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Vom Licht
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Vom Licht

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Aussteigerroman, radikale Reflexion und verstörende Familiengeschichte: "Vom Licht" ist eine literarische Herausforderung, die lange nachwirkt. In seinem neuen Roman gewährt Anselm Neft einen tiefen Einblick in fundamentalistisches Denken und den radikalen Kern des Christentums. Brisanter Stoff und exzellente Prosa.

Adam ist 21 und ganz allein. In der Dachkammer eines entlegenen und verwilderten Selbstversorgerhofes im österreichischen Voralpenland schreibt er über sein bisheriges Leben: das abgeschottete Landleben ohne Schulbesuch, die religiöse Heimerziehung durch seine Zieheltern und seine innig geliebte, drei Jahre ältere Stiefschwester Manda.
Durch seine Notizen versucht Adam zu verstehen, was mit seiner Familie geschehen ist, wie er der wurde, der er ist, und was er tun kann, um trotzdem weiterzuleben.
LanguageDeutsch
PublisherSatyr Verlag
Release dateAug 22, 2016
ISBN9783944035789
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    Vom Licht - Anselm Neft

    Sterne

    1

    DER GARTEN

    Ich begann in der äußersten nordöstlichen Ecke. Auf dem Weg von diesem Ausgangspunkt zu dem damit identischen Endpunkt wollte ich alle meine Schritte zählen, musste aber bald feststellen, dass ich nicht so weit zählen wie gehen konnte. Deshalb fragte ich Manda, ob sie mich begleiten und für mich zählen könne, und sie lachte und begleitete das Kind, das ich war. Mir steht das Sonnenlicht auf den Gartengewächsen vor Augen, ein Marienkäfer auf einem Blatt, Mandas braune Arme, meine dunkelroten Sandalen, in denen ich sorgsam die für mich riesige Fläche abschritt. Manda zählte laut mit. Irgendwann ließ sie mich stehen, um einen Block zu holen, auf dem sie Zwischenergebnisse notieren konnte. Das Weiß des Papiers strahlte weiß im Licht der Sonne.

    Später erzählten wir Norea stolz, dass der Umfang unseres Gartens 422 Schritte betrage und wir Forscher seien. Norea sagte, dass sich Materie verändere. Nicht nur die Pflanzen seien einem ständigen Wandel unterworfen, sondern der ganze Garten und die Körper darin. Sie zeigte auf mich. Dann sagte sie, dass auch meine Schritte nicht immer von gleicher Länge seien. Wäre ich ein Forscher, so erklärte sie mir, dann würde ich ein möglichst exaktes Messinstrument nutzen und den Garten oft abgehen, vielleicht zwanzig oder dreißig Mal. Am Ende müsse ich den Durchschnitt aller notierten Zahlen ermitteln und hätte damit eine neue Zahl, die in den Augen eines Forschers dem tatsächlichen Umfang des Gartens am nächsten käme.

    Ich wollte mich als Forscher betätigen und den Garten einunddreißig Mal abgehen. Manda hatte keine Lust mehr, mich zu begleiten, half mir aber dabei, meine Schritte zu vereinheitlichen, damit sie von möglichst gleicher Länge waren. Zunächst riet sie mir, Ferse an Fußspitze zu setzen, aber dafür fehlte mir der Gleichgewichtssinn. Die Idee, Stöcke als Stützen zu nutzen, kam uns ebenso wenig wie die, von vorneherein den Garten mit einem Stock oder Maßband abzumessen. Dabei hätten mir solche Gerätschaften bei einigen Hindernissen des Weges von Nutzen sein können: An einer Stelle musste ich behutsam den schmalen Raum zwischen Hecke und Bienenstöcken nutzen, an anderen hielten mich die Dornen der Brombeerhecken, und zweimal musste ich über das Gatter der Kuhweide steigen. Vermutlich hatte ich mir das anfängliche Abschreiten derart in den Kopf gesetzt, dass mir die naheliegende Idee, ein passenderes Messinstrument zu nutzen, einfach nicht in den Sinn kommen wollte, und womöglich hätte ich eher eine Schnur von Knöchel zu Knöchel gespannt, um meinen Schritt auf die stets gleiche Länge fixieren zu können, als von dem einmal gefassten Plan abzuweichen. Tatsächlich aber entwickelte ich mit Mandas Hilfe einen »Durchschnittsschritt«, den ich einübte und von dessen Genauigkeit wir beide zunehmend überzeugt waren.

