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Mord
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Ebook172 pages2 hours

Mord

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Als Protokollant in der Einlaufstelle eines großen Konzerns wird er täglich Zeuge von Fehlentscheidungen, die unausweichlich zum Untergang des Unternehmens führen werden. Seltsamerweise scheint keiner der Verantwortlichen oder Kollegen von seinen Bedenken und verzweifelten Warnungen Notiz nehmen zu wollen.
LanguageDeutsch
PublisherWieser Verlag
Release dateOct 6, 2016
ISBN9783990470473
Mord

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    Mord - Wilhelm Pevny

    1

    Die ganze Nacht wachgelegen. Endlich ist es so weit: Ich werde dem Herrn Direktoriumsvorsitzenden meine Vorschläge unterbreiten. Bisher wurde ich jedesmal abgewiesen. Drei-, viermal hatte mir Fräulein Wolf im letzten Moment abgesagt. Einmal war es mir gelungen, bereits im Vorraum des Direktionszimmers Platz zu nehmen, aber dann hiess es doch wieder, dass der geehrte Herr Direktoriumsvorsitzende verhindert sei.

    Andere hätten längst aufgegeben. Auch ich war ein paarmal nahe daran. Sobald jedoch mein jüngerer Sohn während des üblichen Sonntagspaziergangs in einer der Grünanlagen am Rande der Stadt wieder einmal eine seiner seltsamen Fragen an mich gerichtet hatte, etwa, weshalb man die Triebwagen der U-Bahn nicht endlich automatisiere, um den Fahrern das schlimme Schicksal zu ersparen, jahrelang unter der Erde im Kreis fahren zu müssen, oder meine ältere Tochter wissen wollte, wie es denn zusammenginge, dass Wissenschaftler, die mörderische Waffen erfinden, von unserem Präsidenten, der doch bei jeder Gelegenheit Frieden und Menschlichkeit als höchstes Gut preise, mit Orden behangen und als besonders vorbildhaft hingestellt würden, immer dann, wenn die beiden solche Fragen stellten, gab ich mir stets aufs neue jenen Ruck, den es braucht, um das Unmöglichscheinende zu versuchen, fuhr ich also montags die vier Stockwerke in die Direktionsetage hinauf (wobei ich mir jedesmal wie ein blinder Wasserspringer vorkam, der nicht weiss, ob das Becken, in das er springen wird, gefüllt ist), ging den fensterlosen Gang entlang, klopfte an die Tür Nummer sieben, hinter der Fräulein Wolf laut Dienstvorschrift Punkt Numero vier Besuchswünsche, Anregungen und Beschwerden entgegennimmt, und trat nach dem zweiten Klopfen ein.

    Hätte jemand das bebrillte Fräulein Wolf mit hochgesteckten Haaren hinterm Tisch – und mich davor – beobachtet, er hätte sogleich bemerkt, dass meine Anwesenheit in diesem engen Zimmer höchst unerwünscht war. Jeder neuaufgenommene Mitarbeiter begreift sehr bald, dass er es am besten unterlässt, irgendwelche Beschwerden oder Anregungen vorzubringen, und sollte er aus einem eigensinnigen Charakterzug heraus von seinen Absichten nicht abzubringen sein, so hat er sein Anliegen keinesfalls auf die laut Dienstverordnung vorgeschriebene Weise einzubringen, sondern (und das erfährt er erst, nachdem er viele Irrwege gegangen ist) hat er einzig und allein seinen Betriebsvertrauensmann davon in Kenntnis zu setzen, welcher wiederum den Sekretär des Betriebsratstellvertreters informiert, der wiederum – sofern das Anliegen von allgemeiner Bedeutung ist – den Sekretär des Betriebsratobmannes davon unterrichtet, und so weiter und so fort.

