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Nordrhein-Westfalen: Ein Land blickt nach vorn
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Ebook417 pages4 hours

Nordrhein-Westfalen: Ein Land blickt nach vorn

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Dieses Buch stellt das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands in Geschichte und Gegenwart vor. Alle wichtigen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekte von Regierung und Parteien über Verwaltung, Verbänden, Vereinen und Initiativgruppen werden prägnant geschildert. So werden die Wurzeln der nordrhein-westfälischen Landesgeschichte und die Verzweigungen der Gegenwart nachvollziehbar erklärt.
Professor Dr. Ulrich von Alemann hatte einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf inne und ist aktiv in der Publizistik und Politikberatung.
LanguageDeutsch
Release dateAug 17, 2016
ISBN9783170241930
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    Nordrhein-Westfalen - Ulrich von Alemann

    Einleitung: Ein Land entdeckt sich selbst

    Ein Land hat sich gefunden. Aus dem provisorischen Bindestrichland der Nachkriegszeit – von der britischen Besatzung am Reißbrett schnell zusammengeklammert – ist eine europäische Kernregion erwachsen. Es ist ein Land der Großindustrie und des Mittelstandes, der ländlichen Idylle und der Großstädte, der Technologie und der Kultur: Es ist ein Land der vielen Gesichter.

    Die Gesichter gehören zu Menschen, die gern hier leben. Auch im Ruhrgebiet, das sicher ein starkes Stück ist, wie es sich in seiner Werbung nennt. Aber trotz aller Hochglanzprospekte kennt es auch seine Schmuddelecken und Problemzonen. Es will sie nicht verleugnen. Trotzdem lieben es die Leute, wenn „der Pott kocht": auf Schalke oder beim BVB, bei Herbert Grönemeyer in der Westfalenhalle oder auf der Cranger Kirmes.

    Westfalen und Rheinländer, Lipper und Siegerländer, Bergische und Öcher (d. h. Aachener) kennen weiterhin ihre eigenen Traditionen, aber sie bekennen sich auch zu ihrem Bundesland. Sie haben eine Landesidentität, ein Wir-Gefühl gefunden, das nicht eindimensional sein muss. Warum soll man nicht Kölner, Rheinländer und NRWler gleichzeitig sein? Natürlich auch noch Deutscher und Europäer dazu. Oder Dortmunder, Westfale und Nordrhein-Westfale in einer Person? Das klappt offenbar immer besser. Auch wenn manchmal der Kölner mit dem Rheinländer und dem Sauerländer streitet, beispielsweise ob Altbier aus Düsseldorf, das Kölner Kölsch oder das Pils das beste Bier sei.

    Diese Vielfalt als einen Grundzug des Landes abzubilden, das habe ich mir mit diesem Buch vorgenommen, um damit ein Stück Einheit zu zeigen. Als dieses Buch im Jahr 2000 zu ersten Mal veröffentlicht wurde, fanden wir ein Land im Umbruch und im Aufbruch vor: von Bonn nach Berlin, von der D-Mark zum Euro, vom Wohlfahrtsstaat zum aktivierenden Staat, von der Residenz des preußischen Provinzhauptmannes in das futuristische stahl-gläserne Stadttor der neuen Staatskanzlei, vom 20. ins 21. Jahrhundert. Jetzt im Frühjahr 2016 ist überraschend vieles anders geworden, aber das Grundmuster schimmert immer wieder durch: Nordrhein-Westfalen ist ein Wirtschaftsmotor und zugleich das soziale Gewissen Deutschlands geblieben. So war es schon unter Karl Arnold dem ersten gewählten Ministerpräsidenten des Landes, und so wird es bleiben. Selbst im beginnenden Wahlkampfgetöse vor der Landtagswahl im Mai 2017 halten beide großen Landesparteien an dieser Doppeldevise fest. Das Land blickt nach vorn – mit manchen bangen Gedanken angesichts der europäischen Flüchtlings- und Klimakrise, der Kriege und der unsicheren Aussichten, aber auch mit Zuversicht, denn die wirtschaftliche Lage ist viel besser als sie seinerzeit war.

