Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Gefühlschaos – ein Leben lang: Roman nach einer wahren Begebenheit
Gefühlschaos – ein Leben lang: Roman nach einer wahren Begebenheit
Gefühlschaos – ein Leben lang: Roman nach einer wahren Begebenheit
Ebook313 pages4 hours

Gefühlschaos – ein Leben lang: Roman nach einer wahren Begebenheit

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Die verheerenden Folgen des jahrelangen sexuellen Missbrauchs durch den pädophilen Stiefvater und die große Lieblosigkeit, welche die Autorin insbesondere durch ihre eigene Mutter erfahren musste, führten dazu, dass sie sich annähernd 50 Jahren in ihrer Opferrolle gefangen sah. Dennoch war sie, getrieben von einer zwanghaften Beziehungs- und Harmoniesucht, immer auf der Suche nach ein wenig Glück und Liebe. Sie hat das nie wirklich gefunden …
LanguageDeutsch
PublisherVerlag Kern
Release dateMay 21, 2014
ISBN9783957160638
Gefühlschaos – ein Leben lang: Roman nach einer wahren Begebenheit

Related to Gefühlschaos – ein Leben lang

Related ebooks

Women's Biographies For You

View More

Related articles

Reviews for Gefühlschaos – ein Leben lang

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Gefühlschaos – ein Leben lang - Gisela M. Freyler

    Gisela M. Freyler

    Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Impressum:

    © 2014 Verlag Kern

    Autorin: Gisela M. Freyler

    © Inhaltliche Rechte bei der Autorin

    Herstellung: Verlag Kern, Bayreuth

    Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de

    Titelfoto: © Pojoslaw | Dreamstime.com

    Lektorat: Manfred Enderle

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

    ISBN 9783957160164

    ISBN

    E-Book

    : 9783957160638

    www.verlag-kern.de

    Widmung

    Meinen beiden Söhnen gewidmet, die, wie ich, durch meinen seelischen Ausnahmezustand viel erleiden mussten, ich ihnen nie die Mutter sein konnte, die ich hätte sein müssen oder können, wäre ich seelisch gesund gewesen.

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Impressum

    Widmung

    Gefühlschaos

    Ebenfalls im Verlag-Kern erschienen

    Ich bin 4 Jahre alt und fühle großen Frieden in meinem kleinen Körper und der noch jungen Seele. Das Vertrauen zu meiner Umwelt ist noch riesengroß. Ich fühle mich geborgen. Alles ist in bester Ordnung, nichts kann mir passieren.

    Es gibt Mittagessen und wie so oft will ich auch an diesem Tag nicht den Teller leer essen, weil ich mich satt fühle. Dann höre ich die warme Stimme meines Vaters und spüre seine zärtliche Hand auf meinem Bauch. „Der Bauch ist aber noch nicht voll, da passt noch viel, viel mehr hinein", höre ich ihn sagen. Ich überwinde mich und nehme noch zwei oder drei Bissen, ich will ja ein braves Mädchen sein. Es fällt mir auch nicht schwer, denn ich habe großes Vertrauen zu meinen Eltern. Ich habe sie sehr lieb.

    Ich wohne mit meinen Eltern und meinem ein Jahr älteren Bruder in einer kleinen, bescheidenen, aber für mich behaglichen Dachgeschosswohnung im Haus meines Großvaters. Meine Großmutter starb, als ich 9 Monate alt war, deshalb habe ich keine Erinnerung an sie.

    Es ist ein Anwesen mit zwei nebeneinander stehenden Häusern. In dem älteren davon, dem Elternhaus meiner Mutter, wohnen wir. Unter uns wohnt mein Onkel Franz, der Bruder meiner Mutter, mit seiner Familie. Seine Frau ist Kriegswitwe und brachte drei Kinder mit in die Ehe, die alle im Teenageralter sind. Später bekommen sie noch zwei gemeinsame Kinder. Nur, zu diesem Zeitpunkt bin ich noch viel zu klein, um davon etwas mitzubekommen.

