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Vermessenes Land: Roman
Vermessenes Land: Roman
Vermessenes Land: Roman
Ebook411 pages5 hours

Vermessenes Land: Roman

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About this ebook

Zehn Tagen im Leben Südafrikas,
verteilt über vier Jahrzehnte von 1970 bis 2010 in denen aus Südafrika ein anderes Land wurde. Ein Kaleidoskop
südafrikanischer Wirklichkeiten,
in dem sich fiktive Charaktere mit realen Personen mischen. Ein wichtiges Buch, das tiefe Einblicke darüber gibt, wie das Land am Kap sich von der Apartheid befreite.
LanguageDeutsch
Release dateOct 27, 2016
ISBN9783884235348
Vermessenes Land: Roman

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    Book preview

    Vermessenes Land - Imraan Coovadia

    SCHWIMMBECKEN

    1970

    SCHULZEIT

    Der Jaguar wollte nicht anspringen. Ann saß hinter dem Lederlenkrad und beobachtete, wie das rubinrote Licht im Armaturenbrett schwächer wurde. Neils verstorbene Mutter hatte ihr das Auto vermacht, damals, als sie im Krankenhaus lag und trotz eines Halskatheders mit Füllfederhalter Briefe ans Parlament schrieb. Geschenke ihrer Schwiegermutter abzulehnen war schwierig. Manchmal wirkte das Gesicht der alten Frau geradezu versteinert.

    Ann erspähte ihren Nachbarn auf seiner Veranda. Sie stieg aus und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. Mackenzie war ihre einzige Chance. Er half ihr gern. Als die Stromversorgung einmal ausgefallen war, ließ Mackenzie seinen Diener eine Trittleiter bringen, war zum Schaltkasten hochgestiegen und hatte nacheinander die schwergängigen, grünen Schalter umgelegt, bis er die kaputte Sicherung fand. Im Juli, als die Leute vom Special Branch kamen, Neil war nicht da, hatte Mackenzie sich zur moralischen Unterstützung ins Wohnzimmer gesetzt. Er las auf dem Sofa seine mitgebrachten Zeitschriften, das Scope, ein Männermagazin sowie die Creamer’s Illustrated News, ein Technikjournal, während die Polizisten Neils Schreibtisch unter die Lupe nahmen, die im Adressbuch umkringelten Nummern überprüften und Schränke durchwühlten.

    Mackenzie brachte seinen Diener mit, einen muskulösen Alten in den Sechzigern, der kerzengerade hinten im Hillman Avenger seines Arbeitgebers saß. Einen Augenblick lang glaubte Ann, Mackenzie würde ihr die Hand auf die Schulter legen. Stattdessen legte er sie auf die Motorhaube des Jaguars.

    – Es liegt an der salzhaltigen Luft. Ein Motor, der fünf Jahre London übersteht, schafft hier gerade mal achtzehn Monate. Ihr Mann sollte sich mal um seine Wartung kümmern.

    – Ich richte es ihm aus.

    – Setzen Sie sich rein und lösen Sie die Handbremse. Der Bursche hier schiebt Sie die Straße rauf und Sie können dann den Motor anlassen. Wenn Sie zurückkommen, müsste alles wieder in Ordnung ein. Auf der Autobahn lädt sich die Batterie von selbst wieder auf.

    So betagt er auch war, Mackenzies Diener fing an zu schieben. Dick traten auf seinen dunklen Armen die braunen Adern hervor. Sofort überzog ein Schweißfilm seine Haut. Am oberen Ende der Straße hielt er ein. Abwärts sprang der Motor sofort an. Als Ann an der Caltex-Tankstelle vorbeikam, hatte er bereits Fahrt aufgenommen.

    Beim Blick in den Rückspiegel sah sie Mackenzies Diener erschöpft auf der Straße stehen. Ihr fiel ein, dass sie seinen Namen nicht wusste. Aber sie war sich ja nicht einmal ihres eigenen sicher. In erster Ehe hatte sie noch Ann Rabie geheißen, davor war sie Ann Bowen, deren Vater, ein Kommodore der Royal Navy, ihre Mutter während eines Landurlaubs in Durban auf einem Ball kennengelernt hatte. Aus Gründen, die in der Beziehung zwischen ihr und Neil lagen, hatte sie den Wechsel zu Ann Hunter nie ganz vollzogen.

    In der Innenstadt parkte sie vor dem Kaufhaus Greenacres. Einige Verkäuferinnen kleideten gerade die Schaufensterpuppen neu ein, mit Nadeln zwischen den Lippen, um die Kleider festzustecken. Irgendetwas an den Drahtgestellen und den klebrigen Pinselstrichen auf den Armattrappen verstörte sie. Die Puppen würden den Wagen mit einem Fluch belegen. Nach ihrem Gespräch mit Edward Lavigne würde sie in dieser Pappmascheegesellschaft warten müssen, bis der Laster von der Automobile Association angefahren kam.

