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Verlogen
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Ebook791 pages10 hours

Verlogen

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About this ebook

Zuerst verschwindet eine Zeugin, dann hält ein neuer Mordfall Detektiv Chefinspektor Robert Nettles von New Scotland Yard auf Trapp.
Die Rätsel um die Bombe in Edinburgh werden immer Mysteriöser und zeitgleich verschwinden mehrere Kollegen spurlos.
Robert Nettles sieht sich einem Fall gegenüber, in dem Lügen und Halbwahrheiten fester Bestandteil sind und nichts so ist, wie es scheint.
Wem kann Nettles noch trauen und wo führen die Spuren hin?
LanguageDeutsch
PublisherLehmanns
Release dateDec 30, 2014
ISBN9783865417206
Verlogen

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    Verlogen - Francis Bee

    Francis Bee

    Verlogen

    Kriminalroman

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

    © Lehmanns Media, Berlin 2015

    Helmholtzstraße 2-9 • 10587 Berlin

    Titelbild: Francis Bee © 2001, Hannover - Friedhof Engesohde

    ISBN 978-3-86541-720-6 www.lehmanns.de

    1

    Esther Duffy sah den Mann, der urplötzlich im Türrahmen auftauchte, an. Noch bevor sie reagieren konnte, stand er schon vor ihr und drückte ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Sie wehrte sich mit aller Kraft und der Stuhl kippte geräuschvoll auf die Seite. Sie hoffte, dass irgendjemand auf dem Gang den Lärm gehört hatte und trat noch einmal zu.

    Das muss Robert doch hören, dachte sie verzweifelt.

    Er musste einfach von dem Geräusch aufwachen und ihr zu Hilfe kommen. Esther kämpfte gegen den Mann und eine aufsteigende Übelkeit an, als alles schwarz wurde und sie fiel.

    Der Fremde fing Esther auf, legte seine Hand um ihre Hüfte und ihren schlaffen Arm um seinen Nacken, klemmte den anderen Arm in seine Hand an der Hüfte, so als ob sie sich bei ihm abstützen müsste. Das Tuch steckte er in die Jacke und ging, sie halb tragend, aus dem Raum. Er hatte nicht viel Zeit. Die kleine Treppe war am anderen Ende des Gangs. Er vermied es, dass die Überwachungskameras sein Gesicht erfassen konnten und sicherte sich nach allen Seiten ab. Er schaffte die Strecke, ohne dass sich jemand auf dem Flur blicken ließ. Er hörte, wie sich eine Tür öffnete. Schnell war er mit seiner Beute im Treppenhaus verschwunden. Die Tür schloss er leise. Der Fremde hob die besinnungslose Frau hoch und trug sie mit Leichtigkeit die Treppe hinunter. Er vermied es seinen Kopf zu heben und verließ das Gebäude durch den Notausgang der Garage. Die Elektrik der Tür hatte er zuvor ausgeschaltet, sodass er auch durch einen intern ausgelösten Alarm das Präsidium immer verlassen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Verschwinden der Frau bemerkt und dieser Inspektor stutzig wurde. Er huschte mit seiner Fracht auf die schmale Straße, wo ein schwarzer Kombi stand. Die bewusstlose Frau legte er in den geräumigen Kofferraum und schob die Gepäckabdeckung zu. Mit gesenktem Kopf stieg er ein und fuhr ohne Hektik aus der kamerabewachten Zone. Das Tor stand weit offen. Niemand hatte das bisher bemerkt. Der Mann fuhr im Schritttempo die schmale Einbahnstraße entlang, die vom Polizeipräsidium wegführte, als sich das große Tor zum Hauptgebäude, von einer Sirene begleitet, automatisch schloss. Jetzt hatten sie es bemerkt.

    Sämtliche Türen schlossen sich automatisch. Niemand kam hinein oder hinaus, einige steckten fest. Der Alarm war ohrenbetäubend und einige, die sich nahe genug bei den Lautsprechern befanden, hielten sich die Ohren zu.

    Der Mann entfernte sich unentdeckt und triumphierend. Er schaute durch den Rückspiegel auf das Hauptgebäude des Scotland Yard, das sich selbst abschottete. Es konnte Stunden dauern, bis sie merkten, dass er mit seiner Beute schon lange verschwunden war. Er nahm sich Zeit, fuhr in aller Ruhe um das Yard herum und überquerte die Victoria Street. Er wollte in südliche Richtung und musste an der Kreuzung anhalten und warten.

    2

    Ein Telefonanruf erschütterte das Leben von Timothy Stanford aufs Äußerste. Er schoss so schnell ihn seine Beine trugen auf die Straße und zum nächsten Taxi, dass er auf der Straße sehen konnte. Er schrie „Taxi!". Es hielt direkt vor seinen Füßen, da er sich todesmutig auf den Kühler stürzte und mit den Händen anscheinend zum Stehen brachte. Der Fahrer war wütend und schimpfte wie ein Rohrspatz über den angeblich Lebensmüden.

    „Zum Springfield University Hospital!, rief Stanford beim Einsteigen dem Fahrer zu. Als er schon drinnen saß: „Schnell bitte! Das ist ein Polizeieinsatz! Das beunruhigte den Taxifahrer nicht im Geringsten. „Okay?! Dann zeigen Sie mal ihren Dienstausweis", forderte er trocken. Er war schon in Bewegung, allerdings nicht schneller, als erlaubt war.