    Die Regeln dieser Vorgangsweise sind allesamt ungeschrieben, fragt man danach, wird man belächelt. Nur durch eifrige Beobachtung oder den einen oder anderen hilfsbereiten Kollegen kann man im Lauf der Jahre dahinterkommen, wie man sich in diesem oder jenem Fall zu verhalten hat. Ich, zum Beispiel, hatte mehr als zwei Jahre hindurch immer wieder der Dienstvorschrift entsprechend im Zimmer sieben, Gebäudeblock A, vierter Stock meinen Wunsch nach einem Treffen mit dem geehrten Herrn Direktoriumsvorsitzenden deponiert, Fräulein Wolf hatte das für solche Besuche vorgesehene Formular jedesmal kommentarlos entgegengenommen, bis mich endlich ein freundlicher Kollege darauf hinwies, dass ich auf diese Weise nichts erreichen werde, ich – einem ungeschriebenen, aber dem einzigen hier in diesem Betrieb geltenden Gesetz zufolge – mich mit meinen Wünschen und Sorgen an den Sekretär des Vertrauensmannes zu wenden hätte, der, als ich endlich vor ihm stand, laut aufgeseufzt hatte, mir schlaff ins Gesicht blickte und mir mit jeder seiner Bewegungen zu verstehen gab, dass mein Unterfangen, gleichgültig auf welche Weise ich es betriebe, ohne Erfolg bleiben würde.

    Warum tue ich mir das an, fragte ich mich, als ich mich müde vom Zimmer des Sekretärs im Gebäudeblock B zu meinem Bürozimmer im zweiten Stock schleppte; und in den Wochen nach diesem ersten Treffen mit dem Sekretär meines Vertrauensmannes verfiel ich derselben stumpfsinnigen Apathie, in der sich die Mitarbeiter unserer Firma mehrheitlich zu befinden scheinen. Ich nahm mir fest vor, meine Arbeit zu tun und dabei das Denken auszuschalten – was aber schwer möglich ist, wenn man offenen Auges ständig Protokolle und Berichte über den Tisch gereicht bekommt, die Einblick in widersprüchliche Entscheidungen der einzelnen Abteilungen bieten, man auf Anordnungen stösst, die einander aufheben oder torpedieren, man sich täglich mit Missständen konfrontiert sieht, die über kurz oder lang zum unaufhaltsamen Untergang des Betriebes führen werden. – Wie die Vernichtung seiner eigenen beruflichen Existenz und die seiner Kollegen ohne Wimpernzucken hinnehmen?! Kaum jemand aus der Belegschaft würde irgendwo anders Arbeit finden, tausende Menschen würden arbeitslos, zu Nothilfeempfängern degradiert, die Menschen müssten aus ihren Wohnungen ausziehen, die Kinder die Schulen wechseln, der Griff zur Flasche würde sich häufen, die Gewalt in den engen Kammern eskalieren. Und dabei wäre diese verhängnisvolle Entwicklung leicht zu verhindern. Es müssten bloss einige geringfügige Veränderungen vorgenommen, vor allem die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen endlich in Gang gebracht werden. Und da niemand in unserer Firma einen tieferen Einblick in die Geschehnisse hatte als der Protokollant, also ich, empfand ich es geradezu als meine Pflicht, die Direktion von dieser unheilvollen Entwicklung zu unterrichten, sie zu veranlassen, Massnahmen zu setzen, um den drohenden Konkurs von der Firma abzuwenden.

    Herzlichen Dank für Ihr Schreiben! – Das Sekretariat der Direktion bestätigte jedesmal mit freundlichen Worten, meine Briefe in Empfang genommen zu haben, und man ermunterte mich, weiterhin so aktiv für die Interessen des Unternehmens einzutreten. Anfangs nahm ich an, die Direktion hätte tatsächlich von meinen Beobachtungen Kenntnis genommen und bereits die notwendigen Veränderungen eingeleitet, aber als nichts dergleichen geschah und alles beim Alten blieb, war mir bald klar, dass solche Antwortschreiben, wie ich sie vom Sekretariat erhielt, automatisch vom Computer ausgedruckt wurden, mit variierenden Floskeln für den jeweiligen Empfänger.