    Sie beeilte sich. Ihr Sohn Paul war mit Alkohol auf dem Schulgelände erwischt worden. Derartige Vergehen wurden im Curzon College schwer geahndet. Die Strafe konnte zu einem Schulausschluss für das gesamte Michaelmas Trimester führen. Edward Lavigne war der Sprecher des Schulaufsichtsrats. In einem seiner ersten Briefe hatte Paul geschrieben, für Lavigne sei das College ein Ort, an dem Pünktlichkeit gleich nach Gottesfurcht komme. Eine zwanzigminütige Verspätung würde einen äußerst ungünstigen Eindruck machen.

    Ann ging an Telefonzellen vorbei, die von weißen Männern und Frauen belegt waren. Der Zeitungshändler breitete, die Ärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt, seine ausländischen Presseerzeugnisse aus. In den Läden wurden Schilder und Flaggen verkauft, auf denen die Provinz Natal als letzter Außenposten des British Empire gepriesen wurde. Als Schmiede desselben zog das Curzon College die Söhne von Fabrikbesitzern und Farmern aus den Midlands an, Mitglieder der United Party, die mit dem Gedanken spielten, den einen oder anderen gebildeten Bantu, Rechtsanwalt und Bankmanager aus Durban in ihre erlauchten Kreise aufzunehmen.

    Lavigne stand am Eingang des Royal Hotel. Er hatte breite Schultern, trug einen Blazer, eine graue Hose und schwarze Schuhe, die er wahrscheinlich ebenso energisch bürstete wie seine Zähne. Jedermann in Curzon College putzte seine Schuhe selbst, egal ob Neuling oder Aufsichtsschüler, Lehrer oder Schulleiter.

    Mit seinen tadellos polierten Schuhen stand Lavigne zwischen den Portiers, den Blick auf die vorbeiratternde Straßenbahn gerichtet. Er bemerkte Ann erst, als sie neben ihm stand.

    – Mr Lavigne, Edward, tut mir leid, dass ich zu spät komme. Aber mein Wagen sprang nicht an. An jeder roten Ampel hatte ich Sorge, er bleibt stehen.

    – Macht nichts, Mrs Rabie. Ich muss Sie jedoch darauf aufmerksam machen, dass ich um 13 Uhr am anderen Ende der Stadt den nächsten Termin habe. Die wenigen Tage, die ich in der Stadt verbringe, sind völlig ausgefüllt. Ich habe einen Tisch im Teesalon reserviert.

    Ann ging an den Portiers vorbei, nahm deren lange weiße Lederhandschuhe und hohen, roten Kopfbedeckungen wahr.

    – Übernachten Sie hier?

    – Das College hat eine Vereinbarung mit dem Hotel, wir bekommen die Zimmer günstiger.

    – So meinte ich das nicht.

    – Der Vorstand der Hotelgruppe ist ein Ehemaliger. Es ist der ausdrückliche Wunsch des Aufsichtsrats, dass unsere Schule einen gewissen Standard hält. Zum Teesalon müsste es hier langgehen.

    Ann ging an tapezierten Räumen und einer Reihe Pflanzen in großen Messingkübeln vorbei. Neben dem Fahrstuhl hing ein langer, messinggerahmter Spiegel, in dem sie sich selbst erblickte und einen Kellner mit Weste, der einen Servierwagen in die entgegengesetzte Richtung schob. Die Hotelbelegschaft war in Lauerstellung, auf der Suche nach irgendeinem Grund, sich auf einen Gast stürzen zu können. Seit ihrer Rückkehr aus Paris missfiel ihr diese Omnipräsenz von Bediensteten.

    Der Teesalon war mit einem durch die Ösen von vier glänzenden Messingständern geführtes Seil abgetrennt. Ann und Edward Lavigne saßen sich an einem Tisch an der Wand gegenüber. Der Kellner, ein Inder mit Windpockennarben, trug außer der vom Hotel vorgeschriebenen steifen, roten Tunika einen Turban. Während er den Tisch für den Tee deckte, alles auf das saubere Leintuch stellte, als positionierte er die Figuren auf seiner Seite eines Schachbretts, murmelte er in seinen langen Schnurrbart hinein und zog sich anschließend wieder auf seinen Wachposten zurück.

    Neil hatte recht. Hier hatte man als sogenannter Europäer stets ohne Fehl und Tadel zu agieren, eine ewige Zwickmühle. Man stand unter Beobachtung, hauptsächlich der anderen Europäer, aber auch der Einheimischen, einschließlich indischer Kellner mit Turbanen, die etwas zu gewinnen oder verlieren glaubten. Mit Frauen wie Ann gingen die Europäerinnen besonders hart ins Gericht. Sie konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass Lavigne, seinem untadeligen Geschäftsgebaren zum Trotz, sie im Namen der öffentlichen Meinung bestrafen sollte.

    – Mrs Rabie?

    – Nennen Sie mich bitte Ann.