    Timothy griff in seine Jacke. „Ah, Mist! Den habe ich im Büro vergessen. Aber dennoch, wenn Sie keine Anzeige haben wollen, dann hurtig!"

    Der Taxifahrer schüttelte den Kopf und ließ sich nicht beirren. Er fuhr mit gleich bleibender Geschwindigkeit weiter.

    Timothy ärgerte sich über diese Ignoranz und grummelte Unverständliches in Richtung des Fahrers. Der ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken.

    Fast eine Dreiviertelstunde später bog das Taxi auf den Parkplatz des Krankenhauses ein. Timothy Stanford bezahlte, gleichzeitig Wuttiraden auf den Taxifahrer schmetternd, und rannte zur Anmeldung.

    Die Umgebung war für Autos großzügig gesperrt und man konnte nur zu Fuß zum Hauptgebäude gelangen. Die modernen zwei- bis dreistöckigen Gebäude waren im Klinkerbaustil gehalten. Die angegliederte Universität bot den Medizinstudenten den praktischen Einblick in die menschliche Anatomie.

    Eine Dame saß hinter einer Scheibe der Anmeldung, die wie in einer Bank die Besucher vor Übergriffen abschirmen sollte. Die Glasscheibe hatte kleine Öffnungen und so konnte Timothy Stanford gewiss sein, dass sie ihn auch hörte.

    „Entschuldigung? Wo finde ich Finley Connor?, fragte er. „Einen Augenblick, sagte sie, ohne ihn richtig in Augenschein genommen zu haben und scrollte mit der Maus ihres PCs in einer Liste. Sie suchte, rückte dreimal ihre Brille zurecht und scrollte nach oben und wieder nach unten. „Wie war der Name?", fragte sie schließlich nach.

    „Finley Connor! Timothy war gereizt und versuchte etwas zu sehen, aber der Bildschirm war weggedreht. „Es geht ihm schlecht. Er wurde mit einem Messer drangsaliert und liegt auf der Intensivstation, erklärte er, in der Hoffnung, dass sie mit der zusätzlichen Information etwas anfangen konnte.

    Sie konnte. „Ach, ja. Da steht es ja, antwortete sie bedeutungsvoll und tippte dabei auf den Monitor. „Aber es tut mir schrecklich Leid. Mister Connor ist vor einer halben Stunde verstorben.

    Timothy hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er schluckte und sah die Frau hinter der Scheibe entsetzt an.

    „Nein! Nein! Das kann nicht sein!, rief er. „Wo ist er?

    Die Frau starrte ihn durch die Scheibe an.

    „Wo… ist… er jetzt?", fragte Stanford die Worte überdeutlich aussprechend.

    Sie sah auf den Monitor. „Er wird in der Halle aufgebahrt."

    Timothy schluckte erneut und fragte flüsternd: „Wo…, wo ist das?"

    „Im Untergeschoss." Sie zeigte mit dem Daumen hinter sich.

    Timothy Stanford sah sie verständnislos an. Er musste in die Pathologie. Das erinnerte ihn stark an die Krimis, wo die Rechtsmediziner, die nach einem Mordfall den Leichnam, das Opfer, nach den Todesumständen untersuchten und hässliche Narben an ihnen hinterließen.

    „Da hinten runter", wies sie nun mit dem gesamten Arm.

    Timothy ging mit wackeligen Knien in die Richtung, in die er geschickt wurde. Er kam an einen Treppenabsatz, an dessen Pfeiler eine Tafel angebracht war. Dort stand in klaren Lettern, unterstützt von Pfeilen, wohin er gehen musste. Verdammt! Hier gibt es ein Krematorium, dachte er.

    Er lief die Treppe langsam hinunter. Ihm war, als ob es der Weg in die Hölle sei und sein Herz pochte dabei. Er fühlte Angst und er wünschte sich, dass das, was diese Frau sagte, nicht stimmte, sondern nur wieder so ein dämliches Spiel von Finley war. Er hatte oft makabre Ideen und ihm zu seinem Geburtstag mit gruseligen Figuren, die sich bewegen konnten und aus seinen Filmen stammten, Angst eingejagt. Aber das hier schien ihm eine Nummer zu abgefahren. Er war immerhin in einem echten Krankenhaus und der Anruf kam vom Scotland Yard. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die da alle mitmachten. Und Geburtstag hatte auch niemand. Sollte es ein schlechter Vorweihnachtsscherz sein?

    Im Untergeschoss war es merklich kühler als oben. Der Gang war kahl, breit und schien kein Ende zu haben. Einige gelblich glühende Lämpchen rechts und links an der Wand erreichten fast eine angenehme Atmosphäre. Die Stahltüren, weiß getüncht, sahen schwer aus und waren verschlossen und er sah durch die Fensterscheibe in einen der Räume. Es war dunkel. Ein anderer wurde mit grellen Neonlampen beleuchtet und die Helligkeit stach in den Augen. Er kniff sie automatisch zu, um nicht geblendet zu werden. Es waren Stahlschränke mit riesigen Schubladen in zwei übereinander liegenden Reihen zu sehen. Ein blanker Stahltisch stand in der Raummitte. Hinter der vorletzten Tür fand er einen lebenden Mann mit einer Akte in der Hand, vor ihm ein Stahlbett mit einem weißen Laken, das etwas bedeckte. Der Silhouette nach, ähnelte es einem menschlichen Körper. Dahinter standen weitere Tische mit weiteren Toten.

