Ausgabe vom 27. April.

    Dienst an der Grenze

    Auf der anderen Seite der Stadt, im Hinterhaus des Kameral-Amtes, versah der k.u.k. Zollamtsoffizial Hitler Alois an jenem 20. April seinen Dienst. Wie an jedem anderen Sonnabend ging er wahrscheinlich erst gegen 18 Uhr nach Hause, wo seine Frau bereits in den Wehen lag. Dabei wandte er der Grenze zwischen der Habsburgermonarchie und dem Deutschen Reich den Rücken zu, so als wollte er sie mit Nichtachtung strafen. Aber davon war der Hitler Alois weit entfernt. Denn am Morgen nach Ostern, gegen acht Uhr, nach der Geburt seines jüngsten Sohnes, strebte er ihr schon wieder mit Entschlossenheit zu, so als gälte es, sie bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.

    Bei Braunau lag die Grenze in der Mitte des Inns, der hier eine Breite von etwa 300 Metern hatte. Auf der anderen Seite des Flusses lag Simbach. Seit Jahrhunderten waren das niederbayerische Dorf und das oberösterreichische Städtchen durch eine lange Holzbrücke miteinander verbunden, die Fußgänger, Reiter und Fuhrwerke benutzten. Automobile gab es Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht – sie wurden eben erst erfunden. Seit man Braunau 1870 im Zuge der neu eröffneten Strecke München–Wien eine der hoch begehrten Eisenbahnstationen zugesprochen hatte, führte außerdem etwas weiter stromab eine Eisenbahnbrücke über den Fluss.

    Die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich war gleichbedeutend mit dem Leben des 52 Jahre alten Hitler Alois – er stand mit ihr, und er würde auch mit ihr fallen. Sein Aufstieg in der Hierarchie hatte ihn vom manchmal harten Dienst an der Zollschranke entbunden. Der Beamte saß recht behaglich in der Zollkasse mit Parteienverkehr, wie es im Amtsdeutsch hieß. Er nahm von Kauf- und Fuhrleuten Mautbeträge und Steuerzahlungen entgegen, verbuchte sie mit gestochen scharfer Handschrift und stellte Zollbescheinigungen aus. Gelegentlich erledigte er auch Schreibarbeiten anderer Art. Es war eine recht gemächliche Tätigkeit, die viel mit Zahlen, Verordnungen und Gesetzen zu tun hatte. Dennoch war dem Hitler Alois bewusst, dass er dem alten Kaiser in Wien dadurch zu Einnahmen verhalf, die dieser benötigte, um ein Reich am Leben zu erhalten, das nun vielleicht bald zugrunde gehen würde. Denn was sollte aus Österreich-Ungarn werden, wenn der Kaiser starb und es keinen Kronprinzen mehr gab?

    Der Zollamtsoffizial war ein relativ kleiner, gedrungener Mann, der jetzt, als er in die Jahre kam, ein wenig zur Fülle neigte. In seiner grüngrauen Dienstuniform mit dem blinkenden Säbel an der Seite und der steifen Kappe auf dem mächtigen Haupt wuchs aber seine Statur.¹ Sie bekam etwas leicht Martialisches, wenn der Hitler Alois durch das Städtchen ging und seine Blicke unter dem schwarz glänzenden Lackschirm prüfend schweifen ließ. Dann sah er wie eine respektable Amtsperson aus. Nicht zufällig hatte er seine Barttracht der des alten Kaisers angeglichen. Die Wirkung, die von diesem übereinstimmenden Merkmal ausging, war beabsichtigt. Denn seine Autorität leitete der Zollamtsoffizial, der trotz des klingenden Titels nicht viel mehr als ein beamteter Buchhalter war, unmittelbar von Kaiser Franz Joseph I. im fernen Wien als seinem obersten Dienstherrn ab.

    Braunau war damals ein Städtchen mit nicht viel mehr als dreieinhalbtausend Einwohnern, das durch seine Brauereien, Sägewerke und allerlei Handelsgeschäfte im Lauf der Zeit recht wohlhabend geworden war. Hier hatte Alois seit 1864², mit seiner Aufnahme in den Zolldienst, Wurzeln geschlagen. Zwar richtete ein Stadtbrand 1874 vorübergehend große Schäden an, doch baute man Braunau unter Bürgermeister Dr. Rudolf Brunner, im Zivilberuf Notar, rund um den großen Stadtplatz schon bald wieder auf. Bahnhof, Garnison sowie der nahe Grenzübergang hoben das Städtchen in seiner Bedeutung über andere Gemeinden gleicher Größe hinaus. Durch das Denkmal für Johann Philipp Palm, das ein deutsch-österreichisches Bürgerkomitee schon 1862 hatte errichten lassen, verfügte Braunau zudem über eine Sehenswürdigkeit, die Touristen sogar aus München und Passau anzog. Der Verleger Palm war auch postum noch ein berühmter Mann, weil er durch die Verbreitung einer anonymen Flugschrift mit dem provozierenden Titel „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung" Widerstand gegen Napoleon geleistet hatte und deshalb 1806 hingerichtet worden war. So brauchten sich das elegante Hotel Fink und die vielen Gastwirtschaften vor Ort über einen Mangel an Gästen nicht zu beklagen.

    Beruflicher Aufstieg

    Dem Schicksal, das ihn hierher geführt hatte, konnte Alois nur dankbar sein. Über seinen ersten beschwerlichen Lebensjahren, von denen er einige wohl noch mit seiner ledigen Mutter verbrachte, liegt der Schleier des Ungewissen. Aus den spärlichen Lebensdaten seiner mutmaßlichen Eltern kann lediglich geschlossen werden, dass er mit zehn Jahren Halb- und mit zwanzig Vollwaise wurde. Das war ziemlich früh und deshalb auch einigermaßen hart. Unklar ist auch, wann ihn sein Ziehvater, der Hiedler Johann Nepomuk, zu sich nach Spital Nr. 36 auf seinen Bauernhof genommen hat. Allerdings weiß man, dass Alois vermutlich schon dort das Schuhmacherhandwerk zu erlernen begann.

    Damals war das Waldviertel keineswegs eine so abgelegene und unbewohnte Gegend, als die es heute in der Rückschau erscheinen mag. Im Gegenteil – im 19. Jahrhundert wurde es aus überörtlichen Gründen durch eine bemerkenswerte Mobilität geprägt.³ Einerseits wanderten tschechische und slowakische Wanderarbeiter aus dem benachbarten Böhmen und Mähren zu, andererseits siedelte die bäuerliche Stammbevölkerung z.T. in das Wiener Becken aus, weil die Kleinbauern, die ihren kärglichen Lebensunterhalt bis dahin mit Spinnen und Weben aufgebessert hatten, durch die aufblühende Baumwollindustrie brotlos wurden. Es war daher kein Zufall, dass Alois ein Handwerk erlernte, statt sich darauf zu verlassen, dass ihm der Ziehvater eines Tages seine Landwirtschaft vererben würde.

    Noch härter traf der Strukturwandel das Waldviertel freilich nach 1848, als es von einer kapitalistischen Agrarrevolution heimgesucht wurde, die viele Bauern von ihren Höfen vertrieb. Es ist daher nicht zufällig, dass Alois gerade dadurch „mit drei Gulden Wegzehrung" auf Wanderschaft ging. Es war eine Notwendigkeit, die er der aufkommenden Geldwirtschaft verdankte – und auch den Juden, die diese Wirtschaft offenbar beherrschten.

    Der Hitler Alois begab sich 1849 nach Wien, weil es dort mehr und sichere Arbeit gab.⁴ Sechs Jahre später fand der Schuhmachergeselle im salzburgischen Saalfelden den Zugang zum Finanzwachdienst.⁵ Auch dabei kam ihm wieder ein Strukturwandel zu Hilfe, diesmal in der österreichischen Bürokratie. Seit Beginn des Spätabsolutismus wurde überall in der Monarchie der Beamtenapparat ausgebaut. Überdies verlangte der 1853 zwischen dem Habsburgerreich und Preußen geschlossene Zoll- und Handelsvertrag einen höheren Personaleinsatz.⁶ So entstand an der bayerisch-österreichischen Grenze „eine Pflanzschule für Zollbeamte" (Rudolf Holzer), in deren untere Ränge man auch Bewerber ohne nennenswerte Schulkenntnisse, aber mit dem Drang nach Höherem bei gleichzeitiger Bereitschaft zu Disziplin und Gehorsam aufnahm.