    Schließlich legte ich die Zahlen aller 31 Gartenumrundungen Valentin vor, und er half mir, den Durchschnittswert zu finden. Norea stand daneben und sagte, dass auf ähnliche Weise ein Großteil des Forscherwissens über die Materie gewonnen werde. Das Forscherwissen sei in der Regel ein aus der Erfahrung gewonnenes und dann durch Wiederholung oder Abgleich mit anderen Erfahrungen überprüftes Wissen. Damals verstand ich nicht, worauf sie hinauswollte, und freute mich über meine Beharrlichkeit und den herausgefundenen Durchschnitt von 423,5 Schritten, einer Zahl, die für mich damals nicht lediglich so nahe an der Realität lag wie möglich, sondern den wahren Umfang des Gartens exakt wiedergab.

    Es muss kurz danach gewesen sein, als ich anfing, Worte in ihre Silben zu zerlegen. Besonders hatten es mir dabei die Bezeichnungen der Kräuter angetan, die in einem Beet in der Nähe des Eingangstors wuchsen. Als ich einmal mit Manda dort stand – vermutlich waren wir zum Ernten dieser und jener Kräuter geschickt worden –, rupfte ich die Bezeichnungen auseinander: »Boh-nen-kraut« und »Ba-si-li-kum« sagte ich immer wieder. Schließlich riefen wir auf übertriebene Weise »Senf« und »Küm-mel«, »Es-tra-gon«, »Knob-lauch« und »Peter-si-lie«, wobei mir Mandas beschwörendes »Sal-bei« und das alberne »Pim-pi-nel-le« besonderes Vergnügen bereiteten. Während Manda bald den Spaß an diesen Wiederholungen verlor, ging ich noch tagelang im Garten oder Haus herum und probierte Silben durch, bis ich Angst bekam, mit dem »Rosma-rin«- und »Sau-er-amp-fer«- und »Schnitt-lauch«- und »Thy-mi-an«- und »Meer-ret-tich«- und »Zi-tro-nen-me-lis-se«-Unsinn nicht mehr aufhören zu können.

    Bis heute stehen in der südöstlichen Ecke und einem etwa zehn Meter langen Stück der Südseite unseres Grundstücks Sträucher, die im Sommer Brombeeren, Johannisbeeren und Stachelbeeren tragen, und obwohl mir Manda schon bald sagte, es sei nicht mehr lustig, musste ich bald auch diese Worte aufsagen, bis jedes einzelne davon seine Bedeutung verloren hatte. Allerdings tat ich es im Stillen oder wenn niemand in der Nähe zu sein schien, bis mich Manda einmal dabei ertappte, wie ich im Gras saß und »Halm, Halm, Halm« vor mich hin sagte.

    »Jetzt ist aber Schluss«, sagte sie und nahm mich in die Arme und wiegte mich hin und her wie eine kaputte Standuhr, die auf diese Weise repariert werden konnte. Das Wiegen brachte Ruhe in mein Denken, ähnlich wie die Arbeiten in den Beeten und im Gewächshaus, im engen, dunklen Stall und an den Obstbäumen. Diese Arbeiten wiederholten sich durch die Jahreszeiten: langweilig und mühevoll, aber auch beruhigend und angenehm ermüdend. Den Unterricht hingegen erlebte ich als interessant und anstrengend, aber auch als beunruhigend und auf unangenehme Weise ermüdend. Nach der Arbeit im Garten schmeckte das Essen anders als nach den Stunden im Unterrichtszimmer. Ich schlief ruhiger und weniger traumzersetzt. Die Gedanken glitten langsamer und bedeutungsärmer vorüber. Manchmal sah ich von einem Beet hoch, das ich harkte, und sah ein Wolkengebilde oder einen kreisenden Raubvogel und fühlte mich behaglich und friedlich und so, als stimme alles auf eine gute Weise miteinander überein.