    Timothy schluckte. Eine Leiche. Nein, zwei Leichen. Du hast es echt weit gebracht, dachte er und klopfte. Der Mann sah auf und winkte ihm einzutreten. Timothy öffnete die schwere Tür. Drinnen war es noch kälter und er konnte seinen Atem sehen. Hätte er nicht seine Winterjacke angehabt, dann hätte er sicher gefroren. Jetzt zitterte er mehr vor Angst.

    „Willkommen in der Gruft", sagte der Mann in dem weißen Kittel fast schon fröhlich. Er war der Meinung einen Witz gerissen zu haben und schien sich über den unverhofften Besuch zu freuen.

    „Was… was ist das hier?", stammelte Timothy und wollte es nicht wahr haben.

    „Sie sind in der Leichenhalle des Krankenhauses, Junge."

    Timothy Stanford entdeckte weitere Stahltische mit Körpern. Der Raum war nach hinten hin im Winkel angelegt und um die Ecke wurde eine breite Halle sichtbar.

    „Ähm…, ich … wollte eigentlich nur zu meinem Freund. Er ist hier in dem Krankenhaus." Timothy machte eine Pause und er zählte heimlich die Leichen, die als unebene, mit weißen Laken abgedeckte Körper über den Boden zu schweben schienen. Die dünnen Stahlbeine der Tische waren kaum sichtbar. Das helle Licht an der Decke, das die weißen Laken grell leuchten ließ, warf mit Hilfe der blanken Stahltische lange, dunkle Schatten, die an ein Gitter in einem Verließ erinnerten. Timothy Stanford fühlte sich unwohl.

    „Wie heißt er?", fragte der Mann, der um die siebzig Jahre alt sein musste, so wie er aussah. Das Geschäft mit den Toten schien sehr anstrengend zu sein.

    „Fin…, Finley Connor", stammelte er und betete noch immer, dass das ein Scherz war und sich der Spuk gleich mit einem Knall in einer riesigen Untergrundparty auflöste. Aber es geschah nichts dergleichen. Der Mann blätterte in der Akte und lief zu einem der kalten Stahltische in der Halle. Er hob das Laken an und ein bleicher Fuß, ähnlich wie Marmorstein, wurde sichtbar. Ein kleiner Zettel hing an dem großen Zeh, den sich der Mann nun näher ansah.

    „Das ist er", sagte er so, als sei er auf eine Goldader gestoßen. Timothy Stanford fiel einfach um.

    3

    Robert Nettles rief alle zu einer kurzen Lagebesprechung auf den Flur.

    Die Durchsuchung des Präsidiums war innerhalb von zehn Minuten durchgeführt, hatte aber kein befriedigendes Ergebnis gebracht. Nur die Bestätigung, was Nettles schon befürchtet hatte. Esther Duffy war in den Händen von Entführern. Das machte ihn wütend. Aber wer hatte sie nun entführt? Hatte der britische Geheimdienst die imaginäre Grenze der Legalität nun vollends hinter sich gebracht? Aber es war egal. Nettles schüttelte den Kopf und er trank lustlos seinen Kaffee, den Willie Evens ihm unaufgefordert in die Hand gedrückt hatte. Eigentlich hatte er Hunger, aber ihm wurde bei dem Gedanken an Essen übel.

    Harriet Clarks kam den Gang entlang gestürmt und war voller Zorn. „Die haben es einfach nicht gemacht!", rief sie, als sie vor der Gruppe stand.

    „Wer hat was nicht gemacht?", fragte Nettles in ruhigem Tonfall.

    „Die Leute von der Sicherheitseinheit … für das Gebäude … sie haben den Befehl erhöhte Sicherheitsmaßnahmen einzubauen einfach ignoriert! Nichts wurde verändert, keine bessere Überwachung, keine weiteren Kameras, keine neuen Sicherheitsschlösser! Der Befehl wurde nicht ausgeführt. Wir haben hier ein echtes Sicherheitsproblem!", schrie sie, dass es im Flur hallte.

    „Haben wir irgendetwas über die Entführung?", fragte Nettles nur.

    „Nicht viel. Er kannte sich offenbar sehr gut aus. Er ist durch sämtliche Sicherheitsvorkehrungen problemlos durch. Kein Alarm wurde ausgelöst und keine Kamera hat sein Gesicht erfassen können. Er wusste, wo sie angebracht waren und welchen Raum sie aufnehmen können", erklärte Harriet.

    „Aber wir wissen, wie groß er ist", bemerkte Evens.

    „Ich höre", sagte Nettles und beugte sich ein wenig vor, damit er nichts verpasste.

    „Der Mann ist ungefähr einen Meter fünfundachtzig bis neunzig und hat dunkle oder schwarze Haare. Aufgrund eines Schnappschusses von der Seite, muss er etwa Mitte dreißig sein", erklärte Evens.

