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Trance
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Ebook198 pages3 hours

Trance

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Herbst 1980. Ein junger österreichischer Pianist nimmt am Mozart-Wettbewerb in Turin teil. Der Siebzehnjährige, der sein Gesicht bemalt und sich die Haare färbt, widerspricht in jeglicher Hinsicht den Vorstellungen des Institutsvorstands: "Spielt vor zwei Menschen anders als vor zehn!" – Die Lehrerin, vom großen Talent ihres Schülers überzeugt, hat ihn gegen alle Widerstände als Kandidaten des Konservatoriums durchgesetzt. In dieser einen Woche – "an diesem Donnerstag, an dem die Welt untergehen hätte können" – entscheidet sich Erich Demmlers Zukunft.
LanguageDeutsch
PublisherWieser Verlag
Release dateOct 6, 2016
ISBN9783990470459
Trance

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    Trance - Wilhelm Pevny

    Finale.

    Allegro moderato.

    Das Licht trüb, wie in einer glasbedeckten Halle. Die Schablonen vor der Sonne hin- und hergezogen, prescht es grell durch die Fenster.

    Der mit dem weissgeschminkten Gesicht, bunte Haare, blaue Lippen – Klavierkonzert in Es-Dur, Köchelverzeichnis Nr. 482, von W. A. Mozart. – Am Flügel gegenüber, die zirka Fünfunddreissigjährige: hochgeschlossenes Kleid, mitternachtsblaue Tupfen – ihre Fingerspitzen über den Tasten. Hebt sie den Kopf, lässt er die Hände sinken; die schwarzumrandeten Augen auf das Notenheft gerichtet, aus den Gelenken geschüttelte Akkorde. Reckt er den Nacken, taucht die Hand einer Zwölfjährigen neben seiner Wange auf, erfasst das Notenblatt an der oberen Kante.

    Saugt die Wolke das Helle aus dem Raum, sacken die Lichtbalken in sich zusammen. – Die Messingklinke an der weisslackierten Doppeltür: Ein schmaler, schlanker Rücken, randlose Brille, glatte, schwarze Haare. Professor Gerber hebt – entschuldigend, zum Gruss? – die Arme.

    Der Blick der Zwölfjährigen, die Augen weit geöffnet, hängt sie in der Musik, vermag sie nicht – das Notenblatt zwischen Daumen und Zeigefinger – dem Institutsvorstand sich zuzuwenden. Noch sechs, noch fünf, noch vier Takte. Der vor dem Klavier neben ihr, hennarote Haare, violette Strähne darin, er nickt. – »Der Bursche passt nicht in diese Stadt«, Monikas Vater hatte den Tabak aus der Pfeife geklopft, war aus seinem Fauteuil gekrochen. – Das Albumblatt, rasch gewendet, federt zurück. Ihre Hand – die Finger fest aneinander – streift es behutsam glatt.

    Der zweite der fünf Stühle neben der Tür. Professor Gerber, die Beine übereinander, das grosse gelbe Kuvert neben sich. Klavierkonzert in Es-Dur, zweiter Satz. An die tausend Mal habe er dieses Konzert bereits gespielt, allerdings nicht so wie dieser Kerl dort, Demmler.

    »Er spielt laut, wo leise gespielt werden muss, setzt unsinnige Akzentuierungen, die das Taktmass nahezu zerstören. Das Ganze klingt wie Schlagermusik. Ich verstehe nicht, Frau Kollegin, wie Sie diesen Akt der Verrohung gutheissen können.« – Ihre Antwort ärgert ihn noch heute: »Er verändert keine Note, keinen Takt, spielt exakt, was am Blatt steht. Aber was macht er daraus!« – Weshalb blättert heute die Schülerin Weinpert um, nicht sein Adlatus, der anhängliche Zurbriggen. Die Schülerin hat nicht gegrüsst, als er den Raum betrat. Die Wände, soweit er es von hier beobachten kann, tadellos bemalt. Das Parkett einwandfrei geschliffen, glatt versiegelt, alles so, wie er es angeordnet hatte, nur an der Stange des einen Lusters ein schwarzer Striemen, als würde er von der Flamme einer Kerze herrühren, seltsam. Dem muss nachgegangen werden.