    Was will das Buch?

    Das Buch soll NRW darstellen, wie es lebt. Kein betuliches Lehr- und Schulbuch älteren Stils, keine „Landeskunde belehrenden Charakters für den Gebrauch in Schulen und als Handreichung für Lehrer. Es soll eher ein politisches Sachbuch sein, das locker geschrieben ist, Stellung bezieht und Perspektiven aufzeigt. Also nicht in der berühmt-berüchtigten „Ausgewogenheit aller Positionen bis in die Zehenspitzen aller Fußnoten, aber natürlich überparteilich, fair und zuverlässig in der Information. Auch nicht wissenschaftlich über-bemüht in Jargon und Anmerkungsapparat, aber: solide und gut recherchiert. Es ist gedacht für die politische Bildung neuen Stils: Eher pointiert, und es darf auch ein bisschen unterhaltsam sein, statt mit dem pädagogischem Zeigestock zu wedeln. Keine Staatsbürgerkunde für das Bücherregal, sondern ein nützliches Produkt für die Bürgergesellschaft, das wirklich gelesen wird. Wir haben einige Lieder und Gedichte in den Text gestreut, die alle vom Land Nordrhein-Westfalen, seinen Menschen und Landschaften handeln, um ihn aufzulockern, ihn heiterer und auch nachdenklicher zu machen. Hier ist eine Kostprobe.

    Wendelin Haverkamp

    Oh Enerweh!

    Oh Enerweh, du schöne Fee

    Mit dem grünroten Dekolleté

    Wo nix zusammenwachsen muss

    Schon gar nicht unter’m Reißverschluss

    Oh Enerweh, im Portemonnaie

    So nackend wie ein junges Reh

    So bar nun jeglicher Kohlé

    Oh Enerweh, einst schwarz wie Schnee

    Es oh! Es lebt sich gut in dir

    So ohne Hymne zum Klavier

    So ohne Fahne und Armee

    Mein friedliches mein Enerweh

    Oh hoffentlich äh bleibst du so

    Du Bauspar-Flachdach-Bungalow

    Oh Enerweh, du mein Zuhaus

    Hier ziehe ich die Schuhe aus

    Du guckst mir schweigend dabei zu

    Und lässt mir zweifach keine Ruh

    Oh Enerweh, mein Bindestrich

    Du ahnst es nicht – ich liebe dich

    Quelle: Wendelin Haverkamp: Oh Enerweh! In: Hier ziehe ich die Schuhe aus. Geschichten zum 60. Geburtstag von Nordrhein-Westfalen. Köln 2006.

    Das ist ein großes Programm. Mir wird angst und bange bei den hohen, selbst gesetzten Zielen. Ob es gelungen ist, werden die Leserinnen und Leser entscheiden. Aber immerhin steht schon jetzt fest: Es hat Spaß gemacht. Die Leitidee war und ist es, ein NRW-Profil herauszuarbeiten. Was ist das Spezifische an diesem Land? Wie hat es seine Identität gefunden? Was für Diagnosen und Prognosen lassen sich für seine Entwicklungschancen stellen? Alle Interessierten und Engagierten an der Landespolitik sollen so erreicht werden, Schülerinnen und Schüler genauso wie ihre Lehrerinnen und Lehrer, Studierende und Wissenschaftler und natürlich auch die Politiker und Politikerinnen auf allen Ebenen, vom Gemeinderat bis zum Landtag. Die Fachleute und Experten sind nicht meine Zielgruppe, für sie gibt es jede Menge Fachliteratur, sie werden hier nichts grundsätzlich Neues erfahren. Denn ich will das Wissen über NRW zusammenfassen und bündeln, aufbereiten, würzen und abschmecken, aber nicht ganz neu erfinden.