    – Also gut, Ann. Seit Paul in der siebten Klasse zu uns kam, beobachte ich ihn. Wenn ich mich nicht irre, hat er damals ein Stipendium erhalten, das berechtigte zu gewissen Hoffnungen. Später war ich sowohl sein Hauserzieher als auch sein Geografielehrer. Man hat mich ausgewählt, die besten unserer Schüler unter meine Fittiche zu nehmen, diejenigen, die anschließend möglicherweise nach Cambridge gehen. Nach dem letzten Rugbyspiel habe ich Paul mit drei anderen vielversprechenden jungen Männern zum Abendessen ins Balfour Hotel eingeladen.

    – Edward, ich weiß, dass Sie ein gutes Verhältnis zu Paul haben. Was auch vorgefallen sein mag, an der Loyalität meines Sohnes zu Curzon hat sich nichts geändert.

    – Loyalität ist eine Tugend, die unsere Schule zu vermitteln bestrebt ist. Darf ich Ihnen einschenken?

    Lavigne goss den Tee durch das kleine Sieb und reichte ihr, ohne aufzusehen, die Tasse. In seinen tat er einen Würfel Zucker sowie zwei Milchtropfen, so vorsichtig, als hantierte er mit einer Pipette. Er setzte sich aufrecht hin und trank; der blaue Blazer mit den schweren Goldknöpfen war bis oben geschlossen, seine langen Hände verschwanden fast in den Ärmeln. Sie sah, dass er Manschettenknöpfe trug, und ihr fiel das Paar ein, das Neil von seinem Vater geerbt und Sartre geliehen hatte. Er hatte die Manschettenknöpfe nie wiedergesehen.

    – Ich finde es bedauerlich, dass Sie und Ihr Mann bisher bei keinem der wichtigen Spiele anwesend waren.

    – Mein Mann ist sehr beschäftigt, Edward. Seit unserer Rückkehr aus Paris hat er an der Universität große Verantwortung übernommen, was leider bedeutet, dass andere Dinge zurückstehen müssen.

    – Die Anwesenheit der Eltern ist keineswegs Pflicht. Manche der Jungen reisen von Johannesburg oder London an. Andere von Farmen aus dem rhodesischen Hinterland. Wir wissen um die unterschiedlichen Lebensumstände der Eltern. Trotzdem ist es bedauerlich, dass unsere erste richtige Unterhaltung unter derartigen Umständen stattfindet.

    – Das stimmt.

    – Dann verstehen wir uns ja. Sie verstehen die Sachlage. Einer der Aufsichtsschüler vertraute mir seinen Verdacht an. Natürlich oblag die Untersuchung des Vorfalls und die Durchsuchung von Pauls Schließfach mir. Dabei fand ich die Spirituosen.

    – Finden Sie es richtig, die Jungen zur gegenseitigen Spionage anzuhalten?

    – Ich würde es nicht als Spionage bezeichnen. Die Aufsichtsschüler müssen für Ordnung in den Häusern sorgen. Dasselbe System wird auch in den führenden Schulen Großbritanniens angewandt. Ich habe eine praktische Frage, Ann, die bisher nicht zufriedenstellend geklärt worden ist. Ich habe zwei Flaschen billigen Brandy gefunden, Klipdrift. Paul weigert sich, dessen Herkunft preiszugeben, was seine Situation verschlimmert. Hat er sie von daheim mitgenommen? Manche Schüler räumen die Hausbar ihres Vaters aus, weil sie sich auf diese Weise beliebt machen wollen.

    – Das hört sich nicht nach Paul an. Neil rührt keine harten Getränke an. Für gewöhnlich haben wir Wein im Haus, ich trinke abends gelegentlich ein Glas.

    – Das ist ja keine Sünde.

    Lavigne und sein trockenes Lachen gingen ihr auf die Nerven. In ihre Unterhaltung hatte sich eine Vertraulichkeit eingeschlichen, die Ann missfiel, als wollte der Lehrer zeigen, dass er um ihre Geheimnisse wusste. Es schien ihm egal zu sein, ob er sie beleidigte. Sie betrachtete ihn genauer. Selbst in Neils Utopia würde es einen Lavigne geben.

    – Wahrscheinlich ist Paul in einen der indischen Läden gegangen, Mrs Rabie, die in der Nähe des Schulgeländes liegen. Von Rechts wegen dürfen Inder in dieser Gegend keinen Grundbesitz erwerben. Wer also verpachtet ihnen das Land? Auf Bitte des Schulaufsichtsrats forsche ich nach den betreffenden Grundstückseigentümern. Wenn wir die Schuldigen herausfinden,werden wir entsprechende Maßnahmen ergreifen. Sie müssen sich an die Gesetze halten oder ihren Pächtern wird die Geschäftserlaubnis entzogen.

    – Das klingt hart, Edward.

    – Bei Menschen, die keine Skrupel haben, ist Härte angebracht. Ich bin keineswegs Rassist, das dürfen Sie mir glauben, aber in diesem Land werden mit Sicherheit erst dann Ruhe und Frieden einkehren, wenn wir allen gewisse Wertvorstellungen vermittelt haben. Mich interessiert die Universität sehr. Darf ich fragen, an welcher Fakultät Ihr Mann tätig ist?

