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Walter Schlorhaufer: Glasfeder: Werke und Materialien
Walter Schlorhaufer: Glasfeder: Werke und Materialien
Walter Schlorhaufer: Glasfeder: Werke und Materialien
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Walter Schlorhaufer: Glasfeder: Werke und Materialien

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WALTER SCHLORHAUFER (1920-2006) hat sich nicht nur als Arzt, sondern FRÜH schon auch ALS SCHRIFTSTELLER EINEN NAMEN GEMACHT. Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit taucht sein Name in wichtigen österreichischen Anthologien auf, die sich damals dem Zeitgeist, dem "Zeitungsgeist" (Andreas Okopenko) widersetzt haben, neben Autorinnen und Autoren wie Herbert Eisenreich, Hertha Kräftner, Christine Busta, Christine Lavant, Gerhard Fritsch oder Friederike Mayröcker. Und im selben Jahr, in dem Ilse Aichinger mit dem Roman "Die größere Hoffnung" debütiert, hat auch er SEINE ERSTE GROSSE ERZÄHLUNG veröffentlicht, "Die Liebesstationen des Leonhard Dignös" (1948). Seine schon damals unverwechselbare Stimme ist u. a. auch in Hans Weigels "Stimmen der Gegenwart" dokumentiert. Aber seine medizinische Karriere geht schließlich vor; ab 1973 leitet er die Universitätsklinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen in Innsbruck. Für literarische Arbeiten und die Aquarellmalerei, die ihn auch beschäftigt, bleibt kaum mehr Zeit. Erst 1987 meldete er sich mit neuen Beiträgen in Zeitschriften als Schriftsteller zurück, zunächst mit GEDICHTEN, mit "Briefschaften" und mit mehreren HÖRSPIELEN; zuletzt aber mit einem großen PROSA-PROJEKT, seiner Innsbruck-Trilogie ("Unverloren" 1993, "Mittwinter" 1998, "Weggefährten" 2001), in der er den "Kampf gegen das Gedächtnis" wieder aufnimmt und im Rückblick jene Zeiträume beleuchtet, die in den Wegen der Weggefährten ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen haben: die NS- bzw. Kriegszeit.
DER BAND VERSAMMELT DIE SCHÖNSTEN TEXTE WALTER SCHLORHAUFERS: eine Auswahl aus seinen Erzählungen, Gedichte aus den Jahren 1947-1960 und 1992-2001, Schriften zur Literatur und Kunst, Auszüge aus Korrespondenzen mit Rudolf Stibill und Peter Zwetkoff sowie Zeugnisse des Malers.
LanguageDeutsch
PublisherStudienVerlag
Release dateFeb 1, 2016
ISBN9783706558150
Walter Schlorhaufer: Glasfeder: Werke und Materialien