    Eines Morgens tollte ich mit meinem Vater ganz ausgelassen im Bett herum. Ich genoss es und war kaum zu bremsen. Ich liebte meinen Papa über alles auf der Welt und fühlte mich bei ihm wunderbar geborgen. Meine Seele machte große Sprünge, so sehr genoss ich es.

    Dann kam der Moment, in dem ich in seiner Nachtkommode wunderschöne, bunte Lutschbonbons entdeckte, von denen ich unbedingt eines naschen wollte. „Nein, das kannst du nicht essen, das sind Tabletten und die darf man nur zu sich nehmen, wenn man krank ist. Ich ließ ihm keine Ruhe mehr, nervte ihn so lange, bis ich eines davon abbekam. Dabei ermahnte er mich: „Aber wirklich nur die eine.

    Sie war süß und herrlich rot, und schon war ich fürs Erste glücklich. Wir tollten weiter im Bett herum. Dabei verstand ich es immer und immer wieder, mir noch eine und noch eine dieser bunten Dragees zu erhaschen, bis sie alle weg waren. Dann endlich war ich zufrieden. Es gelang mir stets, meinen Papa immer wieder aufs Neue auszutricksen.

    Die Wirkung der Tabletten ließ natürlich nicht lange auf sich warten. Nach einer gewissen Zeit wurde mir immer übler. Vor meinen Augen begann sich alles zu drehen. Die Lebhaftigkeit, mit der ich bisher im Bett herumtollte, ließ mehr und mehr nach.

    Mein Vater verstand die Welt nicht mehr. Er war außer sich vor Sorge. Eine solche Wirkung, von nur einer Tablette, konnte er sich nicht vorstellen. Er war ratlos und voller Schuldgefühle. Meine Mutter, die in der Küche arbeitete, kam ebenfalls aufgeregt und sorgenvoll dazu.

    Mir wurde immer übler und dieser üble Zustand hielt so lange an, bis endlich die Erlösung kam. Ich musste mich erbrechen und staunte über so viel Inhalt in meinem Bauch. Eine riesengroße rote Masse, die sich auf der weißen Bettdecke immer weiter ausbreitete.

    Während mein Vater noch immer ratlos darüber war, dass eine einzige Tablette eine solche Wirkung haben kann, bemerkte er schließlich, dass ich sie alle aufgegessen hatte. Dann folgte die erste Schelte in meiner bis dahin problemlosen Kindheit durch meine Eltern.

    Langsam und schleichend kam die Zeit, für uns Kinder nichtsahnend, dass es zwischen unseren Eltern kriselte. Immer öfters stritten sie sich. Welche Bedeutung und welche Konsequenzen das einmal für uns Kinder hat, konnten wir natürlich nicht erahnen. Für mich sollte es sogar noch schlimmer kommen.

    Neben uns, im zweiten Haus, wohnte mein Großvater mit seiner zweiten Frau, die ebenfalls Kriegswitwe war. Im Obergeschoss wohnte die Schwester von Opa, die im Bett lag und krank und schon sehr schwach war. Stets lag sie im Bett, wenn ich sie mit meiner Mutter besuchte. Dabei fand sie mich immer sehr niedlich und beschenkte mich mit Spielsachen.

    Die Fenster unserer Wohnungen lagen sich direkt gegenüber. Dabei freute sie sich immer, wenn sie mich durchs Fenster erblickte und mir die Spielsachen, die sie mir schenkte, so viel Freude machten.

    Leider wurde ihr Gesundheitszustand immer schlechter. Trotzdem hörte ich den Großvater in ihrem Zimmer wiederholt herumschreien. Ich verstand nicht, warum er so gar kein Mitleid mit ihr hatte? Das machte mir Angst. Opa hörte sich immer sehr laut und böse an. Ich gab mir Mühe, nicht hinzuhören.

    Eines Tages sagte meine Mutter: „Die Tante ist gestorben und es ist kein Wunder, weil Opa bisher keine Gelegenheit ausließ, seiner Schwester das Leben schwer zu machen. Jetzt ist sie endlich erlöst."

    Ich war ungefähr dreieinhalb oder vier Jahre alt, lag im Bett und wurde wach, als ich meine Mutter in der Küche herumhantieren hörte. Neugierig stand ich auf, um in der Küche nachzusehen. Schlaftrunken, wie in Trance, lief ich zu ihr hin, um zu sehen, was sie so spät in der Nacht noch machte.