    – An der Philosophischen. Wir kamen aus Paris zurück, damit er die Stelle annehmen konnte. Wenn es möglich gewesen wäre, wäre ich gerne länger in Frankreich geblieben. Bei meiner ersten Eheschließung war ich noch sehr jung und hatte daher nie die Gelegenheit, ein Jahr lang durch Europa zu streifen.

    Ann war nicht klar, warum sie mehr preisgab als nötig. Sie wollte sich gut mit ihm stellen, wollte Paul helfen.

    – Ich habe drei Jahre auf dem Kontinent, in Oxford, verbracht, Mrs Rabie, die mich davon überzeugt haben, dass mein Platz hier ist, wo unsere Zivilisation auf die Probe gestellt wird.

    Lavigne entschuldigte sich, um zur Toilette zu gehen. Ann sah seiner kräftigen Gestalt nach, wie er voller Überzeugung den Hotelflur hinunterging, dieses und das folgende Leben ganz und gar zu beherrschen. Im anglikanischen Jenseits würde Lavigne jenen Jungen die Hand schütteln, deren Hinterteile er in der Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers so vorzüglich mit dem Rohrstock traktierte. Sie würden sich bei ihm bedanken, dass er sie aufs rechte Gleis gebracht hatte.

    Ann war katholisch, das Erbe ihrer irischen Großeltern. Zwar war sie gefirmt worden, zündete aber, wenn sie eine Kirche betrat, höchstens eine Kerze an. Zudem war sie geschieden und fiel nicht in dieselbe Kategorie wie andere Eltern. Ihr kam der Gedanke, dass Privatschulen der Kirche ähnelten, beide standen unter der Kuratel einer universellen Herrschaft. Edward Lavigne hätte genauso gut Bischof sein können.

    Vor zehn Jahren wäre Ann beeindruckt gewesen. Doch nach den schönen Jahren in Paris, in denen sie am Boulevard Saint-Michel gewohnt und bei Lévi-Strauss und de Beauvoir verkehrt hatte, verwechselte sie eine Privatschule in Natal nicht mehr mit der Krönung der Zivilisation. Sie wollte einfach nicht, dass Paul ein Jahr versäumte. Er hatte sich im Curzon College schnell eingelebt, war am Trimesterende, angetan mit schwarzem Blazer und Krawatte, aus dem Bus gestiegen und hatte ihr von den typischen Jungenthemen wie Motorräder und Kricketspieler erzählt und den Gerüchten über die Lage an der Grenze, die von den älteren Schulkameraden durchsickerten.

    Neil war in einer ähnlichen Institution Klassenbester gewesen. Seitdem hatte sich der Strafkatalog nicht verändert. Die Jungen wurden entweder mit einem Kricketschläger oder einem Rohrstock geschlagen, einzeln im Arbeitszimmer des Hauserziehers oder wenn eine Gruppenbestrafung fällig war, aufgestellt in Reih und Glied in der Turnhalle. Oder die Jungen mussten meilenweit durchs Gelände rennen, lateinische Verben konjugieren, teilweise wurde das Privileg der Heimfahrt am langen Wochenende gestrichen.

    Ein erstaunliches Programm an Menschenopfern. Zwischen ihr und einer Aztekenmutter gab es weniger Unterschiede als Historiker gemeinhin annahmen.

    Als Lavigne zurückkam, hatte Ann beschlossen, seinen unterschwelligen Hohn zu ignorieren. Er hatte sich das dünne sandfarbene Haar so über den Kopf gekämmt, dass sie deutlich seine graue Kopfhaut sah. Beim Sprechen neigte er den Kopf, als wollte er ihr seine Blöße absichtlich darbieten.

    Sie fühlte sich durch seine Überheblichkeit verletzt. Dieselbe Eigenschaft hatte sie in Paris, bei Theaterautoren und Universitätsphilosophen, Konzertpianisten und Chirurgen als harmlos empfunden, wenn diese egoistisch und voller Leidenschaft über sich und ihre Überzeugungen sprachen.

    Lavigne wollte das Thema vom Tisch haben.

    – Zu diesem Zeitpunkt des Trimesters können wir, das ist der Standpunkt des Schulaufsichtsrats, der in dieser Sache den Rat eines Anwalts eingeholt hat, Pauls Schulgeld nicht zurückerstatten. Es ist jedoch möglich, dass Sie Paul selbst von der Schule nehmen. Ich bin bereit, den Rektor von Kearsney, einen guten Freund, anzurufen, oder stelle ihm, falls Ihnen das lieber ist, ein Empfehlungsschreiben für eine der besten staatlichen Schulen aus, beispielsweise die Durban High School. Viele Jungen, die das College verlassen mussten, sind bedeutende Persönlichkeiten geworden.

    Genauso gut hätte Lavigne ihr über den Tisch hinweg mit einer seiner wohlgeformten Hände eine Ohrfeige geben können.