    „Und er ist ziemlich kräftig", ergänzte Harriet.

    „Wieso denkst du das?", fragte Nettles.

    „Er hat Esther Duffy … naja, es sieht so leicht aus, wie er sie durch die Gänge und die Treppe runter trägt. Es macht den Eindruck, als ob sie nichts wiegen würde. Es scheint, als wenn er nicht einmal aus der Puste gekommen ist."

    „Er ist durchtrainiert, mutmaßte Nettles. „Ich will die Aufnahmen sehen, forderte Nettles.

    „Hier." Evens hatte einen USB-Stick dabei. Sie liefen in den Besprechungsraum und Willie steckte den Stick in den Schlitz am Fernsehbildschirm.

    Nettles betrachtete gespannt die Aufnahme. Ein großer Mann in dunklem Anzug und mit einer ebenso dunklen Baseballmütze lief den Gang entlang. Er hielt seinen Kopf so, dass nichts von seinem Gesicht zu sehen war. „Er weiß genau, wo die Kameras sind", sagte Nettles. Seinen Kragen hatte er so hochgeklappt, dass kaum etwas von seinem Hals oder Haaransatz sichtbar war. Er bewegte sich sicher und kannte den Weg.

    Alle sahen gebannt zu, wie der Mann zielstrebig in Bohltens Büro lief und einige Sekunden später, mit einer leblos wirkenden Esther Duffy, das Büro in die andere Richtung des Ganges verließ.

    „Er kennt sich hier gut aus", sagte Bohlten, der den Mann musterte.

    „Zurück", sagte Nettles zu Harriet.

    „Wie weit?"

    „An die Stelle, wo er in das Büro hineingeht." Harriet spulte den Film zurück und drückte auf Pause.

    Sie wartete auf ein Zeichen. Der Mann war im Begriff in das Büro einzubiegen. Nettles sah auf seine Armbanduhr. „Jetzt!"

    Es dauerte genau zwanzig Sekunden. Genug Zeit um sie widerstandslos zu machen. Nettles hatte es mit einem Vollprofi zu tun. Seine Miene verfinsterte sich, als er sagte: „Wir müssen sie finden. … Schnell!" Nettles war nervös und er konnte nicht stillhalten. Dass er seine Nervosität zeigte, war neu an ihm.

    „Weiter", sagte Nettles zu Harriet, die den Film angehalten hatte.

    Die folgende Sequenz zeigte, wie der Mann mit seiner Beute zur Treppe ging. Die Tür fiel selbsttätig, aber langsam wieder zu. In der nächsten Aufnahme trug der Fremde Esther auf den Armen die Treppe hinunter. In einer Kurve musste er seinen Kopf etwas weiter drehen und für einen Bruchteil einer Sekunde war ein Teil seines Gesichtes zu sehen.

    „Etwas zurück und dann ganz langsam vor", sagte Nettles.

    Harriet hatte es auch gesehen und versuchte es. Die Aufnahme war unscharf.

    „Den Ausschnitt vergrößern!, befahl Nettles. „Und zu Benjamin damit.

    Evens lief los, um den Ausschnitt vergrößern und sichtbarer machen zu lassen.

    „Weiter", forderte Nettles Harriet auf.

    Sie sahen wie er die Garage betrat, immer noch mit Esther auf seinen Armen. Er trug sie tatsächlich so, als würde sie nichts weiter sein, als eine Puppe aus Plastik. In der Garage kam kein Beamter, um den Eindringling aufzuhalten oder zumindest zu fragen, was er mit einer bewusstlosen Frau im Arm vorhatte.

    „Wo ist die Wache denn hin!", rief Bohlten aus, als er auch schon den Telefonhörer in der Hand hatte.

    „Keine Ahnung, antwortete Harriet. „Da war niemand in dem Moment, als er die Garage durchquerte.

    „Da war niemand", wiederholte Nettles, wie aus weiter Ferne.

    „Stimmt. Das habe ich überprüft. Der Name auf der Liste für die Wache in der Garage lautet Dick Wagner. Aber einen Polizisten mit diesem Namen gibt es im gesamten Yard nicht. Schneider hat eine Anfrage über den Computer gestellt und keinen Eintrag gefunden", erklärte Harriet.

    Nettles dachte über diesen Dick Wagner nach. „Wo ist dieser Constable Fishburne?", als ihm die Visitenkarte einfiel. Nettles suchte in seinen Taschen, fand sie und gab sie Bohlten, der ihn anrufen würde.

    Der Rest des Filmes zeigte, wie der Mann scheinbar seelenruhig mit Esther auf dem Arm durch den Notausgang nach draußen trat. Die Tür fiel nicht gleich wieder zu, sondern schloss sich nur langsam.

    Nettles sah einen Wagen. „Stopp!"

    Harriet stoppte die Aufnahme und ging wieder ein Stück zurück. Auch sie hatte das Fahrzeug gesehen.

    „Da. Ein dunkles Auto. Stell die Automarke fest."