    Dabei beobachtete ich, wie sie eine Kanne mit heißem Wasser befüllte. In dem Augenblick, als sie sich umdrehte, nahm ich die heiße Kanne und zog sie an mich heran, um daraus zu trinken. Obwohl ich gerade mal bis zur Tischkante reichte, gelang mir dies anscheinend problemlos.

    Später wusste ich nur noch, dass es sehr heiß war, als ich die Kanne wieder zurückstellte. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern.

    Viel später erfuhr ich dann, welch ein Drama sich in der folgenden Nacht für meine Eltern noch abspielte und der Notarzt kommen musste. Ich drohte zu ersticken.

    Noch immer war ich ahnungslos und wähnte mich in grenzenloser Obhut durch meine Eltern, obwohl sie sich immer öfters und lauter stritten. Auch kam es vor, dass unser Vater über Nacht wegblieb und unsere Mutter ihm deshalb große Vorwürfe machte.

    Einmal bekam ich mit, wie sie seine Kleider in einem Schrank, der im Flur stand, versteckte, während er sich fürs Ausgehen zurechtmachte. Dem folgte dann ein gewaltiges Donnerwetter. Papa tobte, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Jedenfalls hatte ich kein gutes Gefühl dabei, als sie sich so anschrien. Noch heute erinnere ich mich an die hellgrauen Schuhe und den grauen Anzug. Allmählich kehrte für die nächsten Tage wieder etwas Ruhe ein.

    Ich bekam eine Puppe geschenkt und war überglücklich. Ich bettelte bei meiner Mutter, dass sie mir für die Puppe ein schönes Kleidchen stricken soll, damit sie sich nicht mehr so nackt und kalt anfühlte. Mit diesem Wunsch lag ich ihr so lange in den Ohren, bis sie mir versprach, diesen Wunsch zu erfüllen. Erst dann konnte ich anstandslos und zufrieden in mein Bett gehen.

    Am nächsten Morgen traute ich meinen Augen kaum. Welch große Überraschung. Meine Puppe saß vollkommen angekleidet auf dem Sofa. Hatte meine Mama noch am Abend damit angefangen zu stricken?! Sogar eine Mütze und Söckchen hatte sie gestrickt. Ich war überglücklich und liebte meine Mama in diesem Augenblick über alles.

    Es kam die Zeit, in der ich in den Kindergarten musste und sehr unglücklich darüber war. Auf gar keinen Fall wollte ich mich von meiner Mutter trennen und sträubte mich vehement dagegen. Leider konnte mich nichts und niemand davor bewahren. Meine Mutter fuhr mich täglich mit dem Fahrrad zum Kindergarten und solange wir unterwegs waren machte ich ein Theater. Erst als sie mich wieder abholte, beruhigte ich mich.

    Nach einigen Tagen gewöhnte ich mich daran. Bisher wurde ich ja immer wieder abgeholt. Das hatte mich beruhigt und mit der Zeit gefiel es mir sogar im Kindergarten. Es machte mir Freude, im Sand und mit den anderen Kindern zu spielen. Was mir keinen Spaß machte, war der Mittagsschlaf, den wir täglich machen mussten.

    Wir Kinder saßen bei unserer Mutter auf dem Fahrrad. Sie fuhr mit uns zu einer Versammlung der Zeugen Jehovas, ihrer selbst gewählten Religion, die ihr sehr wichtig war. Mehr als wir Kinder zu dieser Zeit ahnen konnten.

    Zum Beispiel hinterließ sie unserem Vater eine schriftliche Nachricht, wo sie mit uns Kindern ist, wenn er von seiner Arbeit nach Hause kam. Irgendwo auf der Strecke fuhr er uns auf seinem Motorrad einmal nach. Nach einem heftigen Wortwechsel fuhr er schließlich wieder zurück und wir unserem Ziel entgegen.

    Dann kam die Zeit, in der wir unsere Mutter nur noch heulend herumlaufen sahen. Sie war kaum ansprechbar, irgendwie abwesend. Die Situation fühlte sich bedrohlich für mich an. Ich war vollkommen irritiert. Niemand erklärte uns irgendetwas.