    – Wir haben uns noch nicht darauf verständigt, dass Paul von der Schule genommen werden muss. Andere Jungen lassen sich auch etwas zu Schulden kommen, ohne dass sie von der Schule verwiesen werden.

    – Mrs Rabie, die verschiedenen Fälle lassen sich schlichtweg nicht miteinander vergleichen, jeder Fall liegt anders. Wenn ich ehrlich sein darf, bisher haben Sie mir kein Argument geliefert, weshalb ich Pauls Fall in einem anderen Licht sehen sollte. Daher bleibt es, wenn es nach mir geht, bei der Entscheidung des Rektors.

    Sie warteten auf die Rechnung. Neue Guerilla-Gruppen machten die Grenzen unsicher. Rubel und Dollar hatten das Pfund Sterling ersetzt. Kilometer, Kilogramm und Liter hatten Meile, britisches Pfund und Flüssigunze verdrängt. In Zaire war Patrice Lumumba bereits 1961 im Auftrag des Weißen Hauses ermordet worden. Ihr Sohn sollte wegen zwei Flaschen Brandy der Schule verwiesen werden. Die Maßstäbe des Curzon College hatten ebenso ausgedient wie Yard und Inch. Man wusste dort nicht, was wirklich zählte.

    Es ergab sich, dass Ann Edward Lavigne zu seinem Auto brachte. Er hatte es in einer Parallelstraße hinter dem Rathaus abgestellt, wo es keine Parkuhren gab, und nahm ihre Begleitung an.

    Ann hatte das Gefühl, dass sie sich in einer Sackgasse befanden. Gern hätte sie ihn darauf hingewiesen, dass Pauls Vater Gert mit den alten Familien der National Party gut befreundet und im Transvaal Bildungsminister gewesen war. Den Privatschulen war sehr wohl bewusst, dass sie von der Regierung finanziell unterstützt wurden. Man widersprach Geldgebern nie, egal ob es nun um die Entfernung von »Lady Chatterleys Liebhaber« aus der Bibliothek ging, den Ausschluss von Schülern nichtweißer Hautfarbe oder die Aufnahme des Sohns eines japanischen Geschäftsmanns als Europäer ehrenhalber. Gut möglich, dass sich der Special Branch mit der Schule in Verbindung gesetzt und geäußert hatte, die Aufnahme von Neil Hunters Stiefsohn sei nicht erwünscht.

    Lavignes Auto stand vor der Post. Paul hatte ihr erzählt, dass sein Geografielehrer einen Bugatti fuhr, diesen für seine Schnittigkeit bekannten italienischen Sportwagen. Lavigne, dieser für gewöhnlich mit schicker Fliege angetane Junggeselle, war gesehen worden, wie er durch Margates Kurort Curzon brauste und um die Hotels in den Drakenbergen in der Nähe von Champagne Castle kurvte. Wen er dort besuchte, blieb ein Geheimnis. Vielleicht einen anderen Mann? Während Lavigne seinen Autoschlüssel aus dem gestreiften Seidenfutter seines Blazers zog, überlegte Ann, ob er wohl homosexuell war. Das würde seinen Stil und seine geschraubte Ausdrucksweise erklären, seine stocksteife Haltung in allen Dingen und seinen schnörkellosen Sadismus. Sie sollte ihn damit erpressen. Das wäre nur gerecht.

    – Eins noch, Edward, bevor Sie losfahren. Sie leiten eine Schule, kein Kloster. Junge Burschen machen nun mal Streiche. Deshalb die Frage, hat diese Entscheidung mit meinem Mann zu tun? Tatsächlich ist Paul nicht Neils Sohn. Paul ist der Sohn von Gert Rabie. Ich verstehe, dass die Schule politische Rücksichten nehmen muss, aber Sie können Paul nicht für die Ansichten meines Mannes bestrafen. Das wäre nicht fair.

    Lavigne öffnete den Wagenschlag, legte die Hand auf die grüne Motorhaube und sah zum ersten Mal so aus, als wüsste er nicht, wie er reagieren sollte. Durch die Windschutzscheibe sah Ann ein paar Handschuhe auf dem Armaturenbrett liegen, cremefarben, an den Fingern abgesteppt, mit einem Druckknopf zu verschließen, besonders beliebt bei Mitgliedern von Automobilklubs, die rein um des Fahrens willen unterwegs waren. Sie stellte sich vor, wie Lavigne sich die Handschuhe überstreifte, um eine bestimmte Aufgabe in Angriff zu nehmen. In diesem Fall sie.

    – Falls Sie mich nach meiner ganz persönlichen Meinung fragen, Mrs Rabie, dann sage ich Ihnen unter uns, ja, Paul wird nicht mit besonderer Nachsicht behandelt. Aber Sie müssen auch unsere Position verstehen.

    – Ich begreife nicht, inwiefern der Ausschluss meines Sohns Curzon College nutzen sollte.

    Lavigne bückte sich, holte seine Handschuhe aus dem Auto, hielt sie in der Hand, als wollte er sie wiegen. Wahrscheinlich hatte die Sonne sie auf dem Armaturenbrett so sehr aufgeheizt, dass er sie nicht gleich überstreifen konnte.