    Harriet rief Willie an und erklärte ihm die Stelle mit dem Auto anhand der Zeitanzeige am unteren Bildrand. „Willie wird Chloe Schneider die Stelle zeigen. Benjamin ist nicht im Hause. Sie sah ihren Chef an, der plötzlich in sich versunken auf die Tischplatte starrte. „Chef, wir finden sie. Harriet strich ihm kurz über die Hand, die er auf die Tischplatte gelegt hatte, als ob er sich zusätzlich abstützen musste.

    Er nickte und tat so, als ob er ihre Hand nicht gespürt hätte. „Ist draußen auch eine Kamera?", fragte er stattdessen.

    „Ja. Sie war nicht in Betrieb."

    „Ausgeschaltet?" Nettles war entsetzt.

    „Ja."

    „Also keine weiteren Bilder?"

    „Nein, Chef."

    „Hör doch mal mit dem Chef auf", sagte er genervt.

    „Ja", antwortete Harriet eingeschüchtert.

    Nettles musste grinsen und gleichzeitig sah er auf seine Uhr. Seit der Entführung sind nun circa dreißig Minuten vergangen.

    „Fishburne ist auf dem Weg hierher, sagte Bohlten, als er wieder den Raum betrat. „Es war niemand in der Garage und auch draußen fehlte der Wachmann. Er ist angeblich auf der Toilette gewesen.

    „So lange?", fragte Harriet.

    „Durchfall, antwortete Bohlten und fügte an: „Ich habe ihn zu Dave geschickt. Er wird herausfinden, ob es wirklich Durchfall war.

    Nettles dachte krampfhaft nach. „Er bewegte sich hier, als ob er sämtliche Türen, Ein- und Ausgänge, und die Positionen der einzelnen Überwachungskameras kennt. Er hat offenbar keine Angst, dass man ihn auf dem Gang sieht oder anspricht, nur vor den Kameras verbirgt er sein Gesicht. … Was hat das zu bedeuten?"

    „Er ist ein Polizist", sagte Bohlten sicher.

    „Ja, … vielleicht", antwortete Nettles.

    „Könnte er auch vom SIS sein?", fragte Harriet nun.

    Nettles schaute sie an. Kluges Mädchen, dachte er. Nettles nickte zustimmend und erklärte: „Auch das ist möglich, aber die lassen sich nicht in die Karten schauen. … Auf dem Parkplatz … dort, wo der dunkle Wagen stand … dort könnten Spuren sein", sinnierte Nettles laut vor sich hin.

    Bohlten wollte loslaufen. „Warte Martin, stoppte Nettles ihn. „Hunde. Wir setzen Spürhunde ein. Sofort und schnell!, forderte er mit Nachdruck.

    Bohlten nickte, griff in seine Jackentasche und gab Nettles das Mobiltelefon, welches Esther Nettles abgenommen hatte, damit er nicht gestört wurde. Irritiert sah er das Telefon an und griff sich automatisch in seine Jackentasche, wo es hätte stecken müssen. Bohlten verließ den Raum, ehe Nettles etwas fragen konnte, um einen Spezialisten für die Spuren auf Asphalt zu besorgen.

    Kaum fünf Minuten später war die Straße bis zur Hauptstraße abgesperrt. Zwei Forensiker waren schon lange mit der Spurensicherung fertig und im Labor verschwunden und der Hundeführer kam mit dem Spürhund den Gang entlang. Ein Schäferhund, ausgebildet, um vermisste Personen aufzuspüren, der auf den Namen Champ hörte. John Carson, der Inspektor der Hundestaffel, war mit seinem Mitarbeiter und dem Hund zufällig im Präsidium. Sie wurden von Bohlten mit wenigen Worten eingewiesen.

    Nettles hielt dem Hund Esthers Jacke vor die Nase und beobachtete, wie der Hund die Witterung aufnahm und in atemberaubender Geschwindigkeit bis zum Parkplatz vordrang. Polizisten hielten die Türen auf und die Leine schien viel zu kurz. Er zerrte und schnüffelte und der Hundeführer sprach fast ohne Unterlass auf ihn ein: „Such! … Such! … Such mein Guter, such!"

    An dem Platz, wo der Wagen gestanden hatte, schien sich die Spur zu verlieren. Aber sie irrten sich gewaltig. Irgendein Geruch lag noch in der Luft, dem der Hund nun hinterher schnüffeln wollte.

    Nettles flüsterte Harriet zu, sie solle einen Wagen holen und an der Hauptstraße warten. Sie rannte los.

    Der Hund zerrte an der Leine und Nettles wies den Hundeführer an locker zu lassen. Der lehnte mit dem Hinweis ab, dass es genug wäre und der Hund ausruhen müsse.

    Nettles ignorierte ihn und öffnete die Sicherung zur Leine. Er griff einfach zum Halsband und hielt den Hundestaffelführer mit dem linken Arm auf Abstand. Der Schäferhund schnüffelte kurz an Nettles Hand und rannte nun ungebremst los und Nettles hinterher. Champ hielt kurz an der befahrenen Straße inne. Er schnüffelte an einer bestimmten Stelle und lief weiter.

    Nettles saß schon im Wagen, als die ersten Motorradfahrer der Metropolitan die Straße für den Hund absicherten. Bohlten sorgte über Funk für eine freie Fahrt. Einsatzfahrzeuge fuhren hinter dem kleinen Convoy hinterher.