    Der Anschlag, der Anschlag viel zu grob! Herrgott, hört sie das denn nicht, die Winkler! Unterbrechen. Unterbrechen sollte sie ihn. Nun, mir soll’s recht sein. – Der grelle Balken auf dem Karton des Kuverts leuchtet auf, erlischt wieder. – Um Bach zu spielen, müsse man weise sein, bei Mozart komme es auf die Anmut an. Für die eine Eigenschaft, ein Siebzehnjähriger zu jung, für die andere noch nicht alt genug. Er sage es immer wieder: Liszt. Rachmaninoff, seinetwegen Schumann, Tschaikowsky, Chopin sollen sie spielen, aber doch nicht um Himmels willen Mozart. Egal. In Turin, nächste Woche, ist Demmler sowieso chancenlos. Die roten Haare, das Sakko. Ausserdem gewinnt heuer ein Pole, so lässt es sich verschmerzen, dass zum ersten Mal seit Bestehen des Agnelli-Bewerbes dieser mit keinem Schüler aus der Klasse des Institutsvorstandes … – Die Triole. Weshalb paraphrasiert er die Triole wie eine Quadrill! Die Kollegin scheint zufrieden zu sein. Oh, Gott. –

    – Der Mensch in seinem Rücken. Als könnte er ihn riechen, vermöge er den neben der Tür zu spüren, rasen seine Finger über die Tasten. Ein grosser Schatten hat die Stille aus dem Gleichgewicht gebracht. Es ist nicht er, der spielt, es spielt durch ihn hindurch. Er kann sich nicht raushalten, davonstehlen – der Seiltänzer, aus der Balance geraten … Sätze seines alten Klavierlehrers. Der Wind, den man gegen die Wellen bläst, schlägt einem als Flut entgegen. –

    »Spielt vor zwei Menschen anders als vor vieren, und vor zehn anders als vor hundert«, Professor Gerber, die Gabel mit dem Fleischstück in der Hand. »Ein Pianist, der keine konstante Leistung zu bringen vermag, kann kein brauchbarer Pianist sein.« Die Augen starr auf den schweigsamen Fünfundsechzigjährigen gegenüber gerichtet: Die Präzision eines Künstlers müsse heutzutage einer Digitalanzeige gleichen. »Nicht, einmal Äpfel, dann Birnen.« Der Happen samt Gabelspitze, zum Mund. »Dieser Demmler lässt sich vom geringsten Hauch umblasen.« Als wäre der geschminkte Kerl mit dem absichtlich verschmutzten Sakko nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Gummi, oder schlimmer noch Papier! Falls man wolle, dass er schlecht spiele, brauche man nur eine unwillkommene Person im Raum platzieren – er lachte, während er das Zerkaute hinunterschluckte. – »Aber manchmal« – Professor Zynefsky, als würde er plötzlich erwachen, stiess die Gabel in die Richtung des Institutsvorstandes –, manchmal spiele Demmler gerade dann eben »so ganz besonders ausserordentlich hervorragend«.

    Granatsplitter an der Kopfhaut. Er schlägt den Kragen hoch. Die Ärmel weiss, kreidebeschmiert. Passanten starren auf seinen Rücken – Buchstaben aus durchsichtigem Tixo: »Alle..es.. Scheis..se..«, jubelt ein Zehnjähriger und läuft zu seiner Mutter zurück. Psst, wispert die im grauen Mantel, zerrt an der schmalen Hand. – UHU blinkt es gelb überm Haussims an der Ecke. – Hinein in die Fussgeherzone!

    Zieht er den Bug vor seinem Brustbein hoch, gilt es den Anprall der Wellen zu ertragen. Wesen aus verschiedenen Epochen, ineinander verkeilt: Neandertaler, vermurkst mit Marsmenschen, mühsam verbrämte Tiermenschen neben solchen voll aufgeblähter Sachlichkeit. Schleppen dort einige grölend ihre Keulen, piepsen hier andere unentwegt SOS, Weltraum!, stossen hie und dort aneinander, Geknatter, Funken sprühen. – Hat er sich angewöhnt schnell zu gehen, weiss er, dass er in einer Stadt lebt, in der man gelegentlich mit Rempeleien auf ihn reagiert. – »Jetzt überlegen Sie einmal«, Helga Winkler neben dem Klavier, drischt flüchtig den Akkord. »Warum einmal so, und dann wieder so?«