    Die Beete, in denen ich so oft stand und rupfte oder harkte oder säte oder Erde festtrampelte, hatten wir zwischen den Beerensträuchern und unserem Haus angelegt: Aus einem streckte der blassrote Rhabarber seinen Schopf. Eine Weile hatten wir es in diesem Beet auch mit Erdbeeren versucht, damit aber wenig Glück gehabt. In den anderen Beeten zogen und ernteten wir Kopf- und Ackersalat, Chicorée, Rote Bete, Porree und Sellerie. Es gab eine Parzelle für Brokkoli und eine für Schwarzwurzeln. Tomaten gediehen an Stöcken im Freien und beizeiten im Gewächshaus, in dem wir auch Gurken wachsen ließen, die besser schmeckten als die Freilandgurken.

    Ich mochte, auch wenn ich derlei Vorlieben nicht entwickeln sollte, geschmacklich vor allen Dingen den Grünkohl, wenn wir ihn im Winter mit Kartoffeln mischten. Vom Aussehen her erfreuten mich die Rosenkohlgewächse. Wie seltsame Männlein lugten sie aus der Erde, die kleinen Knollen zu einem langen, schlanken Leib verwachsen, aus dem an der oberen Hälfte eingerollte Blätter wie eine wilde Mähne sprossen. Damit die Röschen besonders fest wurden, mussten wir dort, wo der Rosenkohl gepflanzt werden sollte, den Boden nach Leibeskräften festtrampeln. Ich bildete mir dabei ein, dass je fester ich trampelte, der Rosenkohl umso fester und schmackhafter würde, und war enttäuscht, wenn nicht ich, sondern jemand anders die Erde festtrat. Dem Rosenkohl galt meine besondere Aufmerksamkeit: Ich versuchte nicht nur, derjenige zu sein, der den Boden für ihn vorbereitete, sondern auch derjenige, der die Pflanzen ins Anzuchtbeet säte, von dort ins Frühbeet setzte, sie schließlich, wenn sie lang wie eine Hand aus der Erde ragten, noch einmal ins Anzuchtbeet und von dort wieder zurück brachte. Ich häufelte die Erde rund um die Rosenkohlgewächse auf, ich rupfte sorgsam das Unkraut, ich schichtete Mulch um die Stängel, ich zupfte die unteren Blätter ab, sobald sie auch nur einen leichten Stich ins Gelbe zeigten. Und schließlich versuchte ich, möglichst unauffällig, immer derjenige oder zumindest einer derjenigen zu sein, der die Röschen vom Stiel erntete, wobei die untersten zuerst reif wurden.

    Manda mochte vor allem die Erbsen und Bohnen, die sich in der südwestlichen Ecke des Grundstücks an Gerüsten rankten. In kleinen Büschen daneben standen die Saubohnen und die grünen Bohnen, neben die wir Kapuzinerkresse und Minze gepflanzt hatten, um Schädlinge fernzuhalten. Auf dem Weg von dort zur nordwestlichen Ecke versperrte mir bei meinen Umrundungen der Zaun der Kuhweide den Weg. Hatte ich ihn überwunden, musste ich mich zusammennehmen, um meine Scheu vor dem großen Tier dahinter nicht in Angst ausarten zu lassen. Tagsüber graste unsere einzige Kuh, nachts und im Winter kam sie in den Stall. Manchmal sah ich zu, wie Manda sie molk, lernte es selbst aber nicht mehr, bevor wir die Kuh verkauften.

    Auf dem Gras östlich neben der Weide stehen bis heute unsere Obstbäume: Äpfel, Birnen, Zwetschgen und ein Baum, der sommers Mirabellen trug. Noch weiter östlich und auf der Nordseite unseres Hauses liegen die Ackerstreifen, auf deren ersten wir Zwiebeln und Möhren zogen – die Zwiebeln säten wir zwischen den Möhren, denn die Möhren hielten die Zwiebelfliege, die Zwiebeln die Möhrenfliege fern. Es folgten Blumenkohl und Weißkohl, ein breiter Streifen Kartoffeln, ein Abschnitt für Mangold, in dem später auch Artischocken wuchsen, ein Maisfeld und zuletzt der Kürbisacker, der den Anfangsund Endpunkt meiner Umrundungen bildete.