    Harriet lenkte das Fahrzeug dicht hinter dem Hund. Der Hundeführer Carson saß in einem zweiten Fahrzeug, das für den Hundetransport ausgerüstet war. Er hängte sich mit dem Oberkörper halb aus dem Fenster und rief dem Hund etwas zu, was Nettles akustisch nicht verstand. Nettles empfand das ständige Gequatsche als überflüssig, da der Hund unvermindert der Spur folgte und nicht den Eindruck machte, dass er damit aufhören wollte.

    Das Telefon vibrierte. „Nettles. … Okay, danke. Gute Arbeit", sagte er zu seinem Gesprächspartner.

    „Das war Evens. Das Auto auf dem Parkplatz war ein Volkswagen. Farbe schwarz. Es muss ein Kombi gewesen sein, vermutlich ein Passat. Volkswagen, ein deutsches Fabrikat, und der Kerl scheint ein Südländer zu sein", sagte er zu Harriet, die versuchte den Abstand zum Hund gleichmäßig einzuhalten.

    Wieder klingelte das Mobiltelefon. Diesmal war Bohlten dran. „Ja, … danke.

    … Fishburne ist inzwischen im Präsidium eingetroffen und kümmert sich um die Einteilung der Wachen in der Garage", erklärte Nettles, während er dem schnüffelnden Hund zusah.

    Der Hund lief mal schneller mal langsamer, mit seiner Nase knapp über dem Boden oder hocherhoben in die Luft gestreckt. Dann rannte er ein ganzes Stück, um plötzlich wieder zu stoppen. An einer Linkskurve blieb er schnuppernd stehen. Er führte seine Nase dicht über den Boden, aber er schien die Spur verloren zu haben. Der Schäferhund lief umher und suchte nach der verlorenen Spur in der Luft, lief ein Stück zurück und wieder vorwärts. Er schien unsicher in welche Richtung die Spur führte.

    Der Hundeführer stieg aus seinem Fahrzeug.

    Nettles ebenso und hielt den Hundeführer am Arm zurück. „Lassen Sie ihn. Mit dem Finger auf seinem Mund zeigte er ihm, endlich den Mund zu halten. Er wollte protestieren, aber Nettles sagte scharf „Nein!, und schüttelte dabei warnend den Kopf. Der Hundeführer war Inspektor und hatte dadurch einen Rang, der ihn qualifizierte, eigene Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Dennoch musste er die Weisungen eines Chefinspektors befolgen.

    Der Schäferhund lief eine Weile an der Ecke auf und ab. Mit der Nase im Wind rannte er urplötzlich weiter.

    Nettles sprang in den Wagen. Der Hundeführer war sauer auf Nettles und drohte ihm mit seiner Faust. Nettles ignorierte die Geste.

    Der Hund lief Richtung Themse und verließ schließlich die Straße. Er rannte zum Ufer hinunter auf einen Parkplatz und schnüffelte am Heck eines schwarzen Fahrzeugs. Es war der Passat. Der Schäferhund schnüffelte an der Klappe und rannte sofort weiter. Hier konnten sie mit den Autos nicht mehr weiter und mussten zu Fuß hinter ihm her laufen. Nettles war schnell aus dem Fahrzeug und lief eine Treppe hinunter, über einen asphaltierten Platz mit abgestellten Bootstransportern und über die Planken von Anlegestegen. Der Schäferhund lief weiter bis zu einem bestimmten Steg und legte sich an eine leere Anlegestelle. Hier war die Spur zu Ende.

    Nettles ging bis zu dem Hund, langsam, um ihn nicht zu erschrecken. Der Hund sah den Chefinspektor hechelnd an. Seine Zunge hing lang aus seinem Maul heraus und wackelte mit der Schnelligkeit des Hechelns. Nettles kniete sich zu dem Spürhund hinunter und streichelte ihn. „Gut gemacht. Das war richtig klasse." Der Hund schien ihn zu verstehen, denn er wedelte nun heftig mit dem Schwanz und leckte Nettles die Hand ab. Nettles kraulte ihn hinter dem Ohr, dass der Hund genüsslich seinen Kopf verdrehte.

    „Der Chef als Hundeversteher", sagte Harriet Clarks ungläubig. Aber sie hatte es gesehen und konnte doch nicht an dem Zweifeln, was sie da sah.

    Inspektor Carson rannte an ihr vorbei und stürzte sich wutentbrannt auf den Chefinspektor. Er holte noch im Lauf kurz aus und versetzte Nettles einen saftigen Kinnhaken.

    „Nein!", schrie Harriet im selben Moment. Sie kam angelaufen, als sie sah, wie ihr Chef zu Boden ging und benommen auf dem Steg landete. Der Schäferhund reagierte verwirrt, winselte und wusste nicht, was er tun sollte.

    „Chef? Robert? Harriet sah den Inspektor der Hundestaffel wütend an. „Sie sind ein Schwein!, schrie sie Carson an, der den verwirrten Schäferhund tätschelte und an die Leine nahm.

    Nettles hielt sich das Kinn und verdrehte seine Augen, so als ob er nicht klar sehen konnte. Er strich sich mit der Hand über den Mund und fühlte Feuchtigkeit. Es war Blut. Seine Lippe war aufgeplatzt.