    »Bravo!« – der Institutsvorstand war aufgesprungen, »Bravo!« Das grosse gelbe Kuvert in der Hand, schritt er feierlich auf ihn zu. »Wir erwarten von Ihnen einiges, Demmler. Ich bringe Ihnen die Unterlagen für Turin. Hier die Fahrkarten, die Billets Ihrer Begleiter, Stadtpläne, Adresse des Hotels. Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, Sie persönlich zu verabschieden und Ihnen alles Gute für den Concorso zu wünschen, bei dem wir grosse Hoffnungen hegen …«

    Weshalb diese Freundlichkeiten. Hat er Angst, ich könnte den Preis gewinnen und nachher über ihn herziehen? Fürchtet Gerber, ich könnte der Presse stecken, dass er vor einem Jahr Kopenhagen verhindert hat, und ein Jahr davor Bremen und Athen … Würde der Achtundvierzigjährige nicht als einer dastehen, der einem jungen Kollegen den Weg zur Karriere verstellen wollte, die ihm selbst nicht beschieden war. Ja, in den Augen der Stadt gilt Gerber als weltberühmt, bloss weiss die Welt nichts davon. Sein Spiel, das sich vorwiegend auf die brave Ausführung technischer Schwierigkeiten beschränke, habe für London keine Bedeutung. Wie gern hätte Erich nur ein einziges Mal einen solchen Satz in den hiesigen Zeitungen gelesen – das Gegenteil war der Fall: Alexander Gerber, breit angekündigt, die Säle voll … – Hörte denn keiner in dieser Stadt (und leider auch in einigen anderen), was da vorne vor sich ging? Vierzehnjährig wetzte er in der sechsten Reihe auf seinem Stuhl hin und her: Zum Verzweifeln. Wieder einmal einen Trapezakt mit einer biederen Stadtwanderung verwechselt!

    Der Institutsvorstand über den Handrücken seiner Kollegin gebeugt, Alles Gute für die Reise! Die Mundwinkel nach oben, die Wangen zu einem Lächeln geballt, die Augen leer. Hatte sie denn nicht bemerkt, dass er alle Triolen, alle Triller falsch apostrophierte? Die Jury in Turin werde solches nicht verzeihen. Das Institut werde in Misskredit geraten, ihr Institut, für dessen Ruf er, Alexander Gerber, verantwortlich sei. Er wünschte, es könnte sich eine Gelegenheit ergeben, seine Kollegin vom Dienst zu suspendieren. Nun ja. Vielleicht war diese Gelegenheit nicht mehr allzufern.

    »Warum einmal so, und dann wieder so.« Helga Winkler, am Klavier, Solopart vom siebenundzwanzigsten bis zum vierundsiebzigsten Takt. Wahnsinnig gut. – Fragte er sich, ob er wirklich das Talent habe, das ihm einige zusprachen – so auch seine Lehrerin. Weshalb tritt sie nicht in der Öffentlichkeit auf, sie ist viel besser als alle! – Sie wiederholte einige Triolen. »Warum. Warum einmal so, und dann wieder so. Es gibt keinen Grund.« – »Ich habe es eben so gespürt. Für den Moment war es richtig. Und nichts anderes zählt.« – »Wollen Sie sich bitte an das halten, was im Notenbild verzeichnet ist!« – Sie, die ihm stets grösste Freiheiten liess und falls sie anderer Auffassung war immer argumentierte, heute forderte sie! – Missmutig stapft er am Fischgeschäft an der Ecke vorbei. – Gerade jetzt lasse sie ihn im Stich! Sie habe Angst um ihren Ruf. Quatsch. Er hatte sie blossgestellt. Hatte sie denn nicht immer wieder versucht, das Tempo des dritten Satzes zu verlangsamen, habe er es aber nicht zugelassen. Hab’ ich denn eine andere Wahl gehabt! Versteht sie denn nicht? Gerber! Weshalb fällt sie mir gerade jetzt in den Rücken, verlässt sie ihr Mut? – Ist sie ihm denn in den Rücken gefallen? Sie hatte ihre Kritik erst geäussert, nachdem Gerber draussen war.