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    Book preview

    Walter Schlorhaufer - Walter Schlorhaufer

    Notiz

    Erzählungen

    Dignös

    Eine Kindheit

    An einem breiten Haus seiner Kindheit, das die Farbe wechselte wie es die Witterung vorschrieb, war an der mächtigen Vorderfront, in der Mitte des Mauerbandes zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk, noch der farbwelke Umriß einer großen Glocke zu erkennen und darüber, als wollte sie sich langsam einer unwürdigen Zeit entziehen, die Gottesmutter. Vielleicht waren früher einmal auch noch grüne Ranken um das Bildnis geschlungen gewesen, denn man hatte beim langen Hinaufsehen den Eindruck, als sei etwas Dürres, Vertrocknetes abgefallen. War es nun das Glockenbild oder handelte es sich um wirkliche Überlieferung, jedenfalls ging das Gerede bei den Leuten, in dem Hause sei in alter Zeit einmal eine Glockengießerei gewesen und nach ihr habe eine kleine Zündholzfabrik ihren Einzug gehalten. Ob Wahrheit oder nicht, jedenfalls betrieb zu ebener Erde ein Bäckermeister seinen Laden, der im ganzen Ort als „Glockenbäck bekannt war. Das war der Großvater. Aber auch der wußte nicht mehr darüber zu sagen, als daß er Geschäft und Ofen von einem Vorgänger übernommen habe, der aus irgendeinem Grund fortgezogen war. So brauchte es also für Leonhard Dignös nicht mehr Zeichen, um ein besonderes Spiel zu beginnen, das anderen Kindern nicht verraten werden durfte. Es bedeutete ihm kein Wunder, wenn nach langem Hinaufschauen zu diesem Glockenfleck, die Glocke sich langsam und behäbig abschwang, wie ein großer Vogel am Boden aufsetzte und ihn, nachdem sie ihren weiten Mund geöffnet hatte, im Schwall eines ausgestoßenen Tones auf singenden klingenden Wellen davontrug, weit hinaus, im Flug um die Erde. Wenn er dann die Augen wieder aufmachte, stürzte er benommen vom ohrenvollen Gebrause seines Erlebnisses auf den Weltenfleck zurück, der ihm zugewiesen war. Dieses Treiben wurde zum lockenden Spiel und er übte es wieder und immer wieder und wurde es nicht müde, sich der Glocke anheim zu geben. Ihre runde Beleibtheit bedeutete ihm warme, mütterliche Geborgenheit; ihr schallender Mund versprach ihm das ersehnte Großsein; ihre Beredtheit war ihm ein Wunder an Ausdruck und die Landweite ihres Tönens überholte selbst die Kühnheit seiner Träume. Das wirkte in ihm nach, obwohl er lange nicht über das Erlebnis sprach. Schließlich brachte es seine Zunge nicht fertig, das Geheimnis zu bewahren. Ganz von selbst ergab es sich, daß alles Edle und Schöne, ja alles, was unter einem guten Stern stand und besonderes Lob verdiente, glockenschön und glockengut war. Ist etwas von unermeßlicher Weite gewesen, dann war es glockenweit. Der Himmel erschien ihm glockenhoch. Seine Mutter, die ihn wahrhaft liebte, wunderte sich nicht wenig, als er einmal meinte, er habe sie glockenlieb. Für ihn war das unsagbar viel. So kam es, daß die Mutter es auch wie eine Selbstverständlichkeit hinnahm, alles, was Leonhard liebte, läuten zu lassen: Es läutete ein armes Kind, es läuteten die Blumen in Ruch und Farbe, es läuteten die Bilder an der Wand und es läutete das Licht. Ein frohes Erstaunen leuchtete aus Leonhards Gesicht, als es seiner Mutter einmal einfiel, eine Glockenspeise zu kochen. Sie war wunderbar. Da war es nur noch ein kleiner Schritt, daß irgendetwas Wunderliches glockte. Was das wirklich zu bedeuten hatte, war Leonhard Dignös nicht ganz klar. Sicher aber war es die tiefe Liebe und Hingezogenheit zum Gegenstand. Gegenstand? Längst war die Glocke kein Ding mehr, sondern eine wesensvolle Persönlichkeit, ausgestattet mit allen ihren Möglichkeiten, und wer wollte beschwören, daß Gott nicht eine Glocke war und die vielen Engel der mütterlichen Gebete nicht ein Wald von silbernen Glöcklein. Allmählich nur verdämmerte dieses Spiel mit der Glocke, wenn es auch nie ganz seine Anziehungskraft verlor. Die Liebe zur Sache blieb ebenso erhalten wie die Erinnerung an dieses kindliche Treiben und verlöschte in seinem Leben nie mehr. Vor allem aber trug es ihm den Beinamen „Glockengießer ein, den er selbst sehr gern gebrauchte und von dem er später nicht wußte, ob er ihn selbst erfunden oder ob ihm diesen die Mutter einmal wegen seiner kindlichen Leidenschaft verliehen hatte. Mit