    Da Alois diese Gaben offenbar in hinreichendem Umfang besaß, wurde er 1864 als Provisorischer Amtsassistent⁷ in den Zolldienst übernommen, gewissermaßen das Kellergeschoss der kaiserlich-königlichen Beamtenhierarchie.⁸ Anfangs waren die Arbeitsbedingungen noch hart und die Besoldung gering sowie von Zufälligkeiten abhängig. Aber das änderte sich, als Alois, pünktlich, fleißig und strebsam, wie er nun einmal war, Schritt für Schritt in höhere Dienstränge mit mehr Kompetenzen und besseren Gehältern aufstieg. Insgesamt fast dreißig Jahre lang, von 1864 bis 1892, in Braunau tätig, wurde er 1875 zum Zollamtsoffizial ernannt, was ihn für Hauptzollämter der 1. Klasse qualifizierte.

    Die Endstufen seiner Laufbahn erreichte Alois freilich erst 1892 bzw. 1894, kurz vor seiner Pensionierung, mit der Ernennung zum Provisorischen bzw. zum Wirklichen Zollamtsoberoffizial – das war ein zwar ziemlich später, aber durchaus achtbarer Lebenserfolg,⁹ durch den er in die neunte Rangklasse der k. u. k. Beamtenhierarchie aufstieg. Für mehr fehlten ihm Matura und Studienabschluss. 1892 hatte man ihn in eine so genannte Expositur versetzt, eine Zollstation in Passau, also auf reichsdeutsches Gebiet. Hingegen verbrachte der Beamte, nun wohl schon etwas müde von dieser Ochsentour, die beiden letzten Dienstjahre im Hauptzollamt zu Linz, wo er schließlich am 25. Juni 1895 von seinem obersten Dienstherrn in Wien turnusmäßig in den verdienten Ruhestand verabschiedet wurde. Insgesamt vierzig Dienstjahre waren genug.¹⁰

    Bewegtes Privatleben

    Neben der Karriere baute sich Alois in seiner knapp bemessenen Freizeit unter Mühen eine bescheidene Privatsphäre auf. Insgesamt heiratete er dreimal – 1873 eine 14 Jahre ältere, 1883 eine 24 Jahre jüngere Frau und 1885 seine Cousine, die Pölzl Klara, die ihm schon aus seiner Jugendzeit in Spital bekannt gewesen war. Offensichtlich nahm und verbrauchte dieser Mann seine Frauen, wo und wie er sie gerade fand – weder war er besonders wählerisch noch schonte er sie nach der Eheschließung. Im Gegenteil: Alois war ein herrischer und fordernder Gatte und nicht immer treu. Von seiner ersten Frau, Anna Glassl, ließ er sich 1880 scheiden, während er ein Verhältnis mit der zweiten hatte, einer Kellnerin namens Franziska Matzelsberger. Diese wiederum wurde ihm 1884 durch den Tod genommen, als er ein Verhältnis mit einer dritten Frau einging, die ihm damals im Haushalt half. Das Ergebnis waren bis 1889 sieben oder gar acht Kinder.¹¹ Mit Geburt der Tochter Paula kam 1896 ein achtes oder neuntes hinzu.

    Auch wenn Alois privat nicht immer alles glückte, zeichnete er sich in seinem Beruf durch Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und einen ausgeprägten Sinn für sein Weiterkommen aus. Denn vermutlich wird es niemand anderer als er selbst gewesen sein, der 1876 auf den Gedanken kam, sich durch die nachträgliche Legalisierung seiner Geburt einen Namen zuzulegen, der angenehmer, markanter und moderner klang. Das geschah in seinem 40. Lebensjahr. Es handelte sich somit um ein Geschenk, das er sich zu seinem „runden" Geburtstag selber machte.¹² Erbrechtliche Hintergründe sind wahrscheinlich, weil Alois’ Ziehvater Johann Nepomuk mit 69 bereits in die Jahre kam. Für diese Annahme spricht auch der Briefwechsel, den der Zollbeamte 1876/77 in einer nicht näher bezeichneten Grundstücksangelegenheit¹³ mit seinem Vetter, dem Veit Alois, geführt hat. Ausschlaggebend waren letztlich jedoch Karrieregründe: Ein „Hitler stieg in der Beamtenhierarchie leichter als ein „Schicklgruber auf.

    Seine Karriere war jedoch so langwierig und mühsam, dass sich die Fortschritte an Einkommen und Prestige stets in recht engen Grenzen hielten – gemessen am Bedarf seiner Familie, die wuchs und wuchs. Das bescheidene Vermögen, zu dem es Alois bis zur Pensionierung brachte, beruhte auch weniger auf eigener Beharrlichkeit und Sparsamkeit als vielmehr auf den Mitteln seines Ziehvaters und der Mitgift seiner beiden ersten Ehefrauen. Denn als Alleinverdiener einer vielköpfigen Familie mit einem Nettoeinkommen von zuletzt rund 2.000 Kronen p.a.¹⁴ konnte der kleine Zollbeamte keine großen Sprünge machen, obwohl vier seiner acht oder neun Kinder schon bald nach ihrer Geburt verstorben waren.

    Die Einkünfte reichten 1888 für den Erwerb einer kleinen Bauernwirtschaft bei Weitra¹⁵ im Waldviertel. Alois verkaufte sie schon drei Jahre später, weil sich die Entfernung zu Braunau, seinem damaligen Dienstort, als zu groß erwies. Aus dem Verkaufserlös erstand Alois 1895 das „Schrottau- oder „Rauschergut mit 3,8 ha Land in Hafeld Nr. 13,¹⁶ um sich in dieser ländlichen Idylle mit Bienenzucht und Kleintierhaltung zur Ruhe zu setzen. Da sich aber sein Versuch, gegen Ende des Lebens zu seinen bäuerlichen Wurzeln zurückzukehren, nicht rechnete, musste Alois das Anwesen 1897 wieder veräußern. Mit dem Erlös finanzierte der 62-jährige Pensionist schließlich Haus und Grundstück in Leonding bei Linz,¹⁷ wo er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat.

    Komplexes Persönlichkeitsbild

    Zeitgenossen zeichneten von diesem Mann ein Bild voller Widersprüche und Ungereimtheiten. Beim Zoll beschrieb man ihn als einen, der bei Kollegen und Untergebenen nicht sonderlich beliebt war, weil er seine Dienstpflichten mit übertriebener Pedanterie wahrnahm.¹⁸ Andere Leute, die Alois wohl auch privat kannten, empfanden ihn als „gemütlichen, aber strengen Herren.¹⁹ Einerseits soll der Zollbeamte verschlossen und mürrisch, andererseits ein „geschätzter Gesellschafter²⁰ mit „stets guter Laune gewesen sein.²¹ Offenbar konnte Alois „leicht aufbrausen und grob werden, wenn ihm jemand oder etwas in die Quere kam, wobei sich dann seine „angeborene Heftigkeit und im Dienst erworbene Strenge summierten, wie es bei August Kubizek vielsagend heißt.²² Alles in allem lässt sich nur eindeutig feststellen, dass Alois „seine Marotten hatte. Er war ein Mensch mit Ecken und Kanten, ein schwieriger Zeitgenosse, der wohl zur Eigenbrötelei neigte und daher zumindest in jüngeren Jahren nirgendwo leicht und auf Dauer Anschluss fand. Vielleicht hängt damit sein auffallend häufiger Quartierwechsel in Braunau zusammen.²³ Der Grund mag in gelegentlichen Streitigkeiten mit den Nachbarn gelegen haben.

    Tatsächlich war man in Braunau auf Alois nicht gut zu sprechen,²⁴ und zwar sowohl aus privaten als auch aus Gründen, die mit seinem Beruf zusammenhingen. Seit der Zollbeamte für seine zweite Frau den Sarg bestellte, bevor sie das Zeitliche gesegnet hatte, hielt man ihn in der römischkatholischen Gemeinde für herzlos und kalt. Darüber hinaus kreidete man ihm an, dass seinen Eheschließungen in zwei Fällen ein Liebesverhältnis vorausgegangen war – davon eines mit Folgen, bevor die Hochzeit stattfand. Mit insgesamt drei Ehen hatte der Hitler Alois das ortsübliche Maß überschritten. Erschwerend kam noch hinzu, dass die Matzelsberger Franziska und die Pölzl Klara blutjung waren, wohingegen sich der Zollbeamte bereits in einem fortgeschrittenen Alter befand, als er sie nacheinander zur Frau nahm. Zu allem Überfluss musste Franziska vorzeitig für volljährig erklärt und für Klara sogar der Segen des Papstes eingeholt werden. Wegen dieser Eskapaden wurde Alois von den Männern beneidet, die weniger sexuelle Erfahrungen als er gesammelt hatten, während ihm jene Frauen übel hinterherredeten, die er verschmäht hatte. Insgesamt lag sein schlechter Ruf wohl teils in der üblichen Bigotterie begründet, teils in der nicht unberechtigten Empörung über seine Selbstherrlichkeit. Es war ein schweres Kreuz, das Alois in Braunau zu tragen hatte – vielleicht wurde er deshalb an einen anderen Dienstort versetzt.