    Das Ungetüm lässt ihm keinen Platz, bohrt sich den modrigen Gang entlang. Er stolpert, kämpft an gegen den Drall. Dichte Schwaden drücken gegen das Trommelfell. Die fahle Wolke, träge unter dem Gewölbe. Nackter roter Ziegelbogen: Mörtel hängt lose in den Fugen, kurz vor dem Fall. – Fäuste dreschen auf Gitarren ein (fleischige Mutterhände auf Kinderärsche in Gemeindebauten). Nicht auszuhalten. Hinaus! – Verflucht sei meine Empfindlichkeit! – Den Schmerz ertragen, koste es was es wolle; sich auf die Kiste setzen, Christian zunicken und warten, bis Stevies Blick den seinen trifft.

    Du fährst auf der Autobahn

    in ’nem heissen Ding

    Du fährst auf der Autobahn

    mit hundertsiebzig dahin

    Du sitzt in deiner Kapsel

    es ist wie im Film

    Doch plötzlich geht das Licht an, und du siehst:

    Du sitzt in der Scheisse!

    Massen von Flüssigkeiten in ihm, droht er zu zerplatzen. Eine seltsame Erregung. Steigert sich zur Empörung. Glitzernde Gegenstände aus dem Dunkel. Blanke Klingen im Mondlicht. Verdammt, wie gut, wie gut konnte Christian spielen! Wäre er nicht in diesem Scheisskaff von Puffland, er wäre schon längst ganz oben. Ganz oben. Stevie verdrischt das Schlagzeug. Übt stundenlang den gleichen Takt, immer wieder, die Muskeln müssen sich stärken. Christian hackt täglich vier Stunden an der Gitarre herum, Barré, immer wieder den gleichen Griff, und er, Erich Demmler, sitzt die halbe Nacht am Klavier, fünfzigmal dieselbe Passage, hundertmal. Warum? Ist da was drin in ihnen, das raus muss! – Ja, man kann auch anders, denkt er, klein beigeben, mittrotten, aufgeben. Aber, verdammt nochmal, dafür war ihm sein Leben zu schade. Vor dem Abtritt, der Welt noch eins hinfurzen, und die da, die da vor ihm in ihre Instrumente hauen, die wollen dasselbe.

    Durchkommen, durch die fette Mauer, die in dieser Stadt so ganz besonders dick ist; reizt es sie gerade deswegen, sich in dieser Stadt aufzuführen, oder ist es … ist es Bequemlichkeit, die sie hier festhält, hat sich der fette Arm schon längst um seinen Hals gelegt?

    Stevie grinst. – Erich fühlt sich ertappt: blöder Gesichtsausdruck … bei den Gedanken, die er wälzt! Er versucht zu lächeln, lacht. Verärgert hebt Franz den Bass hoch, knallt ihn an die Wand, die Akkorde zerfallen, Katzengeheul. Dem Irokesen sind die Harmonien zu kompliziert – rücklings an der Ziegelwand, tritt er gegen den Stuhl. Christian fummelt am Verstärker rum: Kreischender U-Ton. Stevie reisst die Hände in die Höhe, endlich findet Chris den Regler: »Wir können nicht ewig so weitermachen, immer nur hämmern. Ich bin keine Maschine.« – »Alles ist Scheisse« – will Brian einen anderen Namen für die Band. Die Grifftechnik muss verbessert werden (Christian); die Texte anspruchsvoller sein (Stevie). Angeekelt lehnt Franz an der Mauer – weiss der Irokese ganz genau, wer dahintersteckt: sitzt da im Proberaum, glotzt schleimig vor sich hin, dieser Klavierspieler, Mod, Popper, da könne er noch so punkig tun. Sohn aus reichem Haus. Auch wenn mit dem Vater zerstritten, im Notfall stehe ja doch in Hietzing oder Döbling sein gemachtes Bett.

    Oh, Franz kennt sie, die Brut. Nichts ist ihnen radikal genug, solange es nicht um den eigenen Sack geht. Klassische Musik! Hat ihn nicht schon der fette Doolittle seinerzeit mit Beethoven genervt? Mit Stinkbomben haben sie ihn aus dem Klassenzimmer gejagt. Punk rules. Sogar die Bullen haben gepasst. Hatte er doch tatsächlich die Schweine geholt, der Fette mit dem roten Parteibuch. Von Brüderlichkeit quatschen, und die holen. Das ist ihre Kultur. Typisch. Alles Scheisse. Gehört weggeräumt. Scheiss Ruhm. Scheiss Geld. Ist ihm die Tournee wurscht. Um die Geräte geht’s. Ohne Chris keine Verstärker, ohne Stevie kein Schlagzeug. – Verbesserung der Grifftechnik, anspruchsvolle Texte, Bürgersöhnequatsch! Vier Griffe und Ausdauer, das einzige was zählt. Johnny Rotten, Sid Vicious, alles andere, Verrat. Power. Power. Scheiss Grifftechnik – Zieht der Indianer Erich die Kiste unterm Hintern weg, schleudert sie gegen die Wand. »Tastenklimperer« – der Tritt gegen die Kellertür, draussen ist er.