    Vergessen habe ich noch die ganz früher benutzte Komposttoilette neben dem Komposthaufen auf der einen Seite des Hauses sowie den Heuschober und den Brunnen auf der anderen Seite. Vergessen habe ich auch die Hühner: Wir hielten die Vögel in einem großen Drahtkäfig, den wir über das Gras zwischen den Obstbäumen bewegen konnten. Manchmal hängten wir ihnen die abgeernteten Rosenkohlstrünke hinein. Wir aßen ihre Eier, schlachteten sie jedoch nur dann, wenn Manda oder ich krank wurden. Dann gab es eine Hühnerbrühe, in der das weiße Fleisch in Streifen schwamm. Da ich viel öfter krank wurde als Manda, wurden wegen mir mehr Hühner getötet. Tatsächlich bedrückte mich der Tod der Tiere, vermutlich weil Valentin jedes Mal nachdenklich wurde, wenn ein Huhn geköpft und gerupft werden sollte. Bereits das Essen der Eier glich für ihn einem Akt der Gewalt. Die Hühnersuppe im Krankheitsfalle, die wohl auf Norea zurückging, hielt er für unnötig und grausam und verunreinigend. So sehr ich ihn verstand, so sehr schmeckte mir die Suppe und vor allem das Fleisch, und heute glaube ich, dass ein Grund für meine häufigen Krankheiten, wenn auch nicht der einzige, darin zu sehen ist, dass ich auf diese Weise in den Genuss der Hühner kam.

    Es waren jedoch nicht allein die Hühner, sondern der gesamte Garten und die darin gezüchtete Nahrung, über die Valentin und Norea ab einem gewissen Zeitpunkt in meiner Kindheit uneins wurden. Bis zum Tag der Rettung konnten ihre Auffassungen nicht miteinander versöhnt werden. Norea erwies sich als hartnäckiger, Valentin fand zusehends weniger die Kraft, für seine Ansicht einzustehen, gab auf und beugte sich ohne Überzeugung. Gebe ich diese Meinungsverschiedenheit heute wieder, so verdichte ich viele Bemerkungen und Streitgespräche zu einer einzigen Auseinandersetzung, deren Inhalt ich als Kind zwar aufschnappte, aber nur zum Teil verstand.

    Es muss während der großen Kosmologieunterweisung gewesen sein, also mitten im Winter, in dem wir kaum im Garten zu arbeiten hatten, als Norea Valentin mitteilte, dass zu viel Aufmerksamkeit in den Garten gehe. Der Garten werde mehr und mehr zu einem Tempel, die Pflanzen darin zu Heiligen, die Arbeit in ihm zur Religion. Der Garten mit seinen widerlichen Gewächsen entziehe so viel Zeit und Kraft und Aufmerksamkeit, dass für den Unterricht kaum Zeit bleibe. Am Morgen gehe es um den Garten, am Mittag gehe es um den Garten, und auch am Nachmittag und Abend gehe es um den Garten. Im Frühling wie im Sommer wie im Herbst wie im Winter. Er nenne es die reine Nahrung, sie nenne es den Kult der Hyle, den Tanz um das goldene Kalb der Materie. Valentin entgegnete, dass es von Anfang an der Plan gewesen sei, sich selbst zu versorgen, und das nicht bloß deshalb, weil die selbst angebaute Nahrung den Geist weniger träge mache und langfristig gesehen weniger koste, sondern vor allem, weil die Arbeit im Garten ein wichtiger Teil des Unterrichts sei. Bei rechter Anweisung öffne das Gärtnern um der Nahrung willen uns Kindern am ehesten die Augen für die materielle Welt.

    Norea spottete, wenn das Wort »Selbstversorgung« fiel. Einmal, als sie glaubte, dass Manda und ich es nicht hörten, sagte sie Valentin, dass er hinter seinen Argumenten geheime Ansichten verstecke. Sie nannte ihn ein Opfer jener Lüge, die Zurück-zur-Natur-Romantiker verbreiteten: dass es eine gute, unverfälschte und eine schlechte, verfälschte Nahrung gäbe, dass also die von Menschenhand veränderte Materie übler wäre als die ursprüngliche, dass es tatsächlich so etwas gäbe wie »natürlich« und »künstlich«, wo doch alles nur eines sei – »vergänglich«. Dinge des Leibes hätten uns nichts anzugehen. Materie wirke nur auf Materie. Wenn er sage, die falsche Nahrung mache den Geist träge, so meine er doch wohl, sie mache den Leib träge, oder er stelle bedenkliche Beziehungen zwischen dem Bösen und dem Guten her.