dem Eintritt in die Schule begann eine emsige Zeit, in der sich manchmal alles zu überstürzen schien. Nicht nur daß man seinen Kopf aushöhlte wie einen Kürbis, dessen weichen Inhalt man verwarf wie seine Träume, sondern man stopfte ihn auch mit strohigen Zahlen und Buchstaben voll, deren Formen er nur langsam erlernen konnte. Alles wandelte sich und zerfiel gleichsam in zwei Teile, in einen dunklen und in einen hellen, in einen guten und in einen bösen. Jedes Ding bekam zwei Seiten und wirkte verschieden, je nachdem man es groß oder klein schreiben mußte. So stellte sich ein eigentümliches Verhältnis zu den Schaufenstern seiner täglichen Straßen her. Vielleicht war eine gestikulierende Reklamefigur in einem Geschäft nicht bloß der Anlaß dazu, sie nachzuäffen bis er zu grimassieren begann, sondern auch der Anlaß zu dem Wunschtraum, einmal in einem solchen Schaufenster wohnen und schlafen zu dürfen, in dem an schönen, weichen Stoffen und seidenen Pölstern kein Mangel war. Warum er auf diese Idee kam, hätte er nicht zu sagen gewußt, schließlich lag er auch daheim nicht hart. Möglich, daß ihn der abenteuerliche Reiz des Überflusses dazu veranlaßte. Dann aber gab es auch Schaufensterscheiben, an denen er nicht ohne Ekel vorüberging. Noch als Erwachsener schüttelte es ihn beim Anblick eines Friseurladens, in dessen Schaufenster die abgeschnittenen Zöpfe an einer Schnur aufgereiht hingen wie Gehenkte. Der Geschmack einer Haarsuppe stieg in ihm auf, wenn die wachsgelben Büsten der Damen ihr rotes Lächeln wie einen Schminktiegel auf die Straße warfen, dabei aber nicht bemerkten, daß sich ihre Perücken verschoben hatten und ihre Schädel die bleiche Glätte eines Totenkopfes feilboten. Die kleinen Fläschchen mit Pomade, deren Etiketten sich am Inhalt vollgesogen hatten, die kalte Steifheit der Büsten und vieles andere verursachte schmierige Gefühle, so daß er beim Vorübergehen hätte die Augen schließen mögen, wenn es nicht auch lustvoll gewesen wäre, gerade diesen Ekel schamvoll aufsteigen zu fühlen. Als er auf die Heilige Kommunion vorbereitet wurde und aus diesem Grund ein Paar schwarze Lackschuhe bekommen hatte, starb plötzlich sein Großvater. Er bekam ihn nicht mehr zu Gesicht und hörte sagen, daß er nie mehr wiederkäme. Alle Leute im Haus waren aufgeregt und mit Geheimnissen beladen. Es kam Leonhard Dignös vor wie ein Bild von Weihnachten auf der Rückseite. Die beiden Lackschuhe hießen die Herren Canibal und waren sehr vornehm, denn auf ihren beiden Kappen vorne an der Zehenspitze spiegelte sich ihre unnahbare Haltung wider. Sie waren so vornehm, daß man sie nur bei Begräbnissen sah mit Frack und Zylinder. Sonst gab es sie nicht. Sie waren zwei Brüder, die irgendwo wohnen mußten, aber kein Mensch wußte wo. Sicher war es eine große unheimliche Wohnung, in der es immer etwas kalt war und nach Mottenpulver roch. Auch die besten Sachen der Mutter rochen danach, wenn die Wintersachen hervorgeholt wurden. Man konnte Dinge gar nicht mehr ehren, als daß man sie mit den weißen glänzenden Kügelchen versah, die abscheulich schmeckten. Sie empfingen durch diesen Geruch eine seltsame Weihe, so daß die beiden vornehmen Herrn unbedingt dazu gehörten. Die beiden hatten natürlich unter dem Zylinder versteckt eine Glatze, die wie der Fußboden der Küche am Samstag Abend war und die sich die beiden Herren anschafften, weil sie ebenso ungern zum Friseur gingen wie Leonhard. Außerdem hatten alle Herren, die einander mit „Ich habe die Ehre begrüßten, kahle Köpfe. Einige Wochen, nachdem man seinen Großvater zu Grabe getragen hatte, geschah es. Leonhards Lehrer hat im Klassenraum ein kleines Geldstück gefunden, das Leonhard unter dem Vorwand, er hätte es verloren, abholte. Weshalb er das tat, wußte er selbst nicht. Kopflos, planlos und schnell war es geschehen. Nicht etwa daß er nicht kleine Sehnsüchte gehabt hätte, die er sich mit dem Geldstück erwerben hätte können. Natürlich, deren Reihe riß nicht ab. Kandiszucker war auch darunter, aber kaum im Besitz der Münze, hatte er keinen Wunsch mehr. Auch die Angst bewirkte diesen sonderbaren Zustand nicht. Sie kroch erst später zusammen mit dem fast vergessenen Geldstück aus der Tiefe des Hosensackes hervor. Dann aber ließ sie ihn nicht mehr los und jagte ihn von Gedanken zu Gedanken. Es war