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GREXIT: Was uns die Griechenland-Lüge kostet
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GREXIT: Was uns die Griechenland-Lüge kostet

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About this ebook

"Leider sind wir bankrott!"
Charilaos Trikoupis, 1893 (Griechischer Ministerpräsident)

Dass Griechenland in absehbarer Zeit in der Lage sein wird, seinen gigantischen Schuldenberg abzutragen, glaubt heute keiner mehr. Der Ausstieg des Landes aus der finanzpolitischen Verantwortung diese Form des Grexit ist eine Tatsache auch völlig unabhängig von der Frage, ob das Land in der Eurozone verbleibt. Die griechische Tragödie wird weitreichende Folgen für die Politik in Deutschland, seinen EU-Partnerländern und für den weiteren Prozess der europäischen Integration haben. Der entstandene Schaden sind ja nicht allein die Milliardensummen, die die öffentlichen Haushalte und die Bilanzen der Europäischen Zentralbank belasten. Abgeschrieben werden muss vor allem ein gehöriges Maß an Vertrauen der Wähler in ihre politischen Vertreter. Das Buch zeigt Antworten auf die Frage, was der tatsächliche Preis sein wird für Jahrzehnte des unverantwortlichen Umgangs mit einer all zu sorglos konzipierten Gemeinschaftswährung und einem Land, dessen durchaus sympathische, aber überaus gefährliche Lebenslügen bedenkenlos hingenommen wurden.
LanguageDeutsch
PublisherCBX Verlag
Release dateJun 5, 2015
ISBN9783945794654
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    Book preview

    GREXIT - Johann Legner

    kostet

    Johann Legner

    GR€XIT

    Was uns die Griechenland-Lüge kostet

    Originalausgabe

    1. Auflage 2015

    © 2015 CBX Verlag, ein Imprint der Singer GmbH

    Frankfurter Ring 150

    80807 München

    info@cbx-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf in keinerlei Form – auch nicht auszugsweise – ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Lektorat: Cornelius Traub

    Umschlaggestaltung: Sina Georgi

    Satz: Sina Georgi

    Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-945794-33-3

    Inhalt

    Anhang

    Vorwort

    „Wir haben die Sonne" – Impressionen aus Athen

    Griechenland. Ja, Rechnungen, Quittungen gibt es jetzt. Sehr viele in Athen und Umgebung. Die Kellner bringen zu jeder Bestellung eine Quittung. Ab ins Glas oder in die Schale damit. Mit jedem Gang füllt sich das Gefäß und am Ende geht man mit einem Bündel an Quittungen ins Hotel. Und in Geschäften bekommt man Quittungen, die meistens nur mit Rechnungen nichts zu tun haben. Die Zahlenzettel werden aus dem Internet ausgedruckt, kommen aus Rechenmaschinen oder auch echten Registrierkassen. Doch in den meisten Fällen heißt das nichts, denn die Geräte sind mit nichts verbunden – außer mit einer Steckdose. Dahinter steckt kein System. Kein Finanzsystem, kein Steuersystem, das auch nur ansatzweise funktionieren würde. Noch immer nicht. Und wohl noch sehr lange nicht.

    Griechenland als Land ist nicht zu übersehen. Aber als Staat? Fassade. Im Kern nicht existent.

    Seit fünf Jahren stürzt das Land ab. Große Teile der Mittelschicht sind abgestürzt, die Armen sind noch ärmer. Der Staat ist eine Ruine, die Menschen leiden. Nicht alle. Aber sehr, sehr viele.

    Vordergründig sieht man die Krise tagsüber kaum. Doch der Schein reicht nicht mehr zum Täuschen – nicht nur bei Nacht, wenn die Straßen Athens voller Obdachloser sind. Doch schon tagsüber kann man das sehen – wenn man will. Oft sind die Sachen noch modern. Gerade noch. Es wird aufgetragen. Die Autos? Meist alt. Es werden kaum noch neue verkauft – wenn, dann kleine. Der Import gebrauchter alter – besonders aus Deutschland – läuft gut. Wer sich umschaut, wird in Athen keine Baustelle finden – jedenfalls keine öffentliche. Eine einzige Großbaustelle gibt es. Die Stiftung eines reichen Auslands-Griechen errichtet ein Kulturzentrum. Geflickt wird nur das Nötigste. Der Staat ist ausgefallen.