    Ich weiß noch, wie verblüfft sich Valentin über diese Entgegnungen zeigte und wie seine Verblüffung auf Manda und mich überging, wenn auch wohl aus anderem Grund. Bisher waren uns Norea und Valentin als Einheit erschienen, es gab eine Wahrheit, und so konnte es keine zwei Meinungen geben. Tatsächlich wurde der Streit auch weitgehend im Verborgenen ausgetragen, aber wir Kinder entwickelten Ohren, die manchmal nur noch für Worte dieses Streits existierten, sogar für solche, die nicht ausgesprochen wurden. Was mir entging, erfasste Manda, was Manda entging, erfasste ich, wir setzten die Teile zusammen, besprachen das Ganze und gerieten schließlich darüber selbst in Streit.

    Valentin versuchte, eine vermittelnde Position einzunehmen. Er gab sich besonnen, und wenn er glaubte, Noreas Auffassung genug Gehör geschenkt zu haben, erwähnte er, dass sie doch ursprünglich eines Sinnes gewesen seien: möglichst unabhängig zu sein von den Fleischmenschen und ihren Erzeugnissen, und auch, dass es wichtig sei, die Kinder den Mühen der Nahrungserzeugung auszusetzen. Norea entgegnete, dass das einmal richtig gewesen sei, nun aber nicht mehr. Die Kinder hätten im Garten genug gelernt, und die Unabhängigkeit von den Fleischmenschen sei ohnehin nur eine fadenscheinige, weil ja doch immer wieder alles Mögliche dazugekauft werden müsse. Nahrungsherstellung und -zubereitung und -aufnahme sei immer etwas Besudelndes, die Feinheiten der Unterschiede seien ihr dabei weniger wichtig als das grob ins Gesicht springende Gemeinsame. Sein Argument könne doch nur sein, dass die Pflanzen aus dem Supermarkt weniger Licht enthielten, das durch Verzehr befreit werde, aber sie halte die ganze Gemüse-Licht-Idee bestenfalls für eine Metapher und eher noch für bedenkliche Schwärmerei.

    Bevor Valentin etwas auf diese Vorwürfe erwidern konnte, kam Norea auf das Geld zu sprechen. Die sogenannte Selbstversorgung sei doch nachweislich viel teurer, als in den Billigmärkten der Umgebung einzukaufen. Als Beispiel nannte sie die Bienen. So nützlich sie zu ihrer Zeit als Anschauungsobjekte gewesen seien, so überflüssig und kostspielig seien sie nun. Alleine für die Gewinnung einiger lächerlicher Gläser Honig sei umfangreiches Material vonnöten: Neben den Magazinbeuten nannte Norea den Wabendraht aus Edelstahl, die Zanderrahmen, Mittelwände, Absperrgitter, Streckmetallgitter, Futterzargen, die Zange, um die Königin fangen zu können, Besen und Stockmeißel, Sirup und Füttergefäß, die Imkerkleidung, Varroagitter, Sprühflaschen, Ätznatron, Milch- und Ameisensäure, Magazinkästen, Räuchergerätschaften, das Entdeckungsgeschirr, Siebe, Schleudern, Abfülleimer, Trichter und schließlich Gläser für den Honig. Ganz zu schweigen von der Zeit, die in wiederkehrende und meistenteils stumpfsinnige Arbeit zu stecken sei. Valentin behauptete daraufhin, dass er Berechnungen angestellt habe und belegen könne, dass auf lange Sicht die Selbstversorgung durchaus Geld spare. Den Ausdruck »auf lange Sicht« wiederholte Norea mehrmals und warf Valentin vor, dass er sich offenbar dauerhaft im Kadaver einrichten wolle, anstatt sich so bald wie möglich daraus zu befreien. Das erkläre auch, warum er die Nahrung überbewerte und vergesse, dass es nicht entscheidend sei, was in den Mund hineingehe, sondern was aus ihm herauskomme.