    Dieses Buch wird also keine Neuauflage des verdienstvollen „Nordrhein-Westfalen: Eine politische Landeskunde" sein, das von der Landeszentrale für politische Bildung schon 1984 herausgegeben wurde. Am Ende dieses Buches finden sich zur weiterführenden Lektüre ein Literaturverzeichnis nützlicher und einschlägiger Werke über Nordrhein-Westfalen, sowie ein Linkverzeichnis mit weiterführenden Hinweisen, die Schneisen schlagen in den unendlichen Dschungel des Internet.

    Mein Buch soll nicht den anderen jüngeren Bänden Konkurrenz machen, die hervorragende Informationen zum Land bieten. Ich habe nicht den Ehrgeiz einer Enzyklopädie, sondern will ein politisch profiliertes Sachbuch vorlegen, das in fünf Hauptteilen Akzente setzt, aber nicht jedem alles bringen wird. Lassen Sie mich diese Teile kurz vorstellen.

    Ein Land findet seine Identität

    An der Wiege von NRW, genauso wie an der des modernen Europa, stehen Kohle und Stahl. Sie bestimmten in der Nachkriegszeit das Schicksal des Landes, die Überlegungen der britischen Besatzungsmacht zum Zuschnitt des Landes und auch die Wurzeln des vereinten Europa mit der Schaffung einer europäischen Montanunion, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1951. Rust belt, Rostgürtel nennt man in den USA die altindustrielle Krisenregion von Stahl und Kohle. In den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg war das noch ganz anders. Das Ruhrrevier, unser Rust belt, war Motor des Wirtschaftswunders: Kohle brachte die Energie, Stahl war die wichtigste Schlüsselindustrie. Die Leistungsfähigkeit von Staaten wurde noch lange nach ihrer Stahlproduktion bewertet.

    Diese Nachkriegsgeschichte mit der Bildung des Landes, seiner Formierung sowie den Hauptstufen der Entwicklung nachzuzeichnen, ist keine leichte Aufgabe, will man allem Wesentlichen gerecht werden. In der Politik entstand zunächst eine lange CDU-Hegemonie, begründet vom ersten gewählten Ministerpräsidenten Karl Arnold, später, nach kurzem Intermezzo, fortgeführt durch Franz Meyers. Mit Heinz Kühn begann 1966 die Dominanz der SPD, die auch unter seinen Nachfolgern Johannes Rau, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück anhielt. Unterbrochen wurde sie durch Jürgen Rüttgers mit einer CDU-FDP-Koalition, die 2010 durch eine rot-grüne unter Hannelore Kraft (SPD) und Sylvia Löhrmann (Grüne) abgelöst wurde.

    Noch schwerer ist es, Land und Leuten, Landschaft und Landsmannschaften gerecht zu werden, denn die Vielfalt des Landes ist sein Hauptkennzeichen. Trotz der Vielfalt hat sich eine erstaunliche Landesidentität gebildet, gefördert durch alle Landesregierungen. Ein Land hat sich gefunden, so lautete unser Untertitel damals für die erste Ausgabe des Buches im Jahre 2000. Das ist nun schon Geschichte. Jetzt blickt das Land nach vorn.

    Ein Land regiert sich selbst

    Ob in den Räten von Gemeinden, Städten, Kreisen oder im Landtag – auf allen Ebenen des politischen Systems vertreten gewählte Bürgerinnen und Bürger die Interessen von Bürgern. Aber damit nicht genug. Durch Volksentscheide auf Landesebene und Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene kann der Bürger die Entscheidungen selbst in die Hand nehmen. Hier ist allerdings noch viel im Fluss. Die Gesetzgebung in NRW ist recht restriktiv, was die Zulassung von Plebisziten angeht; die Hürden für Unterschriftenlisten, Abstimmungsquoren, Ausschlusstermine und Themenausschlüsse sind immer noch hoch. Hier ist die Debatte im Landtag im vollen Gange, eine Verfassungskommission tagt, die noch vor Ende der Legislaturperiode zum Abschluss kommen will.