    Ja, die Strandbars in Glyfada sind voll. Aber die Gäste konsumieren kaum. Gerade so viel, um nicht von den Liegen zu müssen.

    Ein Land versucht, den Schein noch zu wahren. Stolz zu bleiben. Doch es ist wie mit – warum auch immer – gescheiterten Existenzen: Irgendwann wird der Abstieg, der Verfall oder schlicht die Armut sichtbar. Griechenland ist abgewetzt. Ein Land, eine Gesellschaft vor dem Kollabieren.

    Und man muss anerkennen: Wenn das, was der Gesellschaft an Auflagen zugemutet wurde, den Deutschen zugemutet worden wäre, hätte es auch hier eine Revolte gegeben. Vor allem die Rentner wären auf den Barrikaden.

    Griechenland kriegt die Kurve nicht.

    Warum nur nicht?

    Fragt man im Land nach, ist die Antwort einfach: Weil die Gläubiger zu harte Auflagen machen, wirkliche Solidarität mit dem Land nicht existiere. Weil Europa, speziell Deutschland, das Volk abstrafen wolle. Wofür? Weil es sich eine radikal-linke Regierung gewählt hat.

    Weil es Banken hilft.

    Weil, weil, weil … weil es einen in Gesprächen selbst mit Freunden in den Wahnsinn treibt: Weil immer andere schuld sind. Es ist der Reflex der Ängstlichen: Das Böse muss da draußen sein.

    Nur eines wird meist erst auf Nachfrage eingeräumt: Dass Griechenland aus eigener Kraft gescheitert ist. Man muss sich das Eingeständnis hart erstreiten.

    Und immer, immer wieder: wegen der Deutschen. Die Herrscher Europas. Weil sie fixiert sind auf Deutschland. Auf Angela Merkel, auf Wolfgang Schäuble. Und auf Bild.

    „Frau sagen die Griechen schon mal zu ihren Frauen. Das deutsche Wort. Das meint aus Sicht eines griechischen Mannes nichts so Gutes. Dann macht die Frau Vorschriften, ist deutsch, klingt deutsch, hart. Hat eigene Regeln, will, dass Schluffi mal was macht zu Hause. Und irgendwie ist dieses Griechenland eben auch ein Mann. Ein Macho. Und Europa deutsche „Frau.

    Athen und Berlin – zwischen diesen beiden Polen liegt das wahre Europa.

    Weil, wie, weil … streiten. Die Stimmung kippt ganz schnell. Das ist das Drama. Dass da Unfrieden in dieses schöne Europa der freien Reise getragen wurde. Es werden Spiele gespielt. Völker getrennt. Keine Regierung sagt ihrem Volk im Fall Griechenland die Wahrheit. Die griechische schon gar nicht. Aber auch die deutsche nicht. Es wird vertuscht, getrickst. Doch die Wahrheit liegt offen da, wird aber nicht ausgesprochen: Griechenland wird seine Schulden nicht zurückzahlen können. Das Geld der Deutschen und anderen Europäer ist weg, die Garantien für die Darlehen werden gezogen werden. Es wird noch mehr gebraucht. Der Staat muss aufgebaut werden. Woher soll Athen das Geld auch nehmen? Wo soll die Regierung denn noch sparen?

    Dabei ist die Frage eine andere: Wie soll dieses Nicht-Staatswesen je funktionieren, wie will dieser Staat jemals seine Einnahmen in den Griff bekommen, wie die Ausgaben? Wie können sich Staat und Bürger vereinigen? Wer hört zuerst auf mit diesem andauernden Selbst- und Staatsbetrug?

    Fragt man die wählenden Griechen, dann haben sie nun ja angefangen damit. Sie haben nicht mehr die gewählt, mit denen sie sich jahrzehntelang selbst betrogen haben. Eine radikal linke Partei, die eine Koalition mit Rechtspopulisten eingegangen ist. Eine komplette Amateurtruppe. Das soll ein Anfang sein? Es klingt wieder so griechisch.