    Mit der Zeit bekamen wir Kinder dann mit, dass Papa uns verlassen hat, dass er nicht mehr bei uns wohnt. Ich fühlte mich ebenfalls sehr traurig. Alles war auf einmal nicht mehr so, wie es einmal war – meine kleine, heile Welt ist zusammengebrochen. Eine bedrückende Stimmung machte sich breit.

    Ich fühlte mich ebenso verlassen, mich, sein Mädchen, das er immer sehr verniedlichte. Sein kleines Hexchen, „mein kleines Hühnchen", wie er mich immer nannte. Seine Liebe und Zärtlichkeit schien riesengroß, und dafür liebte ich ihn sehr.

    Nun vermisste ich meinen Vater mit jedem Tag mehr, hoffte und wartete Tag für Tag, dass er doch wiederkommen soll, oder wenigstens einmal nach mir schaut und uns besucht. Meine Sehnsucht nach ihm wuchs mit jedem Tag. Ich fühlte mich einfach abgelehnt.

    Alles, was ich während dieser Zeit wahrnahm, war meine weinende Mutter. Ich hatte großes Mitleid mit ihr und fühlte mich ihr sehr verbunden. Obwohl es mir nicht besser ging, versuchte ich sie zu trösten. Sie war kaum ansprechbar, für nichts mehr zugänglich. Alles, was ich von ihr zu hören bekam, war, dass er uns verlassen hat. Hilflos stand ich neben ihr, inmitten dieser bedrückenden Enge, die mir große Angst machte.

    Eines Tages hieß es, der Papa kommt uns besuchen. Wir Kinder waren voller Freude und voller Erwartung und konnten es kaum erwarten. Die Enttäuschung war groß, denn leider kam er nicht. Auch nicht an einem der nächsten Tage. Mein Bruder und ich waren sehr traurig und enttäuscht.

    Dann eines Tages hieß es wieder, dass der Papa kommt. Wir waren uns sicher, dass er dieses Mal kommt und liefen ihm voller Vorfreude entgegen. Wir waren ungefähr einen Kilometer vom Dorf entfernt, als wir von Gundi (Friedas Tochter) wieder zurückgeholt wurden. Von unserem Vater war weit und breit nichts zu sehen. Enttäuscht gingen wir wieder zurück.

    Während uns Gundi auf das Fahrrad setzte, rannte uns aus der Ferne ein fremder Mann entgegen und winkte uns, dass wir stehen bleiben sollen. Ich bekam große Angst vor dem fremden Mann und war froh, als Gundi mit uns endlich zurückfuhr. Noch heute erinnere mich angstvoll daran.

    Als uns die Sehnsucht nach ihm zu einem späteren Zeitpunkt erneut packte, entschlossen wir uns, ihn zu besuchen. Mein Bruder kannte den Weg. Es war eisig kalt und wir machten uns zu Fuß auf den Weg in das 6 Kilometer entfernte Nachbardorf. Als wir endlich, nach langer Zeit, vor dem Haus standen, in dem er wohnte, waren wir total durchgefroren. Er traute seinen Augen kaum, als wir vor der Tür standen. In der Wohnung wärmte er uns auf und rieb uns die Füße warm. Er war total besorgt. Auch machte er uns klar, dass wir das nie wieder tun sollten. Es wäre zu gefährlich.

    Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde Angst zu meinem ständigen Begleiter. Ich begann jegliches Vertrauen zu verlieren, obwohl ich zu dieser Zeit noch recht wenig negative Erfahrungen machen musste. Bis auf die Trennung der Eltern. Noch hatte ich ja meine geliebte Mama. Das war die Hauptsache.

    Schmerzvoll musste ich mehr und mehr erkennen, dass ich meinem geliebten Vater angeblich nichts mehr bedeutete. Ich war ihm total gleichgültig geworden. Er hat nicht nur meine Mutter verlassen, sondern auch uns Kinder, mich, sein kleines Hühnchen.