auch nicht damit abgetan, daß er zur Beichte ging, denn er vermochte die Buße nicht zu erfüllen, nämlich das Geldstück mit einem offenen Geständnis wieder abzuliefern. Gleichzeitig schlich sich die Vorstellung ein, der verstorbene Großvater habe den Vorgang beobachtet und sei imstande, die Folgen des Diebstahls herauf zu beschwören, die er so fürchtete. So war es nicht verwunderlich, daß er immer wieder an seinen Großvater dachte und sich seines Lebens erinnerte. Der Großvater ist ebenso gutmütig wie dick gewesen. Leonhard versuchte daher mit allen Mitteln Verzeihung vom Verstorbenen zu erlangen. Leonhards Mutter, auch anderen fiel auf, wie sehr er sich um das Grab kümmerte. Er brachte Blumen, zupfte sorgfältig jedes Gräschen vom Grabhügel, entfernte jedes Steinchen, das nicht hingehörte. Doch seine Unruhe ließ nicht nach, im Gegenteil sie verstärkte sich täglich und das ersehnte Gefühl der Verzeihung überkam ihn nicht. Endlich hatte er den rettenden Gedanken. Eines Abends vor dem Einschlafen schob sich ein Vorfall in sein Bewußtsein, den er vergessen hatte. Es fiel ihm nämlich ein, daß ihm sein Großvater in leicht angetrunkenem Zustand einen Stock über den Kopf geschlagen hatte; zwar nur leichthin, aber ohne Grund. Darüber war er damals sehr gekränkt. Am nächsten Morgen stand sein Entschluß fest, die Angelegenheit endgültig abzutun. Er holte seine sorgsam verwahrte, unheilvolle Beute aus ihrem Versteck und trottete zum Friedhof. Dort grub er das Geldstück in die Erde des Grabes und sagte: „Großvater, du hast mich einmal mit einem Stock geschlagen. Nur so, weil du es wolltest, weil du zu viel Wein getrunken hattest. Das war nicht recht von dir, aber ich verzeihe dir und dann ist alles gut. Du aber mußt auch diese Münze vergessen, die ich bei dir vergraben habe. Der Großvater, rund wie ein Faß, schien zu nicken. Seit dieser Zeit stand Leonhard mit ihm in geheimnisvoller Weise in Verbindung. Er schaut zu ihm auf wie zu einem persönlichen Nothelfer. Indessen schob der Großvater seinen Bauch über die Wolken hin, zwirbelte vergnügt an seinem Schnurrbart und dachte an sein Leben. War er nicht in einem schönen Land geboren von einer Mutter, die eine herrliche Frau gewesen sein muß. Alles ließ sie liegen und stehen und machte sich auf nach Amerika. Nach Amerika! Er hätte es nie zustande gebracht, nach Amerika zu gehen, auch wenn er kein Kind hätte zurücklassen müssen. Und erst sein Vater! Ein reicher Mann in Eisenkappel, der mit einer großen Banknote im Wirtshaus seine Zigarre in Brand steckte. Zum Glück hatte der einen guten Bekannten, einen Bäckermeister, der ihm einen neuen Namen gab und ihn das Bäckerhandwerk lehrte mit viel Prügel. Dann kam die Frau des Lebens, die Marie mit den schönen Ohren, und dann die Kinder. Zwar nur Mädchen, aber gesund. Längst war der Großvater hinter weißen Wolken, wie sie auf dem Deckengemälde der Kirche zu sehen waren, verschwunden. Es war gegen Ende der Volksschulzeit, als seine Mutter Leonhard in die städtische Musikschule schickte. Zweimal in der Woche fand er sich nachmittags dort ein. Da waren lauter fremde Kinder, darunter auch ein Mädchen, das dem Begriff Schule etwas Neues, bisher nie Erlebtes hinzufügte. Es war ein Kellerzimmer, in dem der Unterricht stattfand. In seinen verschmierten Fenstern gingen die Beine der Straßenpassanten selbständig, in unregelmäßigen Abständen vorüber, und der Umstand, daß sie einem nicht auf den Kopf stiegen, erreichte einen hohen Grad von Zufälligkeit. Dazu kam noch, daß sie durch Gitterstäbe, die man von außen rostrot, von innen aber schwarz sah, eine sonderbare Unterteilung erhielten. Auch schlugen diese Eisenstäbe Schattenkreuze auf den Boden des fast leeren Raumes und schnitten die Geisterbeine der Vorübergehenden entzwei, ohne daß sie auseinander fielen, wie sonst Getrenntes zu tun pflegt. Auch der eigene Leib und die Körper der anderen zuckten nicht, wenn die Beine wie schwarze Messerklingen durch den Raum glitten. Leonhard tastete heimlich nach den Stellen, durch die Schatten hin- und hinausgefahren waren, aber er spürte nichts. In den nächsten Stunden suchte er sich einen Platz aus, an welchem ihm möglichst wenig abgesägt wurde. Mit Neugier sah er zu den Kindern hin, die es so traf, daß sie geköpft wurden. Er hielt den Atem an, sog sich