    Als hätten sie in ihrer Not auch noch den Kompass verloren. Es gibt kein rechts und links mehr. Das zählt nicht. Was zählt: Wer hat uns noch nicht betrogen, wer ist weniger eng mit den superreichen Oligarchenfamilien, die das Land geplündert haben, denen Fabriken und Reedereien gehören und mit TV-Stationen und Zeitungen Stimmung für die Politiker machen, die schmieren, oder gegen die, die sich nicht haben schmieren lassen?

    Diesem Land fehlt die Mitte. In vielen Bereichen. Der Regierung. Dem gesamten politischen System, das von der Funktionsweise näher an Aserbaidschan ist als an Österreich: korrupt bis in die Faser.

    Sie wollen Griechen bleiben. Und Europäer sein.

    Sie können einem lauthals das Hohelied auf Europa singen. In der nächsten Minute wollen sie noch eines: raus. „Dann nehmen wir eben das Geld der Russen oder Chinesen!" Fragt man dann, welches Geld denn, wer bietet denn dem Pleitestaat Kredite oder Darlehen oder Sicherheiten zu besseren Konditionen als die inzwischen so verhassten und verteufelten Gläubiger von Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds? In Wahrheit: niemand. Aber es könnte ja. Sie machen sich Hoffnungen. Verdrängen, dass niemand etwas verschenkt. Schon gar kein Geld. Schon gar nicht an einen Staat, eine Nation, die es mit dem Rückzahlen nicht so hat. Und es wird langsam klar: Ohne Europa wird das nichts. Für Europa wird es aber ohne Solidarität auch nichts.

    An schlechten Tagen wollen selbst Hochgebildete in den Zeckenmodus flüchten: eine gewisse Zeit ohne alles auskommen, diese brutale Hilfe von den Gläubigern ausschlagen. Selbstversorger werden. Land ist genügend da. „Wir haben die Sonne – der Satz klingt zu Anfang nett, lustig. Ja, ja, die Griechen, denkt man dann. Doch mit der Zeit macht er wütend, weil er nach Abkapselung, nach Europa-Realitätsverweigerung klingt. Dann klingen Freunde wie ihre Regierung. Anmaßend. Dann will man sie anbrüllen: „Mein Gott, werdet erwachsen – ihr müsst da jetzt durch!

    Und an schlechten Tagen findet man selbst einen großen Teil dieses netten Völkchens einfach schizophren. Natürlich ist das gemein. Aber nach Wochen und Wochen in Athen kehrt dieser Gedanke immer wieder und immer stärker zurück. Die zwei Seiten: Der „Pleite-Grieche" und der stolze Grieche. Beide dürfen sich nicht begegnen, sonst könnte der Stolz dahin sein.

    Eine Kollegin brachte es fertig, in wenigen Minuten Taxifahrt voller Inbrunst zu erklären, warum man als Griechenland kein Geld haben und den Gläubigern gleichzeitig erklären kann, dass man die nächsten Kreditraten gern auf irgendwie unbestimmt verschieben würde, aber selbstverständlich 500 Putzfrauen wieder einstellen kann, die von den Vorgänger-Regierungen aus dem Finanzministerium entlassen worden waren. Auf das Argument, dass man dafür ja wohl erst einmal Geld brauche, kommt in vollem Ernst: „Euch geht es immer nur um Zahlen. Uns geht es um Menschen."

    Die Argumente, dass es mittel- und langfristig menschlicher ist, sich erst um die Zahlen zu kümmern, weil man dann Putzfrauen keine falschen Hoffnungen machen muss, weil man die Leute nicht gleich wieder rausschmeißen muss, weil das Geld einfach nicht da ist, dass es eventuell auch geht, als Staat Firmen mit dem Putzen zu beauftragen, die dem Staat dann auch Steuern zahlen und Gewinne machen, dass der Staat erst mal seine Rechnungen bei anderen privaten Firmen bezahlen könnte, zählen nicht. Der harte Deutsche erntet totales Unverständnis. Als stünde man als Weißwurst mit kurzer Hose und Socken in den Sandalen da.

    Aus griechischer Sicht ein Freak. Ein Zahlenfetischist – dieser Deutsche: ein Perverser.