    Bis heute kann ich es nicht vergessen, dass wir mit seinem Weggehen nicht mehr für ihn existierten. Niemals erkundigte er sich nach uns, wie es uns geht, was wir machen usw. Wir bekamen keine Geschenke, weder zum Geburtstag, noch zu einem anderen Anlass. Nicht einmal eine Karte. Nichts. So, als gäbe es uns überhaupt nicht, er hat uns einfach aus seinem Leben gestrichen.

    Er hatte während der Ehe mit meiner Mutter eine andere Frau kennengelernt, derentwegen er sich dann hatte scheiden lassen. Sie war viele Jahre jünger als er und kam aus der Großstadt Cottbus (in der früheren DDR). Sie hieß Marianne. Für sie gab er seine Familie, die ihn so sehr liebte, einfach so mir nichts dir nichts auf. Er hat uns ganz einfach aus seinem Leben ausgeschlossen. Mein Vater schien total verrückt nach ihr zu sein. Jedenfalls kam er nicht mehr von ihr los. Kurz nach der Scheidung hat er diese Marianne geheiratet und wenig später bekamen sie schon ihr erstes Kind.

    Der Alltag ohne meinen geliebten Vater nahm seinen verhängnisvollen Lauf. Ich gewöhnte mich irgendwie daran. Meine Mutter musste zwangsläufig wieder in der Fabrik arbeiten und huldigte immer noch eifrig den Zeugen Jehovas. Alljährlich gab es einen Kongress, dem jeder gute Zeuge Jehovas beizuwohnen hatte.

    Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich nach Nürnberg mit durfte und ungefähr fünf Jahre alt war. Für meinen Bruder und mich war es ein wahres Abenteuer. Wir wohnten in einem riesigen Zelt, in dem noch viele andere Gläubige mit ihren Familien untergebracht waren. Alles war neu für mich, alle trüben Gedanken an meinen geliebten Vater, den ich nach wie vor schmerzlich vermisste, waren zumindest in dieser kurzen Zeit weg.

    So viele Menschen hatte ich bis zu dieser Zeit noch nicht gesehen. Es war gigantisch, alles war unendlich groß und weit, meine Neugierde war kaum zu bremsen.

    Wir begegneten Frieda, die ebenfalls eine Gläubige der Zeugen Jehovas war, inmitten einer Traube von Menschen. Ich drehte mich nur kurz um, wandte meine Blicke in eine andere Richtung und musste entsetzt feststellen, dass ich jetzt alleine da stand. Meine Mutter, mein Bruder und ich, wir hatten uns in dem Gewimmel von Menschen aus den Augen verloren. Ich war verzweifelt, weinte bitterlich und rief nach meiner Mama. Ich hatte entsetzliche Angst, dass ich nun auch meine Mutter für immer verloren hatte.

    Nach kurzer Zeit wurde ich von einer freundlichen Dame angesprochen. Sie wollte wissen, wem ich gehöre und wie ich heiße. Ich heulte unaufhörlich und rief nach meiner Mutter. Die Frau nahm mich dann in ein anderes, ebenfalls großes Zelt mit. Ich war verzweifelt und hatte das sichere Gefühl, dass ich meine Mutter und meinen Bruder nie mehr wiedersehen würde.

    Die Frau fragte mich immer wieder allerlei Dinge – nach meinem Namen, wie meine Mutter heißt, woher wir kommen und wo wir momentan wohnten. Nach langem Hin und Her fragte sie mich schließlich nach der Nummer unseres Zeltes, die ich ihr schließlich beantworten konnte. „Es sind zwei Vierer."

    Welche Erleichterung. Sie überbrachte mich meiner Mutter. Ich war überglücklich und vermied es, mich aus Ihrem Umfeld jemals wieder weiter zu entfernen. Zu tief saß bei mir diese Erinnerung und dem damit verbundenen Schrecken.

    Mittlerweile war ich sechs Jahre alt und sollte eingeschult werden. Ich war sehr wissbegierig und freute mich auf die Schule wie die meisten Kinder, wollte alles lernen und auch bald können. Eifrig habe ich die Uhr lesen gelernt, war mächtig stolz auf meine kleinen Erfolge.