    Die lebenslange Last seines Berufes als Zöllner, die von der bisherigen Hitler-Biographik übersehen wurde, kam noch hinzu. Sie bestand aus zweierlei: aus einem schlechten Leumund und aus einer angeblichen Berufung zu Höherem – ein Spagat, ist man versucht zu sagen. Einerseits stellen „mehr als ein Dutzend Bibelzitate … den Zöllner mit Sündern, Fressern und Säufern, Heiden und Dirnen gleich, wie Alfons und Jutta Pausch in ihrem Buch über den „Zöllner-Apostel Matthäus schreiben.²⁵ Andererseits soll Jesus ausgerechnet diesen Jünger zum „Apostel mit außergewöhnlicher Vollmacht" berufen haben. Anderenorts in Österreich baute man Matthäus deshalb Kirchen und schnitzte Heiligenfiguren. In Grenzorten wie Braunau war dies jedoch nicht der Fall.

    Wegen der biblisch sanktionierten und daher tief in der Volksreligiosität verankerten Vorurteile sowie der angeblichen Berufung zu höherer Verantwortung brauchte der Hitler Alois ein breites Kreuz, um mit diesem Spagat fertig zu werden. Noch schwerer wogen freilich die Vorbehalte, die man ihm aus sehr profanen Gründen entgegenbrachte: Da war erstens der Hauch der Korruption, der jeden Zöllner umwehte. Denn niemand konnte oder wollte ganz ausschließen, dass diese Beamten bei Ausübung ihres Dienstes in die eigene Tasche wirtschafteten oder Freunde und Bekannte ungerechtfertigt begünstigten. Der Grund: Im Gegensatz zum Finanzbeamten, der dem Steuerzahler das Geld durch den Steuerbescheid indirekt aus der Tasche zieht, kassiert der Zollbeamte die Abgaben, Steuern und Gebühren an der so genannten Gefällswache oder in der Zollkasse persönlich in bar. Nicht zufällig galt deshalb im alten Österreich die Vorschrift, Zöllner nicht länger als sechs Monate an der Zollschranke zu belassen. Um irgendwelchen Amtsmissbräuchen vorzubeugen, wurden sie dann versetzt.²⁶

    Nicht nur an der bayerisch-österreichischen Grenze kam im 19. Jahrhundert noch etwas anderes hinzu, was die Mautner oder Zöllner unbeliebt gemacht hat. Durch ihre amtliche Tätigkeit griffen sie empfindlich in die lokalen und regionalen Wirtschafts- und Verkehrsabläufe ein. Seit Menschengedenken hatten der Waren- und Personenverkehr zwischen Simbach und Braunau störungsfrei und zum Vorteil aller funktioniert, weil das Innviertel noch zu Bayern gehörte, und das war – mit Unterbrechungen – bis 1816 der Fall. Seitdem aber wurde die Staats- und Zollgrenze von Handelsleuten, Gewerbetreibenden und Fuhrleuten aller Art als lästiges Hindernis empfunden, das 1871 durch die zwischen Simbach und Braunau entstandene Reichsgrenze noch größer wurde. Danach blieb vermutlich nur mehr der tägliche Bagatellverkehr von umständlichen Zollformalitäten oder gar Personenkontrollen verschont, jeder andere Wirtschaftsverkehr musste sich dem Regime der Zöllner beugen. Diese Beamten kassierten jedoch nicht nur Gebühren, sondern hatten auch die lokale Geschäftswelt zu überwachen. Wurden die Verbrauchssteuern pünktlich bezahlt? Oder lag eine so genannte Steuerdefraudation oder Gefällsübertretung vor? Fast niemand konnte sich ihren prüfenden Blicken entziehen. Zollbeamte verwalteten überdies die Monopole für Salz, Tabak und Alkohol – viel und hoch begehrte Güter des täglichen Bedarfs. Kein Wunder, dass sie in den grenznahen Orten nur wenige Freunde hatten. Denn ob nun im Einzelfall berechtigt oder nicht – ausgesprochen oder unausgesprochen zogen die Zollbeamten viele Aggressionen auf sich herab.

    Diese kollektive Ablehnung war offenbar recht weit verbreitet – das heißt, nicht nur auf Braunau beschränkt. Sie machte aus Verstößen gegen die Zoll- und Steuergesetze ein Kavaliersdelikt, wenn nicht sogar eine Ehrensache. Das Schmuggeln sollen damals sogar „hohe Herren, also Adlige und Staatsbeamte, als „eine Art romantische Passion betrachtet haben.²⁷ Zöllner, die gegen den grenzüberschreitenden Schleichhandel einschritten, wurden von der Bevölkerung sogar zuweilen offen verhöhnt, da sie nur allzu oft machtlos waren. Auch blieben die Angehörigen dieses umstrittenen Berufsstandes z. B. bei Versuchen, eine Ehe zu schließen oder Freunde zu gewinnen, mehr oder weniger unter sich. Dies gilt auch für den Hitler Alois: Er hatte einen tschechischen Kollegen zum Freund. Ein anderer Kollege erklärte sich bereit, die Patenschaft für Sohn Adolf zu übernehmen. Zwei weitere Zollbeamte hatten Alois schon bei dessen zweiter Ehe als Trauzeugen gedient. Viel mehr ist über Freundschaften und andere Personen, die ihm nahestanden, nicht bekannt – für einen Mann, der beruflich mitten im Leben stand, privat eine schmale Basis.

    Zollbeamte wie der Hitler Alois waren somit gesellschaftlich weitgehend isoliert und standen unter dem nicht unbeträchtlichen Druck ihrer Umgebung, zumal manche Verdächtigungen unausgesprochen blieben. Dies wirkte sich auf die Psyche des Hitler Alois negativ aus. Denn was an Vorurteilen gegen seinen Berufsstand in der Luft lag, konnte bei passender Gelegenheit hervorgeholt und als moralische Keule gegen ihn persönlich verwendet werden. Bei einem Mann wie ihm, der gern autoritär und etwas gespreizt auftrat und der sich durch zu viele Ehen, zu junge Frauen und ein offensichtlich gern zur Schau getragenes Repräsentationsbedürfnis angreifbar gemacht hatte, war dies gewiss der Fall. Nicht zufällig heiratete Alois seine zweite Frau im benachbarten Ranshofen, wo er sie auch begrub. Durch diese defensiven Gesten wollte er sie und sich selbst den hämischen Blicken und dem heimlichen Getuschel seiner Braunauer Mitbürger entziehen.²⁸

    Die gesellschaftliche Isolierung und die zumindest unterschwellige Ablehnung, auf die er bei seinen Mitmenschen traf, frustrierten Alois, machten ihn misstrauisch und stimmten ihn latent aggressiv. Wahrscheinlich hat er deshalb so häufig seinen Dienst- und Wohnort gewechselt. Erst als sich der Hitler Alois in Leonding bei Linz zur Ruhe setzte, konnte er außerhalb seines eigenen Hauses aufatmen und sich ein wenig entspannen, so dass sich die Urteile seiner Mitmenschen deutlich aufhellten, wie der Nachruf auf den Verstorbenen in der Linzer Tages-Post beweist. Auf der anderen Seite aber kamen seit seiner Pensionierung neue Belastungen auf ihn zu: das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, die Empörung über die Sprachenpolitik des Kaisers und die Auseinandersetzungen mit seinem jüngsten Sohn, der statt Staatsbeamter unbedingt Kunstmaler werden wollte und sich dadurch dem Machtspruch seines treu sorgenden Vaters zunehmend entzog.