    Und umgekehrt ist der Grieche ja auch ein Freak. Jedenfalls als Staatsbürger. Wenn es schief geht, wie es ja nun mal aufs Famoseste schiefgelaufen ist mit dem System Griechenland, dann hat der Wähler, der Staatsbürger aber auch überhaupt nichts zu tun mit seinem Staat. Der Grieche neigt nicht dazu, sich als staatenbildendes Wesen anzuerkennen. Nicht heute. Ja, Alexander der Große – der sind sie alle. Aber „Pleite-Grieche, Teil ihres politischen und staatsbescheißenden Systems? Nein! „Das waren doch unsere Regierungen, heißt es dann so oft. Meistens. Fast immer eigentlich. Der Staat sind immer die anderen.

    Ein einziger Selbstbetrug. Staat gegen Bürger, Bürger gegen Staat und beide zusammen gegen die EU. Und die EU und die Eurogruppe gegen sie: Alle haben sehenden Auges den Weg in diese Katastrophe begonnen. Es wusste doch jeder, dass sich Griechenland in die EU und den Euro gemogelt hat. Dieses ach so schlaue Europa wusste das. Haben uns Politiker und Institutionen über Jahre angelogen, wenn sie sagten, diese Krise sei beherrschbar – politisch und finanziell? Und wir: Waren auch nur Griechen, die wussten, dass das nicht stimmt. Wir haben uns alle etwas erzählen lassen.

    Auch in seiner Opferrolle als Krisenland: Selbstbetrug. Immer findet sich ein Grund, warum die estnische Putzfrau trotz allem besser dran ist als die griechische, warum die zwanzigjährigen Transformationsprozesse im Ostblock harmlos waren gegenüber den fünf Krisenjahren in Athen, warum es die Spanier und die Krisen-Portugiesen einfacher haben als die Griechen, warum es nicht das Gleiche ist, wenn ein polnischer und ein griechischer Arbeitsloser nach sechs Monaten nichts mehr vom Staat zu erwarten haben. Es ist ein Jammern. Es ist zum Jammern. So und so.

    Und mit der allergrößten Selbstverständlichkeit können einem selbst Konservative verkünden, dass natürlich eine Revolution fällig ist. Nein, nicht in Griechenland, dem Staat ohne wesentliche Staatsteile.

    Dann klingen alle wie die ganz linken Theoretiker in der Regierung und der Syriza-Parteizentrale: Von Griechenland aus müsse eine europäische Revolution ihren Anfang nehmen. Europa muss sich verändern. Klar, das große Ganze. Nur: Sie bekommen ja zu Hause gar nichts hin. Den Reichen geht es nicht ans Geld. Steuerbetrüger werden noch nicht gejagt. Als der Chef der Steuergewerkschaft fordert, dass alle Auslandskonten von Griechen sofort eingefroren werden müssen und erst wieder freigegeben werden sollen, wenn die Besitzer nachweisen, dass das Geld versteuert wurde, bekommt er nicht einmal eine Antwort. Keine Reaktion von den regierenden Sonntagsrednern, Theoretikern, Vortragsreisenden. Der Finanzminister hat seit Amtsantritt im Februar etwa 100 Interviews gegeben und für Hochglanzhefte gepost. Aber für so einen Vorschlag seines Syriza-Genossen von der Gewerkschaft hat er kein Ohr.

    Varoufakis hat sich im April in Washington mit Präsident Obama getroffen. Und mit Finanzminister Lew. Beide haben ihm klar gemacht, dass Griechenland von Europa schon gerettet werden wird – und muss. Nicht aus Vernunft. Aus geopolitischen Gründen. Denn von Washington aus betrachtet ist Athen schon fast Syrien, arabische Welt oder die Hintertür der Russen. Nur hatte er vergessen, dass ihm Lew und Obama auch gesagt haben, dass er liefern muss.

    Nein. Revolution! Varoufakis und sein Chef Alexis Tsipras wollen einen „New Deal", neue Regeln für Europa. Das heißt ja auch: Wenn Ihr euch ändert, machen wir mit. Als wäre ganz Europa pleite. Hausaufgaben? Der erste kleine Schritt? Nein: Der ganz große soll es sein.

    Es ist zum Verrücktwerden. So ändert sich nichts. Nicht in Athen und nicht in Brüssel. So verhärtet man Fronten.