    – Lassen Sie mich Ihnen erklären, wie der Schulaufsichtsrat denkt. Es geht nicht nur um den Alkoholkonsum. Paul hat eine Unterschriftenaktion gegen das Kadettentraining angezettelt. Das hat er Ihnen wohl nicht erzählt, Mrs Rabie. Politische Agitation wird an unserer Schule nicht geduldet. Vielleicht sollten Sie einmal mit Ihrem Mann reden, inwiefern es angemessen ist, dass er Ihrem Sohn seine Ansichten aufdrängt. James Nicholson ist niemand, der seine, auf relevanten Fakten basierende Meinung im Handumdrehen ändert, so viel kann ich Ihnen verraten. Nichtsdestotrotz lassen Fakten sich ändern. Beispielsweise benötigt Curzon derzeit Geld für einen neuen Musiktrakt.

    Mütterlicherseits stammte Ann aus Southampton, ihre Vorfahren waren Bäcker, Schiffsausrüster, Marinebuchhalter und Kontoristen gewesen waren, ehe sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Südafrikanische Republik aufgemacht hatten, ein Land, das keinen eigenen Hafen besaß.

    Die Rabies, eine Familie, von der Ann sich trotz Scheidung nicht hatte lösen können, brachte Lehrer hervor, Priester, die die Gemeinden im Boland betreuten, einen Bergbauingenieur, der unter Jan Smuts diente und später ins Parlament gewählt wurde sowie Gert Rabie, der eine Arztpraxis mitten in Natal hatte und sich um die Agrarstädte, abgelegene Häuser und die Farmen im Hochland zwischen Dundee und Newcastle kümmerte. Bereits während seiner ärztlichen Ausbildung war er für seine sensiblen Hände bekannt. Wenn eine Nabelschnur entwirrt oder die Herzkammer eines Säuglings operiert werden musste, rief man ihn. Er war vierzehn Tage jünger als sie. Als sie sich auf der Universität kennenlernten, war er nur an Rugby und seinem Medizinstudium interessiert. Am Tag ihrer Hochzeit waren beide zwanzig Jahre alt. Er bezeichnete sie gern als alte Frau.

    Gert war ein Einzelgänger und führte einmal im Monat ein Ferngespräch mit seinem Sohn. Die anderen Rabies blieben in engerem Kontakt. Sie besuchten Paul im Curzon College, fuhren stundenlang für ein samstägliches Rugbyspiel, unterhielten sich mit dem Kapitän der gegnerischen Mannschaft, beurteilten die Leistung von Fly-Half und Flanker und packten am Spielfeldrand ihre Picknickkörbe aus. Paul verbrachte die Juliferien bei ihnen. Ann wurde weiterhin von ihnen eingeladen, wenn sie Paul zu sich holten. Sie hatte den Eindruck, dass sie von ihnen nicht als eigenständiges Wesen wahrgenommen wurde und daher für die Trennung nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Und sie nahmen es ihr offensichtlich auch nicht übel, dass sie ihre Einladungen nie annahm.

    Dann gab es da noch die Hunters, exzentrische Rotschöpfe allesamt. Neils Mutter hatte zwanzig Jahre lang die Farm betrieben. Seine Tante war die erste Anthropologin gewesen, die in einem Dorf in Fingoland lebte und die dortigen Bräuche aufzeichnete. Neils Großonkel spielte auf einem Kreuzfahrtschiff Klavier, schrieb Kriminalromane, war mit Randolph Churchill befreundet und ging hin und wieder in Durban von Bord, wo er Séancen veranstaltete.

    Neil selbst war nicht unbedingt gutaussehend. Sein Gesicht war flach, die Arme knochig und die Beine lang, so dass er auf 1,90 m kam. Ständig arbeitete er an einem Projekt. Als sie sich kennenlernten, entwickelte er gerade ein neues englisches Rechtschreibsystem, das für die Eindämmung des Analphabetismus sorgen sollte. Er war der Einzige, der sich auf die Einführung des metrischen Systems vorbereitet hatte, indem er, lange bevor in den Läden die neuen Maßeinheiten allmählich eingeführt wurden, im Kopf alles in Meter und Liter und Kilogramm umrechnete.