    Wie viele Male betrachtete ich mein verzweifeltes Gesicht im kleinen Standspiegel auf meinem Arbeitstisch neben dem Telefon, nachdem es mir wieder einmal nicht gelungen war, den geehrten Herrn Vorsitzenden oder einen der Direktoren ans andere Ende der Leitung zu kriegen! Die jeweiligen Vorzimmerdamen am Telefon verwiesen mich allesamt an Fräulein Wolf, ich solle in deren Büro um einen Besuchstermin ansuchen, wie es die Dienstvorschrift – Punkt 4, Absatz d – für solche Fälle vorsehe. Fräulein Wolf nahm dann zwar jedesmal mürrisch mein diesbezügliches Ansucheformular entgegen, ohne mir jedoch jemals die Unsinnig- und Aussichtslosigkeit dieses Dienstweges auch nur im geringsten anzudeuten. Wohl bemerkte ich, dass sie mich wie einen Aussätzigen, einen Vollidioten behandelte, wie ein an einer seltsamen Krankheit leidendes Tier, geradeso als wäre sie eine Polizistin und ich ein zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder, den sie allein aus Berufsstolz derart missachten zu müssen glaubte. Ich begründete diese Behandlung durch das Fräulein jedoch lange Zeit mit meinem titellosen Rang, meiner eher unbedeutenden Gehaltsstufe – Mitarbeitern aus den beiden unteren Stockwerken begegnete man in diesen Etagen gewohnheitsmässig gelinde gesagt reserviert –, bis ich endlich begriffen hatte, dass der Sekretärin mit dem sonderbaren Gesicht nicht nur mein niedriger Dienstgrad missfiel, sondern vor allem, dass ich es wagte, den Dienstweg laut Vorschrift in Anspruch zu nehmen, obwohl doch jeder von denen, die in der Firma etwas zählten, genau wusste, dass man so etwas nicht macht. Mein nichtwissender Eifer zeugte in den Augen der Sekretärin wohl von einer nicht zu verzeihenden Takt- und Geistlosigkeit, was auf sozial mindere Herkunft des Betreffenden schliessen liess, anscheinend die schlimmste aller Mischungen in den Augen dieser Frau mit den beiden so unterschiedlichen Gesichtshälften, die anzustarren ich – wie angewurzelt vor ihrem Schreitisch stehend – nur mühsam verhindern konnte: Jedesmal wenn ich meinen (an diverse Mappen auf der Arbeitsfläche oder an der Rückseite ihres Bildschirms gleichsam festgenagelten) Blick ein wenig hob, hatte ich den Eindruck, die eine Hälfte ihres Gesichtes würde im nächsten Moment zu Boden fallen, oder die andere zur Decke des Raumes emporsteigen.

    *

    Den Betriebsratobmann bekommt ein einfacher Angestellter der Firma kaum jemals zu Gesicht. Genauso wie den Zentralbetriebsratobmann sieht er ihn höchstens bei den jeweils im Abstand von zwei Jahren erfolgenden Wahlveranstaltungen in der zu diesem Zweck ausgeräumten und geschmückten Maschinenlagerhalle, und dann nur im günstigsten Fall von der dreissigsten Reihe aus – die Plätze davor sind für die Angestellten aus den oberen Stockwerken reserviert.

    So musste ich von grossem Glück sprechen, als ich eines Tages eine Vorladung des stellvertretenden Betriebsrats in Händen hielt, eine grosse Auszeichnung, wie mir Kollegen versicherten – der Begriff Vorladung solle mich dabei nicht irritieren. – Seit Monaten hatte ich die Sekretärin des Betriebsvertrauensmannes zu überreden versucht, mich zu ihrem Chef vorzulassen. Sie hatte mich schliesslich an den Sekretär des stellvertretenden Vertrauensmannes verwiesen, und nachdem dieser mich jedesmal, wenn ich ihn abzupassen versuchte, vertröstet oder abgewimmelt hatte, bestellte mich nun völlig überraschend der Kollege stellvertretender Betriebsvertrauensmann höchstpersönlich(!) zu sich – ich sehe noch heute das aufgeregte Gesicht des jungen Mitarbeiters vor mir, der mir die Aufforderung des Vertrauensmannes überbracht hatte. – »Nicht zum zweiten Sekretär, nicht zum Sekretär des Stellvertreters sondern zum stellvertretenden Vertrauensmann hochpersönlich!«, jubelte ich. Das schien der Durchbruch zu sein.

    Das mürrische Gesicht des stellvertretenden Vertrauensmannes weckte mich dann umgehend aus meinen Träumen. Vor ihm auf dem Tisch, ein aufgeschlagener Aktenordner, einige Schriftstücke mit meiner Handschrift: die von mir an die Direktion abgeschickten Briefe, fein säuberlich registriert. Der Breitgescheitelte mit den hängenden Wangenbacken und dünnem Hals, in einem deutlich zu grossen Anzug, liess mich lange vor seinem Tisch stehen, hinter dem er mehr hockte als sass. Ob es mir denn nicht bekannt sei, murmelte er mit vorerst gepresster, dann immer lauter werdender Stimme, dass ich solcherart Schreiben wenn, dann nur an ihn oder noch besser an seinen Sekretär oder noch besser an den Sekretär des Sekretärs zu adressieren hätte – ohne mich darüber im Unklaren zu lassen, dass es am besten wäre (sowohl für mich als auch für das produktive Arbeitsklima im Betrieb), solcherart Schreiben gänzlich zu unterlassen. Denn Schreiben dieser Art würden letzten Endes sowohl mir als auch den Kollegen schaden, meinte der allmählich um eine vertrauenswürdige Miene bemühte stellvertretende Vertrauensmann mit fester Stimme, nachdem er mir endlich den Stuhl neben dem Tisch angeboten hatte.