    Leider kam es anders. Meine Mutter eröffnete mir, dass ich für ein Jahr von zu Hause weg musste. Ich würde stattdessen bei einer mir unbekannten Pflegefamilie wohnen, die sich meiner annimmt und in einem Nachbarort wohnt.

    Meine Mutter musste in einer Fabrik arbeiten, hatte niemanden, der auf uns Kinder aufgepasst hätte. Mein Bruder sollte demnach tagsüber zu unseren Großeltern (väterlicherseits) und nach Feierabend würde sie ihn wieder abholen.

    Ich war verzweifelt und weinte bitterlich. Es war mir nicht möglich, das alles zu begreifen und ich hoffte, dass es noch etwas gibt, das mir dieses Schicksal ersparen möge.

    Ich wurde immer stiller, zog mich mehr und mehr in meine eigene kleine Welt zurück. Alle Fröhlichkeit wich von mir, ich hatte keinen Grund mehr zum Lachen.

    Dann kam der Tag, an dem ich meinen Vater wiedersehen sollte. Eine Cousine heiratete und hatte mich und meinen Bruder dazu eingeladen. Dabei sollte ich meinen Vater nach längerer Zeit endlich wiedersehen.

    Er war mir sehr fremd geworden und alleine war er auch nicht. Seine kleine Tochter, die er mit der neuen Frau hatte, war auch dabei. Ich hatte das Gefühl, dass er ein fremder Mann ist, er machte keinerlei Anstalten, von einer herzlichen Begrüßung ganz zu schweigen. War das einmal mein lieber Papa, der mich immer liebevoll streichelte und mit mir herumtollte? Zu gerne hätte ich mich in seine Arme geworfen. Stattdessen musste ich mit ansehen, wie sich sein neues Töchterchen immer wieder an ihn schmiegte und seinen Schutz suchte und er es liebevoll immer wieder umarmte.

    Der Tag, dem ich angstvoll entgegenfieberte, kam. Meine Mutter brachte mich jetzt zu meinen Pflegeeltern, die ich zu diesem Zeitpunkt das erste Mal sah. Ich fühlte mich sehr fremd, mir war klamm ums Herz, als würde mir jemand meinen Bauch einschnüren. Ich fühlte mich hilflos und ohnmächtig, verlassen von allen und allem, was mir bisher vertraut war. Ich war traurig und böse zugleich.

    Als meine Mutter schließlich ohne mich wieder ging, versprach sie mir, dass sie so schnell und so oft es ihr möglich war, mich besuchen kommt. Mir erschien die Zeit jedenfalls immer endlos lange.

    Die fremde Tante und der fremde Onkel waren nett und die Tante brachte mich später schließlich in mein Bett. Das Bett stand nicht in einem Zimmer, sondern im offenen Flur des oberen Stockwerks. Kraft- und mutlos, tieftraurig, stieg ich das hohe Bett hinauf, in dem ich nun für längere Zeit schlafen sollte. Ich sehnte mich nach meinem Zuhause, meiner Mutter, meinem Bruder, nach meinem Vater, den ich ab jetzt noch schmerzlicher vermisste und ich weinte mich in einen erlösenden Schlaf.

    Obwohl sich meine Pflegeeltern stets bemühten und nett zu mir waren, zu Hause fühlte ich mich nicht eine Stunde. Alles war und blieb mir fremd. Ich hatte schreckliches Heimweh. Sehnsüchtig dachte ich an meine Familie und hoffte an jedem Wochenende, dass mich hoffentlich meine Mama besuchen kommt. Mir kam die Zeit endlos vor und ich wartete enttäuscht von Woche zu Woche. Ich hatte entsetzliche Angst, dass mich meine Mutter vergisst und sich eines Tages auch nicht mehr meldet.

    In meinem grenzenlosen Kummer machte ich Nacht für Nacht ins Bett. Ich wurde zur Bettnässerin. Ich schämte mich vor der Tante ganz schrecklich, fand keine Erklärung dafür, konnte mich auch nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ins Bett gemacht hatte.