    Der Landtag in Düsseldorf vertritt die Volkssouveränität und dies in einem modernen Gebäude mit viel Glas am Rheinufer, damit die Bürger der Politik zuschauen können. Im Bundesvergleich soll der Landtag NRW das fleißigste Landesparlament sein, was den Ausstoß an Gesetzen und das Abhalten von Sitzungen angeht. Dennoch beklagen sich viele Abgeordnete, dass die Exekutive, also die Landesregierung, den Landtag zu stark gängele und bevormunde. Richtig ist, dass überall in Deutschland die Bedeutung der Parlamente und erst recht die der Landtage schrumpft.

    Die Landesregierung wollte in Sachen Transparenz nicht nachstehen. Und so zog die neue Staatskanzlei unter Ministerpräsident Clement in das „durchsichtige" Stadttor, ein Hochhaus aus Glas und Stahl über der Einfahrt zum Rheinufertunnel, am Rande der Innenstadt. Das ist nun bald 20 Jahre her. Gibt es mehr Transparenz des Regierens? Die Opposition bezweifelt das, und das ist auch ihre Aufgabe. Es wird spannend zu sehen, ob im Sommer 2016 die Parteien im Landtag den großen Wurf mit ihrer Verfassungsreform hinlegen, oder ob es nur ein Würflein werden wird.

    Alle diese politischen Institutionen werden von Personen getragen, und diese werden in unserer pluralistischen Demokratie von den politischen Parteien nominiert und rekrutiert. Trotz aller Debatten um Parteienverdrossenheit: Politische Willensbildung muss organisiert werden, damit nicht das blanke Chaos herrscht. Parteien sind deshalb unverzichtbar, auch wenn sie immer zu inneren Reformen bereit sein müssen, um den Bürgerwillen angemessen abzubilden. Denn dazu sind sie da. Nicht für sich selbst. Sie sind nur Instrumente für die Selbstregierung des Volkes.

    Ein Land entdeckt seine Potenziale

    NRW hat in den letzten Jahrzehnten einen Modernisierungsschub erlebt, dass es einem schwindelig werden kann. „Strukturschwäche und „Strukturwandel sind deshalb die meistgebrauchten Vokabeln in allen Abhandlungen, die sich mit der Wirtschaft des Landes befassen. Der Montanbereich ist geschrumpft, aber nicht verschwunden, da Stahl weiterhin ein Rückgrat der Industrie bleibt; der Steinkohleabbau läuft 2018 aus, aber der Bergbau hat erfolgreich Ausrüstungsindustrien und Umweltschutzinvestitionen angeregt. Die Zukunft der Braunkohle sieht düster aus. Fährt man mit der Straßenbahn in den großen Ruhrgebietsstädten vom Süden nach Norden, so hat man den Wandel vor Augen, wenn man aus dem Seitenfenster schaut. Im Süden attraktive, gemischte Wohn-/Gewerbegebiete mit Dienstleistungsfirmen, im Norden dominiert immer noch etwas Stahl, viel Chemie und viel produzierende Industrie, die Wohnquartiere in bescheidenem bis mehr als bescheidenem Zustand.

    Aber auch hier tut sich etwas. Die Internationale Bauausstellung Emscher Park (IBA) hat sich gerade diesen Problemzonen angenommen und vorbildliche städtebauliche Lösungen realisiert. Und natürlich ist NRW nicht gleich Ruhrgebiet. Landwirtschaft im Münsterland, Textilindustrie in Gronau oder Mönchengladbach, die sich ebenfalls gesundschrumpfen musste, aber auch die schillernde Medienindustrie an der Rheinschiene komplettieren das Bild einer Industrielandschaft im Umbruch und Aufbruch. Nordrhein-Westfalen bleibt das exportstärkste Bundesland in Deutschland mit rund einem Viertel aller deutschen Ausfuhren insgesamt. Wichtigste Handelspartner sind die Mitgliedsländer der Europäischen Union. Die Produktpalette nordrhein-westfälischer Exportgüter spiegelt die Wirtschaftsstruktur des Landes ziemlich entsprechend wider.