    „Das wird ein Nachspiel haben!", rief Harriet Clarks.

    Bohlten war ebenfalls zur Themse gefahren und traf ein, als Nettles zu Boden ging. Nun sah seinen Freund auf den Planken sitzen. „Was ist hier los?" Sein Bass dröhnte und schien über den Fluss zu hallen.

    Harriet erklärte mit einem Satz den Sachverhalt.

    „Was fällt Ihnen denn ein?! Sie greifen den Chefinspektor der Mordkommission an?, schrie er den Hundeführer an. Der Hund schlug nun an und wollte Bohlten angehen. Bohlten ließ sich nicht beirren. Mit einem Wink holte er den zweiten Hundeführer heran, der den Transporter gefahren hatte. „Nehmen Sie den Hund und bringen Sie ihn fort, damit er sich beruhigen kann, sagte er in normalem Tonfall zu ihm. Der Mann nahm die Leine in Empfang und ging mit dem winselnden Hund zum Auto.

    „Was haben Sie sich dabei gedacht!, tobte Bohlten, während der Hundeführer auf das Holz starrte. „Antworten Sie und sehen Sie mich an!, donnerte Bohlten.

    Er sah in die wütenden Augen Bohltens, der fast zwei Köpfe größer war. „Der Chefinspektor hat meinen Hund überbeansprucht. Er wird für Tage, vielleicht für Wochen ausfallen", antwortete Carson eher ängstlich. Er hatte den ersten Schock noch nicht verdaut.

    Nettles erhob sich, Harriet unterstützte ihn, und ging zu dem Hundeführer heran. Er tupfte sich mit einem Taschentuch das Blut ab. Sein Kinn schwoll in Sekunden an, das konnte er fühlen. „Sie haben von Hunden doch gar keine Ahnung.", sagte Nettles in ruhigem Tonfall und es schwang eine Portion Verachtung mit.

    „Ich bin Inspektor und der Chef der Hundestaffel! Und ich habe in jedem Fall mehr Ahnung als Sie!", brüllte er zurück.

    „Es ist mir ein Rätsel, wie Sie Hundestaffelführer geworden sind. Mal abgesehen davon, dass ich Detektiv Chefinspektor bin. Also stehe ich in der Rangordnung über Ihnen."

    Das schien den Hundestaffelführer wenig zu beeindrucken, denn er griff nun erneut an. „Sie haben mit Ihrer Eigenmächtigkeit vielleicht einen hervorragenden Spürhund versaut. Diese Hunde sind sensibel und auf ihre Führer spezialisiert und nicht auf einen…, einen…!"

    Nettles hob den Zeigefinger. „Passen Sie auf, was Sie sagen", warnte er ihn.

    Wenn er Nettles jetzt noch beleidigte, konnte er suspendiert werden. So würde er vielleicht nur versetzt werden. Den Posten des Hundeführers in der Hundestaffel wird er in jedem Fall verlieren.

    „Abführen!", donnerte Bohlten einem Constable zu, der das Ganze ebenfalls mit Missmut beobachtet hatte.

    Inspektor Carson wurde von dem Constable vom Steg geführt. Die Waffe wurde ihm abgenommen und er selbst in einen Einsatzwagen gesteckt.

    „Gehört der Hund ihm?", fragte Nettles in die Runde. Die anwesenden Polizisten schüttelten den Kopf oder hoben unwissend die Schultern.

    „Ich stelle es fest, versicherte Harriet. „Das muss schnell gekühlt werden. Ich hole Eis.

    „Wo willst du jetzt Eis herbekommen?", fragte Bohlten, der die angeschwollene Stelle an Nettles´ Kinn betrachtete.

    „Von dort." Sie zeigte auf eine Bar oberhalb des Anlegestegs und lief los.

    „Bob? Soweit alles in Ordnung?", fragte Bohlten seinen Freund besorgt.

    „Ja. Es geht schon wieder. Er hat mich nur überrascht. Damit hatte ich einfach nicht gerechnet. Das ist alles."

    Nettles stand auf dem Steg und sah über Londons breiten Fluss. Es waren jede Menge mittelgroße Schiffe, Ausflugsboote und kleinere Boote unterwegs. Er wusste, dass es schwierig werden würde Esther zu finden, wenn nicht sogar aussichtslos. „Wir müssen feststellen, welches Boot hier gelegen hat und wem es gehört. Und vielleicht hat jemand etwas gesehen. Ich glaube kaum, dass Esther selbstständig zum Boot ging. Er hat sie sicher getragen oder gestützt, wie er es im Präsidium getan hat. Das muss aufgefallen sein. Kameras gibt es hier nicht, oder?"

    „Ich werde das mal erfragen, aber ich glaube nicht. Es gibt eine Menge Anlegestellen an der Themse. Die werden im Allgemeinen nicht alle überwacht. Aber es gibt meistens jemanden, bei dem man sich melden muss, wenn man anlegen will. Und du? Ruh dich aus, riet ihm Bohlten eindringlich. „Du hast kaum geschlafen und nichts zum Mittag gegessen.

    „Hast du denn?"