    Politisches Vexierbild

    Ebenso widersprüchlich wie die Urteile über die Persönlichkeit des Hitler Alois fallen auch die Einschätzungen seiner politischen Einstellung aus. In seiner Braunauer Zeit hatte er sich nachweisbar dafür eingesetzt, dass auch arme Kinder, wie er früher einmal eines gewesen war, die Schule besuchen konnten. So meldete die in Braunau erscheinende Warte am Inn unter dem 13. Januar 1889, dass u.a. ein „Hr. A. Hitler, Hauptzollamts-Offizial, die „Suppenanstalt für arme Schulkinder mit einer Spende von 60 Kreuzern unterstützt hatte.²⁹ Suppenanstalten waren „humanitäre Einrichtungen" für Kinder, die so weite Wege zu ihren Schulen hatten, dass man ihnen besonders im Winter zur Mittagszeit wenigstens eine warme Suppe anbieten musste, damit sie überhaupt kamen. Andernfalls wären sie dem Unterricht in vielen Fällen ferngeblieben. Viel waren 60 Kreuzer nicht, aber sie wiesen in jene Richtung, in die Alois dachte und die sein Sohn in Mein Kampf als „weltbürgerlich" bezeichnet hat:³⁰ Unabhängig von Religion, Stand und Einkommen sollte jeder Mensch das gleiche Recht auf Bildung haben, auch die Juden! Das war sein Credo. Dafür setzte sich der Hitler Alois ein. Diese Einstellung kam auch seinen Kindern zugute.

    Aus diesem Grunde war der Zollbeamte auch gegen eine Klerikalisierung des Schulwesens, die sich schon vor 1869 in den Beratungen über das Reichsvolksschulgesetz bemerkbar gemacht hatte.³¹ Alois trat nicht nur dafür ein, dass jeder Mensch das gleiche Recht auf Bildung hatte – ein Menschenrecht. Er wollte auch, dass die Schulen frei von konfessioneller Bevormundung blieben, obwohl er Diener eines eng mit der römisch-katholischen Kirche verflochtenen Staates war. Dies alles weist ihn als ausgeprägten Freigeist aus. Es hatte daher seine Berechtigung, dass die Linzer Tages-Post in ihrem Nachruf auf den Verstorbenen feststellte: „Alois Hitler war … ein warmer Freund der freien Schule.³² Die Betonung lag auf dem Wort „frei.

    Die übrigen Äußerungen über seine politische Einstellung sind widersprüchlich und geben allerlei Rätsel auf. Adolf Hitler meinte rückblickend, sein Vater sei von „schroffster nationaler Gesinnung" gewesen,³³ was in spürbarem Widerspruch zu seiner soeben zitierten Aussage über die „weltbürgerlichen Ansichten des Hitler Alois steht. Bestünde diese nationalistische Einschätzung zu Recht, würde sie eine politische Nähe des Zollbeamten zu Georg Ritter von Schönerer nahelegen, dem Anführer der „Alldeutschen. Für den Mayrhofer Josef, nach dem Tod des Zollbeamten der Vormund der beiden jüngsten Hitler-Kinder, war Alois „Pangermane, dabei merkwürdigerweise doch kaisertreu"³⁴ – auch dies ein Widerspruch in sich selbst. Hingegen blieb die Linzer Tages-Post ihrem freiheitlich gestimmten Tenor treu, indem sie den alten Herrn in ihrem bereits zitierten Nachruf „durch und durch fortschrittlich nannte, was man nach damaligem Sprachgebrauch auch „altliberal nennen kann. Damit bezeichnete man jene nach Lebensjahren älteren Österreicher, die in der liberalen Epoche des franzisko-josephinischen Systems politisch sozialisiert worden waren. Diese Bewertung lässt sich freilich weder mit Nationalismus noch mit Pangermanismus in Übereinstimmung bringen. Schließlich hielt Hitlers Jugendfreund Kubizek den Zollbeamten, den er nicht mehr persönlich kennen gelernt hatte, für liberal und staatsloyal,³⁵ und dieses Urteil scheint in der Mitte der vier hier zitierten Meinungen zu liegen. Es schließt extremistische Einstellungen zur einen oder anderen Seite hin aus.

    Wie lassen sich diese vielen verschiedenen Einschätzungen nun zu einem halbwegs geschlossenen Gesamtbild zusammenfügen? Die beiden Begriffe „kaisertreu und „staatsloyal sowie „fortschrittlich und „altliberal sind nach damaligem Sprachgebrauch nahezu deckungsgleich. Der tendenzielle Restwiderspruch, der sich zwischen dem ersten und dem zweiten Begriffspaar ergibt, löst sich im Opportunismus der österreichischen Staatsbeamten auf. Hingegen ist es kaum möglich, eine „schroffste nationalistische Gesinnung, die Adolf Hitler seinem Vater attestiert, und den von Mayrhofer apostrophierten „Pangermanismus mit altliberaler Kaisertreue und fortschrittlicher Staatsloyalität zur Deckung zu bringen, denn dies schließt sich im Prinzip gegenseitig aus. Aber es kommt noch ein weiterer Widerspruch hinzu, wenn Hitler behauptet, er habe dank der „weltbürgerlichen Auffassungen seines Vaters im Haus seiner Eltern noch nicht das Wort „Jude gehört, weil „der alte Herr (darin) … eine kulturelle Rückständigkeit erblickt haben würde. Denn „schroffste nationalistische Gesinnung und „Pangermanismus" hatten meistens auch antisemitische Vorurteile zur Folge.

    Um unsere Verwirrung zu vervollständigen, hat Hitlers bereits erwähnter Neffe William Patrick behauptet, Alois sei „antideutsch" eingestellt gewesen.³⁶ Widersprüche also, wohin man blickt! Zumindest kann man wohl sagen, dass es mit der angeblich „schroffsten pangermanischen Nationalgesinnung des Zollbeamten nicht sehr weit her gewesen sein kann, weil er nun einmal im Dienst des Kaisers und Staates stand. Es wird sich bei dieser Einschätzung wohl um eine Übertreibung Hitlers handeln, mit der er beweisen wollte, dass die politische Einstellung seines Vaters auf ihn „abgefärbt habe, d.h. dass er aus einem deutschnationalen Elternhaus stammte. Aber so einfach lagen die Verhältnisse nicht.

    Zwar gehörte der pensionierte Zollbeamte, wie August Kubizek berichtet,³⁷ am Ende seines Lebens in Leonding offenbar einem Stammtisch an, an dem auch deutschnationale Ansichten vertreten wurden. Vielleicht hat sich der Hitler Alois dort sogar selbst gelegentlich in schönerianischem Sinne geäußert. Schließlich gehörte er zum deutschen Teil der Staatsbeamtenschaft im Vielvölkerstaat, eine Tatsache, die ihm durch die scharfen Auseinandersetzungen zwischen den aus dem benachbarten Böhmen zuwandernden Tschechen und den ortsansässigen Deutschen gerade an seinem früheren Dienstort Linz fast täglich vor Augen geführt worden war. Dennoch muss man zwischen einem geschärften Bewusstsein, Deutscher zu sein, und „schroffster nationaler Gesinnung, die sich oftmals in Antitschechismus und Antisemitismus niederschlug, gewisse Unterschiede machen.³⁸ Zudem hatte sich Schönerer, der Anführer der „Alldeutschen, erst vor wenigen Jahren ins Abseits manövriert. Er war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert politisch ein toter Mann, so dass es dem in Ehren ergrauten Hitler Alois gewiss kaum eingefallen wäre, sich mit einem Exzentriker politisch zu identifizieren, der durch seinen Anschlussgedanken den österreichischen Staat in Frage gestellt hatte und den das Kaiserhaus deshalb als Staatsfeind Nr. 1 betrachtete. Allenfalls konnte es sich der pensionierte Zollbeamte leisten, im Kreis seiner Zechkumpane offene Sympathien für die Sache der Deutschen in Österreich zu äußern. Aber vielleicht genügte das schon, um aus ihm in den Augen seines Sohnes einen heimlichen „Rebellen" zu machen.³⁹

    Tatsächlich ist nicht zu leugnen, dass es zwischen Treue zum Kaiserstaat und Sympathien für das Deutschtum ein gewisses Spannungsverhältnis gab. Es zwang Alois einfach dazu, mit zwei verschiedenen Zungen zu sprechen: Gegenüber Vertrauten und Freunden etwas deutschnationaler, gegenüber Vorgesetzten und weitläufig Bekannten ein wenig österreichtreuer. Das Ganze lief auf einen gepflegten Opportunismus hinaus. Denn nur so konnte es die deutschnationale Seele in der Brust des Zollbeamten vermeiden, mit der österreichischen Staatsräson in offenen Konflikt zu geraten. Sein Opportunismus gab Freunden und Nachbarn manches Rätsel auf. Für seinen Sohn Adolf aber bedeutete er eine ständige Herausforderung. Denn dieser hatte sich bereits gegen den Kaiserstaat und für das Deutschtum entschieden; er lehnte alle faulen Kompromisse ab. So ist denn auch darin der harte Kern des Vater-Sohn-Konfliktes zu erblicken: Indem sich Adolf gegen den Beruf des österreichischen Staatsbeamten entschied, lehnte er sich gegen Alois‘ Opportunismus auf. Deshalb muss man Hitlers Schutzbehauptung in Mein Kampf, der Nationalismus seines Vaters habe auf ihn abgefärbt,⁴⁰ in der Entschiedenheit, wie sie hier geäußert wird, einerseits in den Bereich der Fabel verweisen. Andererseits ist daran aber auch soviel richtig, dass die Entwicklung des jungen Hitler, die letztlich auf einem Protest gegen die väterliche Autorität beruhte, wahrscheinlich ganz anders verlaufen wäre, hätte der Vater seinem Sohn eine politische Orientierung vermittelt, die auf einer festen inneren Überzeugung beruhte.