    Im europäischen Vergleich steht NRW gut da. Seine Wirtschaftskraft ist sogar erheblich höher als die vieler kleinerer europäischer Staaten. Insgesamt hat sich Nordrhein-Westfalen von einem Land von Kohle und Stahl zu einem Land nach Kohle und Stahl verwandelt. Die Zukunft des Landes liegt in einem expansiven Dienstleistungssektor, einschließlich der Medien und der Kommunikationstechnologien.

    Ein Land bildet sich

    Die „Wissensgesellschaft" ist die neueste Gesellschaft, zu der wir alle streben sollen, nach der Industrie-, Arbeits-, Dienstleistungs-, Risiko-, Informations- oder Erlebnisgesellschaft und wie sie alle heißen. Sicher ist richtig, dass Bildung, Weiterbildung, Wissenschaft, Forschung und angewandte Entwicklung die Zukunftsmotoren gerade auch der europäischen Gesellschaften im weltweiten Konkurrenzkampf der Globalisierung sein werden. Ist NRW dafür gewappnet?

    Bildung, Wissenschaft und Forschung sind jedenfalls die dicksten Etatposten im Landeshaushalt. Die Schulen reklamieren davon den größten Anteil, muss doch das Land die enorme Zahl von 194 800 Lehrern besolden. Trotzdem ist es nie genug, das Lehrerkollegium würde man sich jünger, die technische Ausstattung der Schulen besser wünschen. Eine Besonderheit von NRW ist der breite Ausbau der Gesamtschulen, einst geplant als die flächendeckende Einheitsschule der Zukunft, und nicht mehr Experimentier- oder Restschule, wie in manchen anderen Bundesländern, aber nun doch anerkannte Ergänzungsschule. Das Gymnasium als weiterführende Schule war nicht zu verdrängen. Im Gegenteil, es steht heute stärker und für eine breitere Schülerschaft da denn je.

    Die Welt beneidet Deutschland um sein duales System der Berufsausbildung mit staatlicher Berufsschule und betrieblicher Lehre nebeneinander. Im Land selbst ist die Euphorie gebremst. Lehrstellenstandards und Berufsschulalltag können beide optimiert werden. Aber ein erstaunlicher Wandel liegt darin, dass vor 15 Jahren Lehrstellen rar waren, jetzt dagegen werden nicht alle besetzt. NRW ist stolz auf eine der dichtesten Hochschullandschaften Europas. Zahlreiche Neugründungen (besonders auch die früheren Gesamthochschulen jetzt Universitäten und die Fachhochschulen jetzt Hochschulen genannt) und die Fernuniversität bilden eine bunte Palette. Auch hier herrscht viel Frust und Debatte im Land über Sparmaßnahmen und Strukturveränderungen. Ein Blick über den Tellerrand in andere Bundesländer oder Nachbarstaaten würde lehren, dass die Einschnitte dort viel drastischer sind.

    Bildung ist auch Kultur, und Kultur bildet. Jetzt muss endgültig der Holzschnitt statt des Gesamtpanoramas die Darstellung prägen: Zu vielfältig ist das Bild. Große Oper und kleines Kellertheater, Rockband und Philharmonie, Männergesangverein und kabarettistisches Affentheater, die Aufzählung würde Bände füllen. Genau das ist vor Jahren gemacht worden, eine penible Bestandsaufnahme des Kulturschaffens in NRW. Ergebnis war die Erkenntnis, dass die Kultur auch ein immenser Wirtschaftsfaktor und ein Arbeitsplatz für Hunderttausende ist.

    Nicht nur die Hochkultur, auch die Freizeit ist ein Bildungsfaktor und damit ein Standortfaktor. Ob Phantasialand oder Starlight-Express, Eifelwanderung oder Kururlaub in Bad Salzuflen: Nordrhein-Westfalen ist ein Freizeit- und Urlaubsland. Erst recht, wenn wir den Sport auch noch zur Freizeit rechnen. Der spielt eine Hauptrolle bei Millionen Aktiven in den Vereinen und auf dem Platz, auf den Rängen im Stadion, wenn in der ersten Fußballbundesliga Millionäre einlaufen, und natürlich auch auf den Kegelbahnen unter den Bierlokalen, wo es nur darum geht, wer die nächste Runde bezahlt. NRW ist ein Vereinsland. Kaum irgendwo sonst ist die Vereinsdichte so hoch.