    Neben Stevie die Mariahilferstrasse hinauf. Vor dem Musikhaus Bauer bleiben sie stehen: der weisse Petrov-Flügel in der Auslage. Was für eine Wohltat verglichen mit dem Ehrbar-Pianino seiner Tante. (An den Bösendorfer in der Villa seines Vaters will er gar nicht denken!) Stevie kriegt den Blick vom Schlagzeug nicht weg. Bei der Bank gegenüber zahlt er die Raten für seine Drums ab. Die Pneus eines Taxis klatschen schmutziges Wasser aus dem Rinnsal: Hosen und Jacken mit Spritzern übersät. Statt der geballten Faust, Gelächter. Als würde es ihnen jemand befehlen, wenden sie sich gleichzeitig von der Auslage weg, streben wortlos weiter.

    Mondsicheln, triefende Pflastersteine. Die Schuhabsätze hallen durch den Innenhof. Hinten die braune morsche Holztür – das Glas über der Klinke zerbrochen, seit Jahren schon. Über dem Steinsims eine ehemals weissemaillierte Tafel: Stiege II. – Gelbgraues Licht explodiert, vertreibt blitzartig die Dunkelheit. Speckige Steinstufen drehen sich vor ihnen steil hinauf – abgetreten, wellig. Wie viele Tritte im Lauf der Jahre, Schuhe, bunte, dunkle, Leder, Stoff, Stiefel, Stöckelschuhe, Sandalen, mindestens hundertvierzig Jahre lang, Kinderfüsse, Sohlen alter Weiber, Hausfrauen, Ärzte, Postbeamte, Kontoristen, Polizisten, Leichenbeschauer, Gerichtsvollzieher, Finanzbeamte, Bauarbeiter, Frauen, immer wieder Frauen, Kinder, heute schon längst tot, treppauf, treppab. Überall Staub in den Fugen: Dünen für Spinnen. – Stevie greift zum Gangfenster hinein, fingert nach dem Schlüssel, hält ihn – eins, zwei, drei – triumphierend in der Hand, findet aber nicht sogleich das Schloss. Endlich knackt es. Grinsend dirigiert er ein paar Takte, dann sein Griff hinter den Türrahmen. – Abrakadabra: Voilà, der Kloschlüssel! Er reicht ihn Erich.

    Klirrende Kacheln … Die braune abgeschabte Tür, darüber die schmutzige Scheibe hell. Jemand hat vergessen das Licht abzudrehen. – Drinnen der übliche Gestank. (Neben der Klorolle »Pospischil« – die Nachbarin markiert den Abriss. Sie hom scho wieda mei Klopapia vawendt!) – Die Brille auf der Muschel, ein Schock für die nackte Haut. Eiskalter Luftzug. Muss er warten. Viel zu lange. Scheiss’ schneller, Genosse! Die Kälte beisst. – Endlich der Griff zur Kette, es kracht, das Spülbecken zittert. Wassermassen schiessen den Abfluss hinab, reissen alles mit sich fort. Gut so, denkt Erich, während er die Hose hochzieht. Gut so.

    In der Küche, die nackte Glühbirne. Die Kredenz – abgesplitterte Lackkrusten. Bekleckerte Pfannen, Speisereste auf gestapelten Tellern, grindig das Waschbecken; auf dem Linoleum trockene Brotkrümel, in der Ecke ein Papierknäuel. Für heute und die nächsten Tage wissen sie, wo sie die Nacht verbringen: Charly ist bei Gisela und kommt erst Anfang nächster Woche zurück. (Zu Stevie können sie nicht, seine Wohnung bis auf weiteres von der Schwester belegt.) – Die Matratzen am Boden feucht. Aus den Lautsprechern: Alles ist

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