    Gerade das aber war dem Hitler Alois nicht möglich. Denn eine offene Parteinahme für Schönerer hätte nicht nur sein Selbstverständnis als kaisertreuer Staatsbeamter, sondern auch das in vierzig langen Dienstjahren wohlerworbene Anrecht auf seine Pension in Frage gestellt. Tatsächlich befand sich der altliberale Zollbeamte an der Jahrhundertwende in einem aktuen Konflikt. Nachdem er die kaiserliche Politik drei Jahrzehnte lang mehr oder weniger willig mitgetragen hatte, forderte ihn die Sprachenpolitik des Kaisers im vierten und letzten Jahrzehnt vor seiner Pensionierung offen heraus. Zwar konnte er darüber voller Groll mit vertrauten Freunden im Wirtshaus sprechen, nicht aber zu Hause mit seinem Sohn, weil dieser jedes offene deutschnationale Wort wahrscheinlich als Aufforderung zur Steigerung seines rebellischen Verhaltens verstanden hätte. Das Ganze glich einem Teufelskreis: Je opportunistischer sich Alois verhielt, desto rebellischer wurde Adolf, bis es für beide kein Zurück mehr gab. Das war nicht nur eine große psychische Belastung für den Sohn, sondern auch für den Vater selbst, weil diesen das österreichische Dienstrecht verpflichtete, sich in der Öffentlichkeit aller politischen Äußerungen zu enthalten – und ausgerechnet im Jahr seiner Pensionierung wurden diese Bestimmungen verschärft. Tatsächlich ermahnte ein entsprechender Erlass die Beamten 1895 noch einmal, „diesmal aber in einem noch strengeren Ton, die ihnen auferlegte Beschränkung ihrer staatsbürgerlichen Rechte stärker als bisher zu beachten, um eine ‚Anarchisierung des Staates‘ (Josef Redlich) abzuwenden. „Es wurde ihnen verboten, öffentlich und von außen den allerhöchsten Dienstherrn zu kritisieren, es wurde ihnen verboten, öffentlich Partei zu ergreifen oder gar eine ‚agitatorische Tätigkeit‘ zu entfalten. Selbstverständlich galt dieser Erlass sowohl für aktive Beamte als auch für Pensionisten. Die Folge war vielfach, „‚nach oben‘ einen bedientenhaften österreichischen Patriotismus vorzutäuschen, im Innern aber vom Staat bereits abgefallen zu sein".⁴¹

    Maßgebend für die aktuelle Verschärfung dieser Repression war der Nationalitätenkonflikt, den das Kaiserhaus nach 1895 durch seine Sprachenpolitik zu entschärfen suchte: Nachdem in ganz Cisleithanien, vom Bodensee bis zur ungarischen Grenze an der Leitha, seit Jahrhunderten Deutsch unangefochten als Amtssprache gegolten hatte, sollten sich die Staatsbeamten nun auf einmal in jenen Gebieten, die überwiegend von Tschechen oder Polen bewohnt wurden, von Amts wegen auch der slawischen Sprachen bedienen. Sie sollten sie schreiben und sprechen, wozu die meisten von ihnen noch gar nicht fähig waren. Hingegen hatten viele tschechische Beamte längst Deutsch gelernt, so dass sie sogar in den deutsch besiedelten Gebieten Böhmens deutsche Kollegen ersetzen konnten, erst recht aber in gemischtsprachigen Gebieten. Für diesen Abbau des deutschen Sprachenprivilegs, der aus deutschnationaler Sicht auf eine Slawisierung hinauslief und für viele deutsche Beamten unmittelbar existentielle Bedeutung hatte, konnte der Hitler Alois gewiss nur wenig Verständnis aufbringen, zumal er sich mit seinen früheren Kollegen innerlich verbunden fühlte. Was hatte sich der Kaiser bloß dabei gedacht? Kein Wunder, wenn den Zollbeamten hin und wieder apokalyptische Ängste vor einer Zeitenwende beschlichen hätten. Schließlich hatte Franz Joseph I. keinen Kronprinz mehr, nachdem sich sein Sohn Rudolf umgebracht hatte, sondern nur noch den wenig sympathisch wirkenden Neffen Erzherzog Franz Ferdinand, der als präsumtiver Nachfolger im Verdacht der Slawenfreundlichkeit stand.

    Trotz dieser bohrenden Frage, die an sein kaisertreues Selbstverständnis rührte, musste Alois zumindest seinem Sohn Adolf gegenüber doch immer wieder als staatsloyaler Beamter auftreten, was ihn im Vergleich zu den tschechischen oder polnischen Beamten der Monarchie deutlich schlechter stellte. Denn: „Der nichtdeutsche Beamte konnte schließlich noch den Deutschen spielen, um sich ins rechte Licht zu setzen. Dem deutschen Beamten blieb zum Spielen nichts mehr übrig. Er war entwurzelt und klammerte sich ängstlich an ein imaginiertes Österreichertum, das ihm unter den Händen zerschmolz."⁴² So stand Alois auf einem nahezu verlorenen Posten. Statt sich mutig zu seinem Deutschtum zu bekennen und einen vernehmbaren Widerspruch gegen die kaiserliche Politik zu formulieren, ritt er Adolf gegenüber auf der im Grunde zweitrangigen Frage der Berufswahl herum. Diese Doppelmoral hat den Vater zwar vor dienstrechtlichen Konsequenzen bewahrt, den Sohn jedoch immer weiter in die deutschnationale Opposition getrieben.

    Ende der Tragödie

    So befand sich der Hitler Alois in einer extrem schwierigen, weil konfliktreichen Situation, die sein Leben verkürzte – der Wahl zwischen seiner Treue zum Kaiser und seiner Liebe zum Sohn. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Hitler ihn einmal „fanatischer Vater" nannte.⁴³ Wer war damit gemeint? Etwa der „Haustyrann" (Josef Goebbels) mit ausgeprägtem Hang zur Prügelstrafe? Oder der Beamte, der seinen Beruf unter allen Umständen als Lebensziel seines Sohnes durchsetzen wollte? Was immer man als zutreffend annehmen mag – Tatsache ist, dass das Verhalten des Vaters massive Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung des späteren Diktators hatte,⁴⁴ denn dieser war offenbar schon bei jenem in die Schule des Fanatismus gegangen. Aus der Rückschau betrachtet und in Anbetracht der Folgen wäre es allerdings viel vernünftiger gewesen, den Streit über die im Grunde sekundäre Frage des Berufs nicht auf die Spitze zu treiben. Etwas weniger Treue zum Kaiser, etwas mehr Einsicht in die eigene Doppelmoral und mehr Verständnis für die inneren Nöte des pubertierenden Sohnes wären wohl das richtigere Konzept gewesen. Es hätte Alois nicht nur einen längeren, weil ruhigeren Lebensabend beschert, sondern der Welt auch viel Unheil erspart.

    Am 3. Januar 1903, während eines Frühschoppens im Gasthaus Wiesinger, verstarb der Hitler Alois plötzlich im Alter von 65 Jahren in seinem letzten Wohnort Leonding. Er erlitt eine Lungenblutung oder einen Schlaganfall – das wurde nie eindeutig geklärt. Jedenfalls kam jede Hilfe zu spät. Der Nachruf seiner Freunde in der Linzer Tages-Post⁴⁵ stellte den Verstorbenen als jugendlich-frohen Zecher und freisinnigen Freund des Gesanges dar. Weiter hieß es: „Fiel auch ab und zu ein schroffes Wort aus seinem Munde, unter einer rauhen Hülle barg sich ein gutes Herz. Für Recht und Rechtlichkeit trat er jederzeit mit Energie ein. In allen Dingen unterrichtet, konnte er überall ein entscheidendes Wort mitreden…. Nicht zum wenigsten zeichnete ihn große Genügsamkeit und ein sparsamer, haushälterischer Sinn aus."