    Ein Land verflochten mit Berlin und Brüssel

    Die natürliche Nähe von NRW zum Bund, die sich aus den Bonner Bundeshauptstadt-Zeiten in der Rolle der NRW-Landesvertretung beispielhaft äußerte, wird es so nicht mehr geben. Die Möbelwagen sind aus Bonn nach Berlin gefahren. Aber als bevölkerungsreichstes Bundesland hat das Land natürlich seinen Einfluss nicht verloren. Das gilt auch für die sechs Bundesratsstimmen, die ihm nach der Verfassung zustehen. Der deutsche Föderalismus war immer ein fragiles und gleichzeitig flexibel-stabiles Gebilde, eine Art Mobile, grazil schwebend, aber aus Stahldraht. Er wird sich weiterentwickeln, aber für radikale Reformen ist er viel zu vernetzt und miteinander verkoppelt.

    Die europäische Integration macht alles noch viel komplizierter. Hier herrscht auch eine Art Föderalismus, aber ähnlich wie im Bismarck-Reich einer von Gnaden der Fürsten respektive dem Rat der Minister und den Gipfeltreffen der Regierungschefs, vom Parlament zwar immer besser kontrolliert, aber nicht parlamentarisch bestimmt. Die Länder haben nach Maastricht und erst recht nach dem Vertrag von Lissabon massive Kompetenzgewinne erringen können, aber kein „Europa der Regionen erhalten. Im Gegenteil: die Nationalstaaten wollen Rechte zurückerhalten. Gewinner und Verlierer des Integrationsprozesses stehen angesichts einer Debatte vom „Grexit zum „Brexit" noch nicht fest.

    Jedenfalls war es interessant zu beobachten, wie die Konkurrenzländer NRW und Bayern, die sich oft spinnefeind sind, wenn nationale Töpfe geleert werden sollen, an einem Strick in Brüssel, Maastricht, Amsterdam oder Lissabon zogen: Sie haben ein gutes Stück Boden gewonnen, was die Mitwirkung der Länder an europäischer Politik und sogar der Anerkennung der Gemeinden betrifft. Kurzum: Mögen die in Berlin, Brüssel oder Straßburg regieren, am Rhein wird auch weiter Staat gemacht.

    Der national-romantische Dichter Ernst Moritz Arndt veröffentlichte 1813 eine Schrift mit dem programmatischen Titel: „Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze. Wie Recht er hatte, aber ganz anders als Nationalisten und Chauvinisten 150 Jahre lang eiferten. Endlich ist er eine friedliche internationale Wasserstraße und bedeutendster Verkehrsweg der europäischen Binnenschifffahrt. Von Basel vorbei an Straßburg, Mainz, Bonn, Köln und Duisburg bis Rotterdam. Aber keine „Gränze, wie auch die Elbe nicht mehr. Manche Selbstverständlichkeiten des friedlichen Zusammenlebens muss man sich immer wieder bewusst machen.

    Teil I

    Ein Land findet seine Identität

    An der Wiege des modernen Europa stehen Kohle und Stahl. Denn die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Montanunion durch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahre 1951 gilt als der „integrationspolitische Startschuss" zu einer supranationalen Einigung Europas unter Einschluss Deutschlands. Einige visionäre europäische Politiker sahen in dieser Zeit voraus, dass die Integration der Schlüsselindustrien Kohle und Stahl eine Vorbedingung für Sicherheit und Wohlstand in ganz Europa sei. Und an dieser Wiege Europas steht das Land Nordrhein-Westfalen. Trotz Kriegszerstörungen und Demontage ballte sich im Ruhrrevier immer noch der größte zusammenhängende Raum der Montanindustrie – vor dem Saarrevier, der belgischen Wallonie, dem französischen Lothringen, vor Luxemburg und auch Oberitalien.