    Und jedes Vorurteil stimmt. Und jedes Vorurteil stimmt nicht. In Griechenland gibt es keine einfachen Wahrheiten. Die Krise ist so kompliziert, wie das Verhältnis der Griechen zu IHREM Staat, einem Fremdkörper.

    Und da kommt man als Deutscher aus seiner DIN- und ISO-zertifizierten Musterwelt in diese Staatsruine und betrachtet den ganzen Schlamassel vom Ursprung her. Da ist der Grieche selbst schuld und wir haben alle weggesehen, als dieses lustige, gastfreundliche, mediterrane Völkchen sich und Europa betrogen hat.

    Mein Freund und hochgeschätzter Kollege Johann Legner und ich haben oft, lange und kontrovers diskutiert. Er hat mir vorgehalten, ich könne doch das Insel- und Mythenreich nicht mit meiner deutschen Messlatte durchschreiten. Und ich habe – dem Schwaben! – Johann Legner geantwortet, dass der griechische ja nun aber auch nicht unser Standard werden könne. Und Regeln existieren eben nicht grundlos.

    Unbestritten ist: Es ist viel passiert seit der Griechenland-Rettung. Nur Griechenland ist nicht gerettet. Und die Gründe dafür sind genauso vielfältig wie die Gründe für die Krise. Das zu ergründen, sprengt das tägliche Format einer Zeitung und selbst das einer Wochenzeitung. Alles, was tagespolitisch geschrieben und kommentiert wird, kann schon am Morgen darauf ins Gegenteil verkehrt worden sein. Und ist es meistens auch. Die einzige Regel: Nichts gilt morgen.

    Es gibt auch kein Gut und kein Böse. Es gibt nur verschiedene Wahrheiten und Lügen – so viele, wie das Land Inseln hat. Um das zu ergründen, bedarf es eines Buches. Dieses Buches.

    Peter Tiede

    Korrespondent für Bild

    Athen, Mai 2015

    1.

    Bessere und schlechtere Tage

    Diese Griechen! Es ist noch gar nicht so lange her, da sagten alle schon mal diese zwei Wörter. „Diese Griechen – das klang damals nicht nur nach Überraschung, sondern zeugte von Respekt und es schwang auch ein bisschen Bewunderung mit. Also will ich hier mit den besseren Tagen anfangen und uns allen einen Moment der Besinnung auf den schnellen Wandel der Stimmungen gönnen. Selbst in dieser kurzlebigen Zeit werden sich die meisten von uns noch erinnern – Griechenland im Jahr 2004. Am 4. Juli jenes Jahres schoss um 21.42 Uhr im Lissabonner Stadion des Lichts Angelos Charisteas ein Tor gegen die Elf von Portugal. Griechenland wurde mit diesem Treffer Europameister. Das hatte vorher keiner der Fußballexperten auf der Rechnung. Schon das Ergebnis des Eröffnungsspiels – bislang einmalig in der Geschichte von Europameisterschaften die Paarung des Endspiels – hatte geschockt. Auch da hatten die Griechen die Portugiesen besiegt. Es folgte ein Unentschieden gegen Spanien und Siege gegen die Franzosen, die Holländer und die Tschechen – ja, ein Mal hatte man gegen Russland verloren, aber am Ende alles gewonnen. „Diese Griechen! hieß es überall auf dem Kontinent. Den Deutschen, wieder einmal unrühmlich ausgeschieden, blieb immerhin ein schwacher Trost: „Dieser Otto, der Rehhagel, hatte als Trainer die Hellenen zum Sieg geführt. Wer in der Geschichte Europas einigermaßen bewandert war, horchte da auf. Otto und Griechenland – da war doch schon mal was gewesen. Aber dieses „schon einmal, worüber hier noch zu berichten sein wird, war sehr lange her und endete nicht meisterlich. Während der Europameisterschaft jedenfalls wurde Griechenland in den britischen Wettbüros für einige wenige zur Investition des Jahres. Auf jedes eingesetzte Pound gab es 80 zurück.

    Und dann wurden in diesem Sommer 2004 auch noch die Olympischen Sommerspiele in Athen ausgetragen. Vorher hatte es viele Zweifler gegeben, ob die Griechen das wohl schaffen würden. Aber dann wurde in allerletzter Minute fast alles fertig und lief auch fast alles rund. Jacques Rogge, der IOC-Präsident, sagte zum Abschluss, das seien „unvergessliche Traum-Spiele"¹ gewesen. Sie hatten allerdings auch eine Menge gekostet, obwohl sie nach der ursprünglichen Planung Gewinn abwerfen sollten. Die späteren Schätzungen sprachen von einem Minus von wenigstens 7 Milliarden Euro.