    Alois wurde von seiner Witwe, seinen Kindern, Verwandten und Freunden auf dem Friedhof zu Leonding begraben. Die Inschrift auf dem Grabstein lautet: „Hier ruhet in Gott Herr Alois Hitler, k.k. Zollamts-Oberoffizial i. P. und Hausbesitzer, gest. 3. Jänner 1903 im 65. Lebensjahr – den Begriff „Hausbesitzer sollte man sich merken. Er ist für das, was nach seinem Tod auf die Familie Hitler zukam, wichtig. Das Medaillon mit einem Schwarzweißfoto zeigt den Verstorbenen im Halbprofil. Die Grabstätte aus grob behauenen Steinen und einem schwarz lackierten Blech, die sein Sohn Adolf entworfen hatte und die vier Jahre später auch die sterblichen Überreste seiner Frau aufnahm, ist noch heute erhalten. Sie befand sich bei unserem Besuch in einem guten Pflegezustand.

    2. Kapitel: Herkunft und Abstammung

    Ein (un-)erfüllter Traum

    Adolf Hitler wurde in Deutschösterreich geboren, wie man den deutschsprachigen Teil der Habsburgermonarchie damals nannte. Die enge Nachbarschaft zum Deutschen Reich war ihm von Kindesbeinen an Lust und Last zugleich – Lust, weil sie ihm den glänzenden Aufstieg des Bismarck-Reiches zur europäischen Macht aus nächster Nähe zeigte, und Last, da Deutschösterreich seit 1871 keinem gesamtdeutschen Reich mehr angehörte. Denn aus ihm war die Habsburgermonarchie durch den Sieg der preußischen Truppen bei Königgrätz fünf Jahre zuvor ausgeschlossen worden.

    Dieser Ausschluss hatte sich 23 Jahre vor Hitlers Geburt ereignet – eine große Zeitspanne, damals mehr als ein halbes Menschenalter. Trotzdem war das Ereignis vielen Deutschösterreichern noch gegenwärtig, zumal es ihre Lebensbezüge in vielfältiger Art und Weise berührte. Das galt für Hitler ganz besonders, weil sein Vater an der österreichisch-deutschen Grenze diente. Zwar war der k.u.k.-Zollbeamte froh, dass es diese Grenze gab, weil er ihr seinen Brotberuf und vermutlich sogar seine Aufnahme in den Staatsdienst verdankte. Aber sein jüngster Sohn litt darunter, weil er diese Grenze täglich vor Augen sah und praktisch nichts dagegen unternehmen konnte.

    Eine baldige Änderung dieses quälenden Zustandes durch die nachträgliche Aufnahme Deutschösterreichs in das Deutsche Reich war nicht zu erwarten. Denn dann wäre der Vielvölkerstaat entlang der ethnischen, religiösen und sprachlichen Grenzen, die ihn wie Sollbruchstellen durchzogen, auseinandergefallen. Folglich hätte eine Veränderung der bestehenden Situation zwar den Wünschen des jungen Hitler entsprochen, nicht aber den Interessen des Kaiserhauses. Im Gegenteil: In Wien neigte man eher zu einer Verfestigung der Teilung, wenn nicht sogar zu einem gelegentlichen Revanchekrieg gegen das Reich, bei dem man sich für Königgrätz – oder „Sadowa, wie die Franzosen sagten – zu rächen gedachte. So blieb das Deutschland „von der Etsch bis an den Belt, das einst Hoffmann von Fallersleben in der Nationalhymne besungen hatte, für den jungen Hitler zwar ein schöner, aber auch ein frustrierender Traum.

    Dabei wäre rund vierzig Jahre vor seiner Geburt, in der Revolution von 1848/49, beinahe eine Neuauflage des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in etwas veränderter Form zustande gekommen. Damals hatten sowohl die Deutschösterreicher als auch die übrigen Deutschen an Wahlen zu einer gemeinsamen Nationalversammlung teilgenommen, die eine neue Reichsverfassung beschließen sollte. Selbst das Habsburger Kaiserhaus war zeitweilig bereit, an diesem Einigungswerk mitzuwirken, bis ihm die Revolution im eigenen Land zu gefährlich wurde und auch in Preußen die Reaktion marschierte. Die Folge dieser Ereignisse bestand darin, dass in der Freien Stadt Frankfurt am Main und im südmährischen Kremsier zeitweilig zwei deutsche Parlamente tagten, bis sie durch die Ungunst der Umstände auseinandergetrieben wurden. Da sich der preußische König inzwischen geweigert hatte, die Krone eines neu zu errichtenden Reiches aller Deutschen aus der Hand gewählter Volksvertreter entgegenzunehmen, kam eine Vereinigung mit der Habsburgermonarchie nicht mehr zustande. So wurde Hitlers Traum erst 1938 unter völlig veränderten Umständen durch den so genannten „Anschluss an das „Dritte Reich realisiert, den niemand anders als er selbst zu verantworten hatte.

    Fünfzig Jahre vorher, zum Zeitpunkt seiner Geburt, hatte in Deutschösterreich ein manchmal an Irredentismus grenzender Zustand geherrscht: Deutschnationalisten und so genannte „Alldeutsche versuchten, einen Anschluss an das Deutsche Reich populär zu machen. Die von ihnen entfachte Bewegung war immerhin so stark, dass Philipp Fürst von Eulenburg, deutscher Botschafter am kaiserlichen Hof zu Wien, seinen obersten Dienstherren und Freund, den deutschen Kaiser Wilhelm II., 1897 vor den Deutschösterreichern warnte. Diese seien „unbequemer als alle anderen Völker der Doppelmonarchie, weil sie „ihr Heil in dem Anschluss an das große deutsche Vaterland" suchten. Denn ihr Verlangen lag nicht im Interesse Berlins, wo man sich nicht mehr als irgend nötig mit einem zwar verbündeten, aber in sich schon morschen Reich belasten wollte.

    So kam es, dass sich der junge Hitler wie in einer Falle fühlte, weil niemand die Deutschösterreicher wirklich haben wollte: Die Habsburger nicht, weil sie an deren Reichstreue zweifelten, und die Hohenzollern auch nicht, da sie sich nun einmal für ein Reich ohne die Deutschösterreicher entschieden hatten. Für die meisten „Reichsdeutschen war das kein großes Problem. Sie lebten in ihrem Staat scheinbar sicher und gut. Hingegen wussten viele Deutschösterreicher nun nicht mehr so recht, wohin sie eigentlich gehörten, so dass der Schriftsteller Hermann Bahr wohl das Richtige traf, als er über seine Landsleute urteilte: „Der österreichische Deutsche kam sich ausgesetzt vor.⁴⁶ Denn dieser suchte nach einer sinnvollen politischen Zukunftsorientierung, da er sich inmitten seiner Heimat heimatlos fühlte.

    Deutschösterreichische Ambivalenzen

    Dafür, dass sich junge Deutschösterreicher wie der Hitler Adolf ihrem Gefühl, ihrer Sehnsucht, ihrem Verlangen nach zu den übrigen Deutschen rechneten, obwohl sie ohne Zweifel österreichische Staatsbürger waren, gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen drei Gründe: erstens den zunehmenden Nationalismus und Chauvinismus unter allen Völkern Amerikas, Europas und speziell der Habsburgermonarchie. Zweitens den glänzenden Aufstieg des Bismarckreiches zu einer kontinentalen Führungsmacht. Drittens gaben junge Wissenschaften wie die Anthropologie und die Ethnologie völlig neue Antworten auf die Frage nach Ursprung und Natur der Völker. Schon bei den europäischen Revolutionen der dreißiger und vierziger Jahre hatte sich nicht nur bei den deutschen, sondern auch bei den slawischen Völkerschaften der Habsburgermonarchie, also unter den Tschechen, Polen und Ungarn, ein zunehmendes Eigenbewusstsein geregt, das nach staatlicher Selbständigkeit bzw. nach Vereinigung mit der größeren, vom zaristischen Russland dominierten Völkerfamilie strebte. Seit 1871 suchten daher viele Deutschösterreicher ebenfalls wieder die Einheit mit ihrem reichsdeutschen Brudervolk, da sie an dessen glanzvoller Erfolgsgeschichte teilhaben und so der aus ihrer Sicht drohenden Überfremdung durch die Slawen entgehen wollten.