    Die europäische Dimension bestimmt heute alle Lebensbereiche. Doch mit der Stärkung übernationaler Zusammenhänge werden auch die kleineren, regionalen und lokalen wieder wichtiger. Denn es ist das Dilemma der Nationalstaaten, dass sie für die großen Probleme zu klein und für die kleinen zu groß sind. Deshalb war lange das Schlagwort vom „Europa der Regionen" so populär, auch wenn diese Regionen in den Zeiten globaler Probleme eine immer geringere Rolle spielten. Keine zentrale Bürokratie, ob in Brüssel oder Berlin, gibt gerne Kompetenzen ab. Damit Entscheidungen, die auf unteren Ebenen gefällt werden können, auch wirklich verstärkt auf diese Ebenen verlagert werden – frei nach dem viel beschworenen Subsidiaritätsprinzip – wird es weiterhin viel Druck und Kraft der Länder und Regionen bedürfen.

    Das Land Nordrhein-Westfalen präsentiert sich als eine hochindustrialisierte, stark bevölkerte europäische Kernregion. Das trifft in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, aber auch in kultureller Hinsicht zu. Im Übrigen ist Nordrhein-Westfalen – bzw. sein historisches Landesgebiet – für Europa schon immer bedeutend gewesen. Aachen war schon unter Karl dem Großen eine europäische Hauptstadt, Köln im Mittelalter eine europäische Metropole. Die geopolitisch wichtige Lage des Hellwegraumes, einer uralten Verkehrsverbindung zwischen dem Rhein und der Elbe, als Verbindungslinie zwischen Ost- und Westeuropa versucht gerade wieder, an historische Vorbilder anzuknüpfen. Die Diagonale Aachen-Köln-Dortmund-Soest-Paderborn-Höxter mit ihren Verlängerungen nach Osten und Westen war schon in früheren Jahrhunderten ein wichtiger Handelsweg, und seit der Öffnung Osteuropas ist sie wieder eine zentrale europäische Verkehrsachse geworden.

    So findet sich Nordrhein-Westfalen heute geografisch und geschichtlich, wirtschaftlich und auch kulturell in der Mitte Europas wieder. Nach der deutschen Vereinigung und der Verlegung des politischen Zentrums vom beschaulichen Bonn ins urbane Berlin hat sich aber auch die Frage nach der künftigen Ausrichtung des Landes innerhalb Deutschlands und innerhalb der Europäischen Union gestellt. Die Grenzen zu den niederländischen und belgischen Nachbarn sind durchlässig geworden: für Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Finanzverkehr genauso wie für Gedanken, Emotionen, Bindungen und Interessen. Seit dem Schengener Abkommen braucht der Autofahrer von Emmerich nach Arnheim nicht einmal mehr anzuhalten. Wird Nordrhein-Westfalen nun (west-)deutsche Peripherie oder eine europäische Region erster Güte mit enger Bindung an den Beneluxraum? Jedenfalls liegen Paris, Brüssel oder Amsterdam räumlich näher als Berlin oder München.

    Im ersten Kapitel werden wir ein Profil des Landes mit seinen vielfältigen Facetten zeichnen. Zunächst folgt ein knapper Überblick über die neuere Landesgeschichte. Dabei rufen wir manche Aspekte in Erinnerung, die heute fast in Vergessenheit geraten sind. Beispielsweise in wirtschaftlicher Sicht die Tatsache, dass NRW nicht immer als Krisenregion galt, sondern in der Frühzeit der bundesdeutschen Geschichte als „Schwungrad das Wirtschaftswunder antrieb. Oder in politischer Sicht, dass Nordrhein-Westfalen sich traditionell eher als „konservatives Land gerierte und auf regionaler und kommunaler Ebene vielfach immer noch ist, beispielsweise in den linksrheinischen Gebieten, im Münsterland oder in der Eifel. Wenn es vielen jüngeren Menschen heute schwer fällt, sich an die Zeit der Kanzlerschaft Helmut Kohls zu erinnern, um wie viel schwerer muss es da sein, sich die Zeit vor der SPD-Vorherrschaft in NRW zu vergegenwärtigen: Die CDU-Hegemonie im nordrhein-westfälischen Landtag, die bis 1966 währte, scheint in weite Feme gerückt. Die Christdemokraten haben mit der Landtagswahl von 2005 die SPD-Dominanz unterbrochen, Rot-Grün konnte die Landesregierung 2010 zurückgewinnen und hat sie seitdem nicht mehr verloren.