    Neil musste ja nicht zwangsläufig das Vorbild ihres Sohnes sein. Vermutlich würde Paul, anders als sein Stiefvater, Bantus nie für weiser und ehrlicher als Europäer halten. Paul war am Lernen interessiert. Nie würde er sein Ohr jedem dahergelaufenen Inder leihen, im Gegensatz zu ihrem Mann, der auf der Veranda sitzend, die hübschen sommersprossigen, von der Sonne gegerbten Hände flach auf den Oberschenkeln, den kleingeistigen Gedanken des tamilischen Elektrikers Chunu lauschte, dessen Ausführungen über ayurvedische Ernährung und die Bockshornkleesamen bewunderte, die ihm dieser auf der Handfläche entgegenstreckte. Neil bewunderte Chris Padayachee, einen dunkeläugigen Anwalt, der mit Gandhis in Natal verbliebener Verwandtschaft verkehrte und sich dem von ihm gegründeten Phoenix Settlement verbunden fühlte. Der Jurist mit den tiefdunklen Augen wusste alles über Nehru und Jinnah und gebärdete sich wichtigtuerisch wie ein Professor. Wäre er auf dem Land aufgewachsen, Neil hätte ihm keine Minute lang zugehört. Als Ann nach Hause kam, waren Mackenzie und sein Diener im Garten damit beschäftigt, auf der das Grundstück umgebenden Betonmauer Hühnerdraht zu befestigen. Sie verständigten sich grunzend, während sie den dünnen Flechtdraht abrollten. Vor ihnen senkten und hoben Hagedasche ihre Köpfe, durchstöberten mit schlauem Schnabel das Gras. Sie benahmen sich nicht aggressiv, hüpften aber auch nicht beiseite, als Mackenzies Gehilfe mit einer Schubkarre voller Drahtreste und ausgegrabenen Pfosten an ihnen vorbeischob. Er ignorierte Ann.

    Sie betrat das Haus über die Küche. In Neils Arbeitszimmer lief das Radio. Sie hatte nicht erwartet, dass er schon da war. Häufig kam er erst heim, wenn es bereits dunkel war, und brachte einen Stapel mimeografierter Artikel mit, die bis zum nächsten Morgen gelesen werden mussten. Selbst nach vielen Ehejahren, klopfte Ann in Erwartung ihres Mannes das Herz. Sie ging nach oben, um sich über Lavigne zu beklagen.

    Stattdessen fand sie Nadia Paulson vor, eine von Neils Studentinnen, die umgeben von aufgeschlagenen Wörterbüchern und Lexika im Minikleid im Schneidersitz dasaß. Zuerst rührte sich Nadia nicht, machte sich weiterhin Notizen. Dann drehte sie das Radio leiser und schob sich das gefärbte Haar aus dem Gesicht. Sie stand immer noch nicht auf, lächelte aber.

    Jedes Mal, wenn sie aufeinandertrafen, dauerte es nicht einmal eine halbe Minute, bis Ann das Mädchen gern geohrfeigt hätte. Nicht aus Eifersucht, sondern weil Nadia sich bewusst provozierend verhielt.

    – Ich dachte, es wäre Neil.

    – Es gab eine Demonstration. Die Polizei hat die Bibliothek gesperrt. Neil hat mir den Schlüssel gegeben, damit ich einige Fußnoten überprüfen kann. Wir wollen nämlich den Artikel über Pixley Seme, Clements Kadalie und die Unterschiede zwischen Bürgerrechten und Arbeiterrecht für das Labour Bulletin fertigstellen.

    – Dann lasse ich Sie mal allein. Ich muss noch etwas in den Ofen schieben.

    In der Küche hielt Ann sich am liebsten auf, hier hatte alles seinen Sinn und Zweck. Der Raum besaß große Fenster und eine Halbtür führte in den Garten, es gab Holzregale, auf denen eine Schale mit glasierten Früchten und ein Stapel Goldrandteller standen, an Haken hingen Pfannen. In der Glasvitrine hatte sie Zinnbecher und -löffel und Pauls Schulpokale dekoriert.

    In den untersten Schubladen, die sie höchstens einmal im Jahr herauszog, befanden sich Teesiebe und Kastendrachen, Fingerhüte, Eieruhren und weitere fossile Gegenstände, die Ann vor Augen führten, dass das Leben veränderlich war, sich dabei Plunder ansammelte und das seltsame Gefühl in ihrem Herzen an diesem Tag keinerlei Bedeutung hatte. Um sich zu beruhigen, strich sie über die angeschlagenen blauen und weißen Kacheln, die selbst am heißesten Tag beinahe kühl waren. Sie glaubte, ihr Leben mit Neil wäre ebenso stabil wie diese Kacheln.

    Nadia, die kurz vor ihrem Abschluss stand, war seine fleißigste Studentin. Sie stammte aus Kapstadt, hatte aber auch Verwandte in Mauritius, wo sie ein Jahr verbracht und Französisch gelernt hatte. Für Neil machte sie Rohübersetzungen von Merleau-Ponty, Fanon und Alexandre Kojève und stenografierte die Sitzungsprotokolle der Free University mit. Mit ihrer hellbraunen Haut und den riesigen, fast dumpfen, schläfrig dreinblickenden Mandelaugen sah sie beeindruckend aus. In Durban, wo der Group Areas Act den Menschen bestimmte Gebiete zuwies, Busse, Drive-In-Lokale und Restaurants nach Rassen getrennt waren, gab es wenig Abenteuerspielraum für Nadia. Verständlicherweise wollte sie zu Neils Welt gehören. Jemand, der unbedingt hereinkommen möchte, kann nur schlecht daran gehindert werden.