    Auch wenn sich diese Einheitsgefühle aus den geschilderten Gründen nicht in staats- und völkerrechtliche Formen gießen ließen, waren sie doch unzweifelhaft tief im österreichischen Teil des deutschen Volkes verwurzelt und historisch auch wohl begründet. Denn erstmals hatten einst bayerische Bauern die Alpenländer jenseits von Zugspitze, Watzmann und Hausruck besiedelt, und sieben Jahrhunderte lang waren die habsburgischen Erblande fest, unmittelbar und noch dazu in führender Funktion mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verbunden. Erst als Napoleon 1806 bei Austerlitz gesiegt hatte und die mit ihm verbündeten Fürsten vom Reich abfielen, legte der Habsburger Franz II. die gesamtdeutsche Kaiserkrone nieder, so dass sich sein Haus fortan auf das österreichische Kaisertum und ungarische Königtum beschränken musste. Dennoch verstanden sich die Habsburger weiterhin als „deutsch", obwohl sie sich längst mit den spanischen und bourbonisch-lothringischen Herrscherfamilien verbunden hatten.

    Mit Recht hatten die Habsburger ihre weit überwiegend von Deutschen besiedelten Erb- und Kronlande von jeher als Kernbestand ihres Herrschaftsgebietes betrachtet. Sie waren es letzten Endes auch, die den Deutschösterreichern im Verlauf ihrer langen Geschichte – mit Ausnahme Ungarns – zu einer beherrschenden Stellung in der Gesamtmonarchie verhalfen. Als umso schmerzlicher wurde von den Deutschösterreichern deshalb empfunden, dass Kaiser Franz Joseph I. (1848–1916) den gegen Ende des 19. Jahrhunderts um sich greifenden Deutschnationalismus schlichtweg zum „Landesverrat"⁴⁷ erklärte, nur weil der alternde Monarch zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft offenbar kein anderes Mittel mehr als die politische Bevorzugung von Polen, Tschechen und Ungarn wusste. Obwohl dieser Kurswechsel in seiner Nationalitätenpolitik letzten Endes ebenso auf die Schwächung, wenn nicht sogar Auflösung seines Reiches hinauslief, wie es eine fortwährende Benachteiligung der nichtdeutschen Völker getan hätte, betrachtete Franz Joseph I. das Deutsche Reich von 1871 immer noch hochmütig als „außerösterreichisches Deutschland" – so als wäre Österreich nach wie vor der Nabel der deutschen Welt.

    In Wirklichkeit war es eher umgekehrt: Ende des 19. Jahrhunderts bildete das Dreigestirn Otto von Bismarck, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche die geistige Achse, um die Österreich kreiste – einschließlich Böhmens, Mährens und der von Friedrich dem Großen nicht eroberten Teile Schlesiens. „Als würden diese drei die kulturelle Atmosphäre auch in Wien magnetisch aufladen, so fasziniert richtete sich in der Tat nicht nur die ‚frei schwebende Intelligenz‘ nach diesen Heroen aus, sondern das Kult-, Kitsch- und Machtbedürfnis sehr viel weiterer Kreise", schreibt Nike Wagner,⁴⁸ Urenkelin des Musikdramatikers und Komponisten, dem Hitler wichtige Impulse verdankte. „Während sich im Windschatten dieser Übermenschen allerlei sozialdarwinistische Ideale breitmachten, imprägnierten sie die Sphäre der Werte mit deutschkulturellen Idealen. Zwar bestand z. B. die Einwohnerschaft der böhmischen Hauptstadt Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu 95 Prozent aus Tschechen und den Angehörigen anderer Nationalitäten, wie der Journalist Egon Erwin Kisch aus seiner Kindheit berichtet. Aber die fünf Prozent Deutschen besaßen „zwei prunkvolle Theater, ein riesiges Konzertgebäude, zwei Hochschulen, fünf Gymnasien und vier Oberrealschulen, zwei Tageszeitungen …, große Vereinsgebäude und ein reges Gesellschaftsleben.⁴⁹

    Wie wenig die Dominanz der deutschen Kultur freilich an den deutschösterreichischen Ambivalenzen änderte, macht das Beispiel Hitlers und dessen Geburtsort Braunau deutlich. Jahrzehntelang war das Innviertel, in dem das malerische Städtchen liegt, zwischen den Wittelsbachern, dem Fürsterzbischof von Salzburg und den Habsburgern hin und her geschoben worden, bis es 1816 endgültig an Österreich fiel. Die Unsicherheit, die daraus für Hitlers Status resultierte, klingt in vielen seiner Äußerungen an. So heißt es in seiner autobiographischen Programmschrift Mein Kampf, Braunau sei „bayerisch dem Blute, österreichisch dem Staate nach" gewesen.⁵⁰ Als Hitler 1925 die österreichische Staatszugehörigkeit aberkannt wurde, stellte er mit dem Brustton der Überzeugung fest: „Ich empfinde den Verlust … nicht als schmerzlich, da ich mich nie als österreichischer Staatsbürger, sondern immer nur als Deutscher gefühlt habe⁵¹, um ein anderes Mal wiederum mit unerschütterlicher Festigkeit zu erklären: „Ich selbst bin meinem Herkommen nach, meiner Geburt und Abstammung nach ein Bajuware, obwohl Braunau seit 1816 dem österreichischen Staatsverband angehörte.⁵²

    Sicher war er sich seiner selbst also nicht – vielleicht klangen seine Äußerungen gerade deshalb so markig. Sonst hätte Hitler in Mein Kampf nicht den schieren Zufall, dass Napoleon einst mit dem Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm einen frühen Vorkämpfer der deutschen Einheitsund Freiheitsbewegung in Braunau hatte hinrichten lassen, als schicksalhaftes „Symbol einer großen Aufgabe bemüht, die er mit den Worten umschrieb: „Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich.⁵³ Denn das würde ja das Ende aller Unsicherheit bedeuten. Hitlers deutschösterreichische Odyssee war denn auch erst 1932 mit dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und 1938 mit dem so genannten „Anschluss beendet, als der Diktator im März auf dem Wiener Heldenplatz mit einer sich vor Erregung überschlagenden Stimme von Österreich als seiner „Heimat sprach.⁵⁴ Hingegen war Hitler von 1925 bis 1932 mitten im Deutschen Reich staatenlos gewesen.

    „Völkischer Universalismus"

    Die Erinnerungen an diese Ereignisse sind inzwischen längst verblasst. Von „Deutschösterreich spricht die Fachwelt heute nicht mehr in nationalen, sondern in milieutheoretischen Kategorien, die eine „soziale Einheit bezeichnen.⁵⁵ Darunter ist die „Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen zu verstehen.⁵⁶ Diese Art der milieutheoretischen Deutung begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast überall auf der Welt eine anthropologische, ethnographische und letztlich auch rassistische Färbung anzunehmen. Das heißt, die Vorstellung griff um sich, man könne die biologische und geistige Substanz eines ganzen Volkes wie bei einem Stamm, einer Sippe oder Familie über Jahrhunderte hinweg von Generation zu Generation im Wesentlichen unverändert bis an ihre Anfänge zurückverfolgen und damit politische Ansprüche begründen. Anders gesagt: „Die ethnische Fiktion des ‚Volkes‘ als nationaler Verwandtschaftskreis⁵⁷ breitete sich unter dem Einfluss von Charles Darwin, Arthur de Gobineau und Herbert B. Spencer fast epidemisch aus.

    Dieser „völkische Universalismus entwickelte allerdings in Österreich-Ungarn, wie Brigitte Fuchs herausfand, „eine spezifisch konservativ christlich-antisemitische Variante, deren Epizentrum eine bebende Angst vor „rassischer und kultureller Vermischung und damit „Entartung und Abstieg war. Den Anfang dieser Entwicklung hatte der Präsident der statistischen Verwaltungskommission, Karl Freiherr von Czoernig, 1858 mit einer „Ethnographie der österreichischen Monarchie" (1855–1857) gemacht.⁵⁸ Während aber das offizielle Wien, gestützt auf von Czoernigs ethnographische Erhebungen, sein Heil in der „Vermischung der Racen erblickte, um dem eskalierenden Nationalitätenkonflikt die Grundlage zu entziehen, setzte sich im deutschösterreichischen Bildungsbürgertum die „Germanentheorie durch. Danach waren die Alpenländer, wie der Wiener Prähistoriker Matthäus Much 1884 in einem Buch nachzuweisen versuchte, ursprünglich, also noch vor den Bayern, von den arischen Indogermanen besiedelt worden.