    Land und Leute in ihrer Vielfalt zu schildern, nicht mehr und nicht weniger habe ich mir mit diesem Kapitel vorgenommen – natürlich nicht als großes Panorama, sondern als kleine Skizze auf begrenztem Raum. Dazu gehören die Landschaften und ihre Bewohner, die Rheinländer und die Westfalen (und die Lipper!), aber natürlich auch die Neubürger und Zugezogenen, die Gäste und Gastarbeiter, die Migranten und Flüchtlinge, die sich seit den Zeiten der römischen Garnison immer wieder hier niedergelassen haben.

    Soviel zur Vielfalt, aber wie steht es mit der Einheit? Was hält NRW zusammen – über den Bindestrich zwischen Nordrhein und Westfalen hinaus? Ist das Land ein farbloses Bindestrichland geblieben, in dem sich jeder nur zu seiner Teilregion oder seinem Heimatort bekennt? Gibt es einen Kitt, der hält? Was macht eine Identität aus? Kann man sie „machen"? Womit identifiziert sich der NRWler? Wir werden die gewachsene Landesidentität schildern, die bemerkenswerte Fortschritte in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. Ein Land hat sich gefunden, ja neu erfunden, das ist meine These. Nun kann es getrost nach vorn blicken.

    1

    Landesgeschichte: Liebesheirat oder Vernunftehe?

    Hinterher merkt man, dass es richtig war, dass es schiefgegangen ist".¹ So hat man 1945 im Ruhrgebiet nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur etwas verquer und auch ein bisschen verlegen formuliert. Auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens tat es Not, schleunigst eine befriedigende Versorgung und eine funktionierende Verwaltung wiederaufzubauen. Wenigstens die schlimmsten Folgen der Nachkriegszeit – die Unterversorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnraum, die drückenden Probleme von Flüchtlingsströmen, Epidemien und Schwarzmarkt – wollte man in den Griff kriegen, um die Lage der Bevölkerung nicht noch dramatischer zu verschlechtern. Sogar Unruhen wurden befürchtet.

    Auf gesamtstaatlicher Ebene lag eine Lösung noch nicht auf der Hand. Die vier Besatzungsmächte fanden keinen Konsens: Der Kalte Krieg mit der Sowjetunion keimte auf. Auch die Franzosen gingen unter den drei Westmächten zunächst eigene Wege. Anders auf der regionalen und lokalen Ebene, wo sich die Besatzungsmächte ziemlich schnell daranmachten, möglichst unbelastete Bürger, aber bald auch wieder alte Eliten mit der Verwaltung der Städte und Gemeinden zu betrauen.

    De facto waren Briten und Amerikaner bereits vor dem Ende des Krieges dazu übergegangen, die eingenommenen deutschen Gebiete unter indirect rule zu stellen, wie es schon in der Kolonialsprache so schön hieß. In Aachen waren die Amerikaner ja bereits am 21. Oktober 1944 einmarschiert. Parallel zu den noch existierenden preußischen Verwaltungen – Kommunen, Kreise, Regierungsbezirke, Provinzen – wurden Auftragsverwaltungen installiert. Personell wurde dafür auf nicht oder nur wenig durch den Nationalsozialismus belastete Persönlichkeiten zurückgegriffen, besonders auf Funktionsträger aus der Weimarer Politik. So wurde Konrad Adenauer, 1933 durch die Nationalsozialisten seines Amtes enthoben, zunächst wieder Kölner Oberbürgermeister. Diese neuen Amtsträger waren den Weisungen der Militärregierungen unterworfen und bei unbedingtem Gehorsam ausschließlich der Besatzungsmacht verantwortlich.

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