    Valentin wollte daraufhin von Norea wissen, ob sie den Unterricht nicht überbewerte: Er spreche den Verstand an, den auch die Tiere hätten, er spreche die Vernunft an, die auch die Fleischmenschen hätten, aber ob daraus die Erkenntnis entspringe, sei keinesfalls gesichert. Vielleicht richte sie sich ja in einem jahrelangen Unterrichten ein, ohne dass die Kinder dadurch der Erkenntnis und somit der freiwilligen Entscheidung heimzukehren einen Schritt näher kämen. Genau betrachtet sei doch alles sinnlos: der Garten, der Unterricht, das Warten darauf, dass die Kinder erlöst würden. Von ihm aus könne noch heute der Spuk aufhören.

    An diesem Punkt war es Norea, die einen Schritt auf Valentin zuging, um dann doch eine andere Richtung einzuschlagen: Der Unterricht sei in der Tat kein Garant für Erkenntnis. Er spreche jedoch nicht nur den Verstand und die Vernunft, sondern auch die Sehnsucht an, und die Sehnsucht sei notwendig, wenn auch nicht hinreichend, um heimzukehren. Und natürlich sehe sie es wie er: Auch von ihr aus könne schon heute das Gefängnis verlassen werden. Vielleicht sei es überflüssig, die Kinder zu fragen, vielleicht sei es gar nicht wichtig, ob diese freiwillig mitgingen. Sie vertraue da ihm. Wenn er die Entscheidung für alle treffen wolle, dann würde sie ihm nicht im Wege stehen. Valentin erwiderte daraufhin nichts mehr.

    Die Kuh wurde verkauft. Nach und nach verwahrlosten einige Beete. Die Ackerfläche bestellten wir nur noch zur Hälfte. Der Unterricht für Manda und mich wurde intensiviert.

    Wenn ich heute im Geiste die Umrundungen noch einmal nachvollziehe, dann beginne ich dort, wo ich damals begonnen habe: in der nordöstlichen Ecke, am äußersten Rand des Kürbisfeldes, im Rücken die Hecke, vor Augen den Acker, aus dem die breiten Blätter und gelben Blüten und prallen Früchte wuchsen. Jahr um Jahr ernteten wir beim ersten Frost einige Kürbisse, um sie später als Suppen und Pasten und im Ofen gebackene Stücke und schließlich als sauer oder süß eingelegte Würfel oder Marmelade zu essen. Wir aßen Kürbiskuchen und Kürbismus, Kürbisgulasch und mit Zwiebeln und Lauch oder Brot und Käse gefüllte Kürbisse. Wir aßen Kürbisstreifen, gebraten oder als Salat. Wir aßen Kürbisstrudel und Kürbisauflauf und Kürbissoufflé. Erst als Manda mir anvertraute, dass sie Kürbis nicht mehr sehen, dass sie Kürbis nicht leiden könne, wurde mir bewusst, dass auch ich Kürbis nicht mochte. Vielleicht, so denke ich heute, mochten auch Valentin und Norea keinen Kürbis, aber sie sprachen nicht darüber. Niemand von uns sprach darüber, ob etwas schmeckte oder nicht, bis Manda mir sagte, dass sie keinen Kürbis mochte.

    Die Kürbisse erinnere ich allerdings nicht nur als eine besonders häufige Speise, sondern auch als einen seltsamen Anblick: Wenn sie im Herbst als orangefarbene Bälle auf dem Acker lagen, schien es mir, als ob sie nur aufgrund einer geheimen Verabredung unbeweglich blieben, während unergründliche Absichten in ihnen nisteten. Besonders befremdlich fand ich das Kürbisfeld in der Nacht, wenn die Bälle im Licht des Mondes gleichzeitig echter und unechter wirkten und beinahe unerträglich gegenwärtig. Eine einzige Pflanze bestand aus einem viele Meter langen, sich gerade über den Acker streckenden Stängel, von dem Seitentriebe abzweigten, die ihrerseits wieder Triebe bildeten. An den Seitentrieben zeigten sich im späten Frühling die Blüten: gelb und, wenn sie sich öffneten, von gierigem Aussehen. Tief in den Kelchen wuchsen die Stempel, an deren verwachsenen Wülsten die Pollen hafteten.

    Norea sprach von »männlichen« und »weiblichen« Blüten. Die weiblich genannten Blüten konnten leicht erkannt werden: Unterhalb der Blütenblätter zeigte sich früh eine grüne Kugel, ein Miniaturkürbis mitten im Stängel des Seitentriebes. Norea erklärte mir, dass sich fast

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