    Damit verschaffte Much jenem unheilvollen Arier-Mythos, der auf den deutschen Kulturphilosophen, Literaturhistoriker und Übersetzer August Wilhelm von Schlegel (1767–1845) zurückgeht, Eingang in die historische Genealogie Deutschösterreichs. Ausgehend von seinen sprachwissenschaftlichen Studien hatte Schlegel das Junge Deutschland schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die Idee begeistert, einst seien die Arier, aus Indien kommend, nach Nordafrika und Europa vorgedrungen, um dort Reiche zu bilden und Kulturen zu begründen; schließlich seien sie sogar bis hinauf nach Skandinavien gewandert. Als Beweis führte der Gelehrte u. a. die „Riesengröße und Festigkeit der Bauart in ägyptischen und indischen Denkmälern im Gegensatz zu der gebrechlichen Kleinheit moderner Gebäude" an.⁵⁹ Andere Autoren und auch die Wagnerianer in Bayreuth sahen die Arier hingegen umgekehrt aus Nordeuropa nach Indien und von dort aus wieder zurück nach Europa wandern.

    Aber damit nicht genug der Verwirrung. Da sich die Ableitung des Germanentums von den Indern mit der nordischen „Germanentheorie nicht so recht vertrug, wurde diese im Lauf der Jahre und Jahrzehnte von ihren indischen Wurzeln abgelöst und im antisemitischen Sinn aufgeladen. Danach zeichneten sich die von den „Ariern abstammenden oder mit diesen sogar identischen Ur-„Germanen" durch aristokratische Tugenden wie Bodenständigkeit, Kriegertum, kultur- und staatsbildende Fähigkeiten aus, wohingegen die Juden – christlichen Vorurteilen ebenso wie der realen gesellschaftlichen Entwicklung in der Diaspora zufolge – mit negativen Vorurteilen wie Händlertum, Wucher, ewige Wanderschaft und Unfähigkeit zur Kultur- und Staatsbildung in Verbindung gebracht wurden.

    Pro und contra Wiedervereinigung

    Darüber, ob und wie sich dieses Deutschösterreich nun mit dem Deutschen Reich – und darüber hinaus vielleicht sogar mit anderen „germanischen oder „nordischen Ländern Europas – verbinden könnte und sollte, gab es Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschösterreich selbst grundverschiedene Auffassungen und z.T. abenteuerlich anmutende Ansichten und Theorien, die sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert haben.

    Auf keinen Fall steuerten alle Deutschösterreicher unterschiedslos und geradenwegs auf einen simplen „Anschluss" zu, wie er von Hitler dann 1938 vollzogen wurde.⁶⁰ Die Vorstellungen reichten von einer bloßen Allianz nach dem Muster des so genannten Zweibundes von 1879 über eine Zollunion bis hin zu den ebenso radikalen wie irrealen Verschmelzungsphantasien der Alldeutschen unter Georg Schönerer, auf die wir später noch ausführlich eingehen werden.⁶¹ Im schroffen Gegensatz dazu konnten sich große Teile, wenn nicht die Mehrheit der Aristokratie und des liberalen Bürgertums eine wie auch immer geartete engere Verbindung zwischen den beiden Reichen überhaupt nicht vorstellen. Diese Schichten wurzelten fest in ihren altösterreichischen Traditionen und in ihrer Loyalität zum Herrscherhaus. Manche ihrer Vertreter waren außerdem von tief sitzenden Ressentiments gegen das kleindeutsche, hackenschlagende und als ebenso humor- wie kulturlos empfundene Preußentum erfüllt, das sich gegenüber der Idee von einem größeren Reich nicht erst 1866 und 1871, sondern auch schon 1848/49 als ausgesprochen treulos erwiesen hatte.

    Ein wegen seines Einflusses auf Richard Wagner – und damit indirekt auf den jungen Hitler – wichtiger Vordenker einer großdeutschen Wiedervereinigung war der promovierte Mathematiker und politische Publizist Constantin Frantz (1817–1891), der als Diplomat vorübergehend in preußischen Diensten gestanden hatte. Frantz favorisierte als zukunftsweisendes Modell ein so genanntes „Trinum"⁶², d.h. ein politisches Subjekt, das gewissermaßen als neutrale Instanz über Österreich und Preußen schwebte. Es sollte die beiden Rivalen um die Führung in Deutschland nur politisch miteinander verweben, ohne sie territorialstaatlich miteinander zu verschmelzen.

    Selbst als der Ausschluss Österreichs aus dem Deutschen Reich 1866 bzw. 1871 völlig neue, nämlich zentralistische Fakten geschaffen hatte, auf die sein „Trinum nicht mehr passen wollte, blieb Frantz seinem föderalistischen Ansatz treu. Dabei berief er sich letztlich auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, in dem er eine „internationale Institution sah, „deren Trägerin die deutsche Nation" gewesen sei.⁶³ An die Stelle von Bismarcks „Pseudo-Reich sollte ein „wahres Reich treten, weil Deutschland nach Frantz‘ Ansicht „nie ein ‚Staat‘ wie jeder andere gewesen war. Deutschland müsse daher „über die Staatsidee hinausgehen und die Idee eines ganz anders gearteten und auf viel höhere Zwecke gerichteten Gemeinwesens fassen – darin liegt die Vorbedingung zur Lösung der deutschen Aufgabe.⁶⁴

    Vor dem Hintergrund von Wagners Konzept für ein „Gesamtkunstwerk, das die grundverschiedenen Sphären der Kunst und der Politik zusammenfassen und zugleich überhöhen wollte, wird die Sympathie des Komponisten für eine solche „metaphysische Lösung des deutschen Problems verständlich. Doch klingen in den Vorstellungen, die Frantz Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, wahrscheinlich auch schon jene Gedanken an, die sich der junge Hitler einige Jahre später über die deutsche Frage gemacht hat und auf die wir an anderer Stelle eingehen werden.

    Die Vorfahren

    Die Vorfahren der Familien Schicklgruber, Pölzl, Walli (oder Wally), Göschl, Decker und Hitler⁶⁵ wanderten im Rahmen der mittelalterlichen Ostkolonisation aus Bayern in das niederösterreichische Waldviertel ein. Hält man sich an die Etymologie, dann verweist der Familienname „Hitler auf ein kleines Anwesen („Hütte), das die frühen Vorfahren besaßen. Damit gehörten sie einst zur bäuerlichen Unterschicht. Jahrhunderte lang siedelten diese Ahnen auf verhältnismäßig kleinem Raum um Weitra, Zwettl und Döllersheim.⁶⁶

    Abgesehen von Armut, gelegentlicher Inzucht und dem einen oder anderen minderbegabten Vorfahren ist die Genealogie der oben genannten Stämme, denen der Hitler Adolf schließlich seine Existenz verdankte, relativ unauffällig, bis seine Großmutter, die Schicklgruber Maria Anna, 1795 ins Leben trat. Sie wurde in dem Weiler Strones als sechstes Kind eines Kleinbauern geboren, der seinen Hof 1817 dem ältesten Sohn vermachte.⁶⁷ Danach teilte die Schicklgruber das ziemlich traurige Los aller Bauerntöchter jener Zeit, die keine Hoferbinnen waren. Ohne nennenswerte Schulbildung und von der übrigen Gesellschaft weitestgehend unbeachtet, mussten sich die meisten von ihnen mühsam als Stall- oder Hausmägde durchschlagen, bis sie irgendwann unter ihresgleichen einen Ehemann fanden oder außerehelich geschwängert wurden. Letztere fielen meistens der Armenpflege anheim, da der leibliche Vater ihrer Kinder seine Vaterschaft nicht anerkannte und daher auch keine Alimente zahlte.

    Im Gegensatz zu ihren Schicksalsgefährtinnen, die gänzlich unbeachtet blieben, ist über die Schicklgruber Maria Anna unverhältnismäßig viel geschrieben worden, da sie Hitlers Großmutter war. Angeblich heiratete sie 1842 den Müllergesellen Hiedler Johann Georg, der so arm war, dass er nicht einmal eine eigene Bettstelle besaß, sondern in einem Viehtrog schlafen musste. Schon lange vor der Hochzeit hatte dieser Hiedler die Schicklgruber geschwängert, denn deren gemeinsamer Sohn Aloys wurde bereits am 7. Juni 1837 in Strones bei Döllersheim geboren. Das uneheliche Kind trug fortan natürlich den Namen seiner Mutter. Erst am 7. Januar 1876, fast 40 Jahre später, wurde die Ehe der Schicklgruber mit dem Hiedler Johann Georg sowie dessen Vaterschaft von den Behörden anerkannt.⁶⁸ Just zu diesem Zeitpunkt vollendete der Hiedler Aloys, vormals Schicklgruber, sein 40. Lebensjahr. Die Tatsache, dass er sich künftig Hitler Alois nennen durfte, verdankte er einem Schreibfehler der zuständigen Bezirkshauptmannschaft Mistelbach⁶⁹ sowie der inzwischen eingetretenen Modernisierung seines

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1