    Ich solle doch an meine Frau und an meine Kinder denken, sang er beinahe, als er sich von seinem Lehnsessel erhob und zum leeren Bücherregal neben einem nicht sehr grossen Fenster mit Blick auf Baumkronen schritt – seine Augen glänzten, die Stirn in Falten, die Lefzen hingen herab –, aber selbstredend seien wir ein demokratisches Betriebswesen, in dem jeder Mitarbeiter die Möglichkeit und besonders das von unserer Organisation erkämpfte Recht habe, Kritik oder Verbesserungsvorschläge einzubringen. Allerdings sei zu bedenken – er drehte sich vom leeren Bücherregal (auf dem eine undefinierbare Statue stand) schnell zu mir –, dass es in der Firma genügend Spezialisten gebe, die sich über nichts anderes den Kopf zerbrechen als über Strukturfragen und Zukunftsperspektiven, und die dafür auch gut entlohnt würden, um vieles besser als einer wie ich, und das zu Recht, da sie ja auch erheblich mehr Verantwortung als unsereins zu tragen hätten. Und wenn jetzt ein ganz normaler Angestellter, so einer wie ich, daherkomme und diesen hohen Herrn Ratschläge von seiner 2.Stock-Perspektive aus erteilen wolle, könne man sich an den Fingern einer Hand ausrechnen, dass solche Vorschläge im 4.Stock nicht auf besondere Gegenliebe stiessen (seine Stimme geradezu leidend bemüht, eindringlich zu wirken). Einer wie ich, der so ganz und gar nicht die Regeln innerhalb des Betriebes zu kennen scheine oder sie offenbar nicht einzuhalten gewillt sei, würde sehr schnell Gefahr laufen, entweder bei den routinemässig nach einer gewissen Anzahl von Dienstjahren unternommenen Vorreihungen übersehen zu werden, oder würde zumindest durch solcherlei nicht der Ordnung entsprechendes Vorgehen der Belegschaft als höchst eigenbrötlerischer, wenn nicht sogar nicht ganz voll zu nehmender Kollege erscheinen, und als schlimmstes könne man in letzter Konsequenz durch solcherlei Aktivitäten sogar den Arbeitsplatz verlieren. Aber keine Sorge: Just um mich vor solchen Gefahren zu schützen, mich vor derlei Unbedachtheiten zu bewahren, sei einer wie er, der stellvertretende Vertrauensmann ja da, noch viel eher allerdings sein Sekretär oder der stellvertretende Sekretär … – er wendete das Gesicht rasch zur Tür, als würden wir Verbotenes reden und fürchte er belauscht zu werden.

    Also – der Breitgescheitelte mit den glänzenden bräunlichen Augen setzte sich auf die Tischkante, das Lineal in seiner Hand, die Wangen hingen traurig herab –, wenn ich schon nicht umhinkäme, mir Gedanken über den Betrieb und die Zukunft der Firma zu machen, so solle ich wenigstens den dafür vorgesehenen Instanzenweg einhalten und nicht Stufen zu überspringen versuchen, denn das könnte, das wisse jedes Kind – er lachte, seine schlaffen Backen schwabbelten dabei hin und her –, zu schlimmen Abstürzen führen. Ausserdem – sein Gesicht näherte sich unangenehm nah meinem Ohr –, das wisse man doch aus eigener Erfahrung, fürchte jeder, der sich umgangen fühlt, dass man seine Tätigkeit nicht achte, ihn als überflüssig betrachte, fürchte so einer, der Beschwerdeführer würde vielleicht gar nach dessen besser dotiertem Posten trachten. Kein Wunder also, dass auf eine solche unorthodoxe Vorgangsweise von allen Beteiligten oder Zuständigen mit Ablehnung und Zurückweisung reagiert werde, und man somit der Sache, die man verficht oder zu verfechten vorgibt, solcherart weder diene,

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