    Als Nadia mit ihrer Umhängetasche voller Bücher herunterkam, stellte Ann fest, dass ihr die Ablenkung gerade recht kam. Nach Lavigne war nahezu jeder eine Wohltat.

    – Gehen Sie schon?

    – Mittlerweile sollte die Bibliothek wieder geöffnet sein. Normalerweise geht die Polizei rein, sucht nach den Demonstranten und zieht ab.

    – Sobald der Kuchen fertig ist, kann ich Sie zur Uni fahren. Ich habe ein Rezept aus der Fair Lady ausprobiert, wenn es etwas taugt, backe ich den Kuchen nochmals für meinen Sohn.

    Nadia legte ihre Tasche auf den Tisch.

    – Letztes Semester war Paul mal in Neils Büro, wartete darauf, dass eine Bio-Vorlesung anfing. Irgendwas über Farne. Er ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.

    Ann holte bereits Gabeln und Teller heraus und setzte den Wasserkessel auf. Sie schnitt zwei schmale Stücke für die junge Frau ab, stapelte sie aufeinander, nahm sich dann, begeistert, wie locker der Kuchen geraten war, selbst ein Stück. Sie konnte gut backen und es kam nicht oft vor, dass sich ein Backwerk ihr verweigerte und nicht aufging.

    – Paul weiß alles über Farne. Er ist ein echter Rabie, der Sohn seines Vaters, vertraut auf die Integrität der Obrigkeiten. Auch wenn man deren Heuchelei sofort durchschaut. Gerade vorhin hatte ich ein Treffen mit seinem Geografielehrer, der Geld für den neuen Musiktrakt der Schule will, wenn er Paul aus der Klemme helfen soll, eine Unverschämtheit.

    – Neil hat mir erzählt, dass Paul in Schwierigkeiten steckt. Das überrascht mich nicht. Mein erster fester Freund war in Kearsney. Wir mussten unsere Beziehung vor seiner Familie verheimlichen. Da habe ich kapiert, wie die ticken. Sie bestehen darauf, dass es Regeln gibt, die eingehalten werden müssen, aber wenn es Ihnen in den Kram passt, existieren die Regeln auf einmal nicht.

    Ann goss Tee in zwei Tassen und holte die Milch aus dem Kühlschrank.

    – Was genau hat Neil über Paul erzählt?

    – Nur, dass es Schwierigkeiten gibt und er nicht überrascht ist, sich aber nicht in Pauls Schulausbildung einmischen will. Sie wissen doch, dass für Neil im Endeffekt immer alles auf Bildung hinausläuft, dass man sich geistig freimacht. Er erlaubt uns nicht, dass wir bei Demonstrationen wie der am Howard College heute mitmachen, weil er weiß, wie schnell man als Nichteuropäer von der Uni fliegt.

    Es dauerte einige Zeit, bis Ann den Grund für ihr Unbehagen begriff. Nadia trug einen knappen, dünnen Rock und eine enge, blaue Baumwollbluse, und wenn sie einem auf der anderen Tischseite gegenübersaß, nahm man unwillkürlich ihren quicklebendigen Körper wahr. Bevor sie nach unten kam, hatte sie ihre Lippen nachgezogen, unübersehbar wie anzüglich ihr schöner, üppiger Mund war. Er teilte Ann mit, dass sie bald aufs Abstellgleis gehörte, es nicht mehr lange dauerte und ihre Haut würde durch die Sonne runzlig, ihre Sehnen und Schenkel in der Hitze verdorren, ihr Körper nie wieder so atmen und lieben, erröten und brennen wie mit Gert und nie wieder ein Mann die Hand mit derartiger Lust über ihre Hüfte wandern lassen. Er teilte ihr auch mit, dass ihre zweite Ehe, dieser Traum einer Verbindung mit den Hunters, gleichfalls zu Ende sei und sie sich gefälligst den anstehenden Veränderungen ergeben solle.

    Wenn etwas von vornherein feststand, wurde Ann ungeduldig. Noch ehe sie ein Buch halb durchhatte, las sie den Schluss. Wurde ein Problem zu nervenaufreibend, setzte sie alles in Bewegung, um der Sache ein Ende zu machen. Daher hatte sie kurz nach jedem Kennenlernen auch nicht gezögert und sehr schnell geheiratet, zuerst Gert, und später Neil. Einen Moment lang freute sie sich auf das Ende ihrer Ehe.

    Auf dem Weg nach draußen schwieg sie. Das Auto sprang problemlos an und sie fuhr zum Howard College. Der Wind raschelte suchend durch die Bäume, über den Boden und in den Beeten, die vor der Buchhandlung, dem roten Backsteincafé und den Studentenwohnheimen angelegt waren. Von Polizei keine Spur. Zwei Männer schoben eine Walze über die Tennisplätze bei der Golf Road, schwerfällig drehten sich die Zylinder über den Sand. Die Fenster des neuen Bibliotheksgebäudes waren bronzefarben.

    – Danke, dass Sie mich gefahren haben.

    – Gern geschehen. Bis bald.

    Nadia stieg aus, streckte dann

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