    Heute allerdings redet alle Welt ganz anders über 2004. Heute wird gerne darüber berichtet, dass sich damals in Brüssel ein paar EU-Bürokraten mit Zahlenkolonnen herumschlugen, aus denen klar hervorging, dass das Land bei seinem Beitritt zur Eurozone mit unhaltbaren Angaben operiert hatte. Die haben dann wohl auch „Diese Griechen!" gesagt. Aber da hörte keiner zu. Kein Mensch interessierte sich damals für ihre seltsamen Statistiken. Im Mittelpunkt des Interesses standen in Brüssel ganz andere Dinge. Die Großen, Frankreich und vor allem Deutschland, hatten ja nicht nur beim Fußballspielen versagt und waren den Erwartungen nicht gerecht geworden. Sie hatten in den Vorjahren auch ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht eingehalten und mehr Schulden gemacht als fest zugesagt. Sollte man in solch einer Situation tatsächlich den Griechen auf die Finger klopfen? Zumal dann, wenn die Regierenden in Berlin und Paris mit ihrem Sündenfall ungeschoren davonkommen würden? Die Kommission in Brüssel versuchte ihr Bestes, die griechische Zahlenmisere dann 2005 noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen, und scheitere kläglich an dem insbesondere aus Berlin vorgetragenen Nein. Da gönnte man dem kleinen Griechenland doch lieber seine ganz und gar unerwarteten glanzvollen sportlichen Erfolge. Und schließlich gab es für diese Großzügigkeit auch eine hinreichende Begründung. Die Hellenen hatten ja nicht nur die olympischen Spiele erfunden, sondern auch unserem Kontinent den Namen gegeben – verbunden mit der faszinierenden Geschichte der Ent- und dann auch Verführung einer phönizischen Königstochter durch den Göttervater. Mit dieser Schönen und damit mit den Griechen fing also alles an bei uns in Europa. Mit ihnen musste man schon deswegen Milde walten lassen. Und so durften sie 2004 dann auch ungestört und ausgiebig feiern – zusammen mit Otto, dem Meistermacher aus dem Ruhrpott. Sie hatten zwar einen grausig anzusehenden Fußball gespielt, aber eben gewonnen.

    Nur zehn Jahre später beherrschte Griechenland erneut, aber ganz anders die Schlagzeilen. Diesmal nicht mit Berichten von erstaunlichen Wundertaten. Die Nation wurde zum Inbegriff der Schreckensmeldung. Und sie ist es seither geblieben. Griechenland ist Krisenland – diese Gleichung sichert den Journalisten spätestens seit 2010 weltweit die Aufmerksamkeit der Leserschaft.

    Aber wenn wir schon von der Vielfalt, der Widersprüchlichkeit und dem Wandel der Griechenlandbilder reden, muss auch daran erinnert werden, dass 2014 das Land nicht nur einen neuen Schuldenrekord verzeichnete. Das Jahr brach auch noch eine andere Bestmarke. Nie zuvor waren so viele Deutsche als Touristen nach Griechenland gereist, obwohl dort die Preise der gestiegenen Nachfrage wegen kräftig anzogen. Viele von uns schätzen offensichtlich weiterhin die unbezahlbaren landschaftlichen Schönheiten und die historischen Zeugnisse. Viele von uns sind immer, immer wieder gekommen – trotz der Meldungen vom angeblichen Chaos im Lande.

    Zwischen dieser unverwüstlichen touristischen Zuneigung und der Wahrnehmung der Menschen und ihres scheinbar selbst verschuldeten schlimmen Schicksals klafft inzwischen ein tiefer Graben. Es gibt auch im Jahr 2015 zweierlei Griechenland in deutschen Köpfen – das der Reisenden, die gerne dorthin fahren, und das andere, das seiner Schulden wegen verflucht wird. Dieses Buch wird den Graben nicht überwinden. Es soll aber dazu beitragen, unsere eigene

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