an diesem gefährlichen Schattenspiel fest, aber es passierte nichts. Niemand schien diese Schermesser zu beachten, da war auch er zum Schweigen verurteilt. Er wurde etwas gefragt, hörte es, verstand aber nichts, denn er sah, wie aus der bestimmten Ecke, in der die meisten Kinder ihren Kopf wagten, ein gleichaltriges Mädchen ihn anschaute, so von der Seite her und mit einem gewissen Unterton des Heimlichen Worte zu flüstern schien. Sicher wollte sie ihm etwas sagen. Es stieg ihm eine Röte ins Gesicht so von den Ohren her. Plötzlich bewegte sich aus dem gegenüberliegenden Winkel wieder ein Schattenmesser auf den Hals dieses Mädchens zu. Der Schatten mußte den Hals treffen. In der Sekunde, in der das Schattengleiten dauern mochte, überfiel ihn die Angst, das Mädchen könnte sterben. Doch das schwarze Messer glitt über das Mädchen hinweg, schnitt allen Umstehenden durch den Hals, so daß sie die Mäuler aufrissen und ein großes rundes A hören ließen oder so etwas ähnliches. Damit war klar, daß auch er mitsingen sollte. Die Tage der nächsten Unterrichtsstunden waren Regentage; jedenfalls hatten die Beine in den Kellerfenstern keine Folgen und plagten Leonhard nicht. Er bekam Gelegenheit, am Unterricht Versäumtes nachzuholen. Er tat dies rasch und leicht. Wichtiger war ihm das unablässige Hinschauen zu dem Mädchenkopf. Meistens war es so, daß sich das Mädchen abwandte, wenn er hinsah und umgekehrt. Es gab aber auch Augenblicke, die Verbindungen herstellten und das Gesicht des anderen offen darboten und dem Mädchen ein Lächeln entlockten. Leonhard Dignös faßte einen Entschluß. Als er am nächsten Sonnentag mit nur mühsam verborgener Erregung das Klassenzimmer betrat, um vieles früher als die anderen, hatte er Zeit genug, die Wanderung des Schattens abzuschätzen und den sichersten Platz zu suchen. Dann aber setzte er sich erwartungsvoll auf die erste Treppe der Kellerstiege. Viele waren schon an ihm vorbei gerannt, bis endlich das Mädchen kam, Arm in Arm mit zwei unwürdigen Freundinnen. Ruhig stand er auf, nahm das Mädchen bei der Hand und führte die nur leicht Widerstrebende im Klassenraum zu dem vorher ausgesuchten Platz. Dort drückte er ihren Arm mit zarter Bestimmtheit nach unten, hier sollte sie stehen bleiben, was ihn an das Festdrücken eines eben ausgesetzten Pflänzchen erinnerte. Er aber ging in die Ecke, in der alle geköpft wurden. Als sich dann das erste Schattenmesser aus dem Fenster löste, tat er noch schnell einen Blick zu ihr hinüber, zur Geretteten, und er sah, daß sie stehen geblieben war. Gleich darauf schoben sich Farbringe in seine Augen. Das folgende Dunkel nahm er nicht mehr zur Kenntnis. In einer fremden Wohnung, es war die des Schulwarts, fand er sich wieder. Es roch nach Essen und Kreidestaub. Sein Hemdkragen stand offen und jemand erklärte sich bereit, ihn nach Hause zu bringen. Er aber wollte das nicht. So ging er fort. Im Treppenhaus hörte er sie drunten singen. Als er im Freien war und an den Kellerfenstern vorübergehen mußte, wich er nicht aus. Er wußte, daß sie sicher stand und die anderen nicht geköpft werden konnten, wenn sie es nicht wollten. Und das wollten sie sicher nicht. Er ging und empfand soetwas wie Sehnsucht, nur wonach? Das erste Mal nicht nach der Mutter.

    Der Dienstgang

    Wie schwer es doch ist, das Bild einer Stadt zu entwerfen, selbst wenn man in ihr geboren wurde und immer in ihren Mauern gelebt hat. Von ihrer Mitte, von ihrem Zentrum aus gelingt es nicht, das ist der Blick in einer Röhre aufwärts. Es bleibt einem dabei nichts anderes übrig, als nach oben zu sehen und jenes gestanzte Loch im Himmel zu beobachten.

    Also von der Peripherie her. Das ist in meinem Fall einfacher, denn ich brauche Sie nur zu bitten, mit einer runden Schere die verschiedenartigsten Wellenlinien aus einem Streifen Papier zu schneiden, wie man es in langweiligen Stunden manchmal zu tun pflegt. Sie bekommen dadurch sehr leicht ein Bild von den bewaldeten, rundköpfigen Bergen, die sich wie ein Faßreifen um die Häuser schließen. Erst nach langem Schauen wird man der kleinen Öffnungen in diesem Kessel gewahr, die auf ihren durchgezwängten Straßen Zu- und Abfluß gewähren und so recht erst das Leben ermöglichen. Von den Bergen wäre noch

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