    Die Tante hat mich zwar nie dafür bestraft, jedoch immer vor sich hin geschimpft und vorwurfsvolle Andeutungen gemacht. Es machte mir mehr und mehr Schuldgefühle und ich wäre am liebsten jeden Morgen vor Scham im Boden versunken.

    Als es nach mehreren Tagen noch kein Ende nehmen wollte, hatte sie mir schließlich eine Gummieinlage ins Bett getan. Obwohl ich zu dieser Zeit noch so klein war, fühlte ich mich sehr gedemütigt. Meine Scham war grenzenlos.

    Nach schier endloser Zeit kündigte meine Mutter endlich ihren Besuch an. Ich freute mich riesig und konnte es kaum erwarten, meine Mama wiederzusehen.

    Bereits Stunden vorher, saß ich ordentlich zurecht gemacht auf der Außentreppe, um sehnsuchtsvoll darauf zu warten – dass sie endlich durch das Tor hereinkommt. Ich lauschte nach jedem Geräusch vor dem Hoftor und wurde von Minute zu Minute mutloser. Meine Angst, dass sie nicht kommt, wurde immer größer.

    Dann endlich kam sie durch das Tor. „Mama! Mama", ich rannte ihr schreiend entgegen, meine Freude war grenzenlos, ich war überglücklich. Ich klammerte mich an sie und wollte sie nie mehr loslassen.

    Sie hatte mir kleine Geschenke mitgebracht, über die ich mich riesig freute, sie bedeuteten etwas ganz Besonderes für mich. Darunter waren auch rote Lackschuhe, die mir besonders gut gefielen. Die stellte ich stets auf meinen Nachttisch, damit sie mich immer an sie erinnern sollten. Voller Stolz trug ich sie nur an den Sonntagen oder zu einem wirklich besonderen Anlass, damit sie ja geschont blieben.

    Peinlich folgte ich der Unterredung zwischen ihr und der Tante. Unter anderem, dass ich jede Nacht ins Bett mache. Meine Mutter hatte keine Erklärung dafür. Meine Scham – auch meiner Mutter gegenüber – war grenzenlos und ich wünschte mir, dass dieses peinliche Missgeschick bald vorbei sein würde.

    Zu den Pflegeeltern gehörte noch eine Tochter (Monika), die im Teenageralter war, bereits nicht mehr zur Schule ging und im Nachbarort in einem Geschäftshaushalt als Hausmädchen Dienst tat. Sie hatte bei den Dienstherren ein Zimmer und kam nur ab und zu nach Hause.

    Diese Tochter war für meine damaligen Begriffe schon recht erwachsen und hatte mit mir nicht viel am Hut.

    Monika hatte ein schönes Zimmer für sich alleine. Auf ihrem Bett hatte sie alle ihre Puppen und Teddys, die sie besaß, ausgebreitet. Darunter war auch ein alter, bereits sehr vergriffener, aber weicher Teddybär, der es mir besonders angetan hatte.

    Monika erlaubte mir, mit diesem Teddy zu spielen. Ich habe ihn mir zu meinem engsten Freund gemacht. Mit dem weichen, anschmiegsamen Teddy im Arm fühlte ich mich nicht mehr so einsam und konnte jetzt ein wenig getröstet sein.

    Die Tante und der Onkel waren außer Haus, um Besorgungen zu machen. An diesem Tag war ich mit Monika alleine zu Hause. Sie spielte mit mir, wir alberten durch das ganze Haus, rauf und runter. Ich war sehr ausgelassen und konnte so für kurze Zeit mein trauriges Los vergessen. Auch freute ich mich, dass Monika das erste Mal mit mir spielte.

    Übermütig rannte sie in das Obergeschoss, ich hinterher, bis sie im Schlafzimmer ihrer Eltern verschwand und die Tür hinter sich verschloss. Wartend stand ich davor und hämmerte gegen die Tür, aus der sie einfach nicht mehr herauskommen wollte, was mir große Angst machte. Die plötzliche Stille in dem großen, fremden Haus konnte ich kaum ertragen.

    Während ich wie wild an die Tür klopfte, damit sie doch endlich wieder herauskommt, ging die Tür endlich auf. Oh Schreck, ich starrte entsetzt in eine mir fremde Fratze. Monika stand als

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1