    „Ja, hab´ ich. Schon vor zwei Stunden."

    „Echt?" Nettles überlegte, wann das gewesen sein sollte.

    „Bobby. Schalt mal einen Gang zurück."

    Nettles nickte und sah zu der Bar hinauf. „Ich gehe in die Bar dort. Vielleicht hat jemand am Fenster gesessen und etwas gesehen. Vielleicht kann man dort auch etwas zu essen bekommen."

    „Gut und nimm dir Zeit. Ich rufe dich in einer Stunde an und kann dich hier abholen."

    Nettles stieg eine Holztreppe hoch, die auf einer Terrasse mündete. Als er die Bar betrat, kam ihm Harriet mit einem Tuch in der Hand entgegen.

    „Eis. Einfach draufhalten. Die Schwellung wird zurückgehen und es wird wohltun", sagte sie.

    Er nahm das kalte Tuch und drückte es vorsichtig an die geschwollene kleine Stelle an seinem linken Mundwinkel. Es blutete nicht mehr, also war es offenbar nur ein kleiner, oberflächlicher Riss. Wenn er sich in der nächsten Zeit nicht prügelte, würde keine größere Sache daraus werden.

    „Kann man in dieser Bar etwas zu essen bekommen?", fragte er dumpf mit dem Tuch vor dem Mund.

    „Ja. Es gibt Steak und auch Fisch. Es sieht gut aus", antwortete sie mit einem Blick zu einem gefüllten Teller, der gerade aus der Küche kam und darauf wartete an einen Gast geliefert zu werden.

    „Hast du Hunger?", fragte er sie. Harriet war erstaunt über die Frage und nickte schnell. Sie hatte richtig großen Hunger.

    Er ging zu einem Tisch am Fenster mit Sicht zum Steg, an dem der Hund die Suche aufgeben musste. Er sah auf seine Uhr. Es war jetzt eine Stunde vergangen. Sie hatten in einer sehr kurzen Zeit den Ort gefunden, wo Esther offenbar auf ein Boot geschafft worden war. Er machte sich wieder Vorwürfe, weil er geschlafen hatte, anstatt auf sie aufzupassen, wie er es ihr versprochen hatte. Wenn sie zu Schaden kam…, er wusste nicht, wie er damit umgehen würde. Er wusste nur, dass er es nicht ertragen könnte.

    Harriet holte die Speisekarte und setzte sich zu ihm.

    Nettles, der sich das Eis auf die geschwollene Stelle presste, sah sich im Raum um und betrachtete die Menschen, die an den Fenstern saßen. Sie schienen gerade erst gekommen zu sein, denn sie richteten sich auf ihrem Platz noch ein. Ein einzelner Mann interessierte ihn besonders. Harriet folgte seinem Blick und war gespannt, was Nettles ausheckte.

    „Bestell mir ein Rindersteak mit Kartoffeln. Medium. Ein Bier dazu wäre klasse. Und such´ dir auch was aus. Alles auf meine Rechnung. Ich rede inzwischen mal mit dem Herrn dort an dem Tisch." Er zeigte auf einen Mann, der Ende Sechzig sein konnte. Der Mann schien schon länger dort zu sitzen und das machte ihn zu einem potentiellen Zeugen.

    Während Harriet das Essen bestellte, sprach Nettles den Mann an.

    „Hallo. Entschuldigen Sie bitte die Störung, Sir", sagte er freundlich.

    „Hallo. Na, wie geht es Ihnen?", outete er sich selbst als Zuschauer der Szene, die sich am Anleger zugetragen hatte.

    „Danke, der Nachfrage. Es ist besser. Meine Kollegin hat mir Eis besorgt." Er zeigte das Tuch und drückte es wieder auf die leicht geschwollene Stelle am Kinn.

    „Bitte, setzen Sie sich doch. Nettles nahm das Angebot an und setzte sich ihm gegenüber. „Sie wollen wissen, was ich gesehen habe, stimmt´s?

    Nettles staunte und schob die Augenbrauen nach oben. „Ja, genau das", bestätigte er.

    „Ich habe alles gesehen", sagte er ruhig.

    „Wie lange sitzen Sie hier schon?"

    „Jeden Tag. Ich komme zum Frühstück, unterbreche meinen Besuch hier nur, um auf die Toilette zu gehen oder wenn das Wetter schön ist, sitze ich draußen oder mache einen kleinen Rundgang über die Pier. Hier ist mein Stammplatz."

    „Verstehe ich das richtig? Sie sind jeden Tag hier?"

    „Jeden Tag. Jeden Tag, seit meine Frau vor zwei Jahren von mir gegangen ist."

    „Oh, das tut mir Leid."

    Zu Nettles´ Überraschung lächelte der Mann, anstatt betrübt zu sein.

    „Nein, nicht doch. Ich bin glücklich. Endlich kann ich dem nachgehen, was ich schon immer machen wollte. Es war geradezu ein Befreiungsschlag."

    Nettles verstand nicht und vergaß einen Moment lang das Eis an die geschwollene Stelle zu halten.

    „Das Eis…, riet der Mann „Sie sollten es besser noch einige Zeit an ihr Kinn halten.

    Nettles tat es und fragte neugierig: „Und was machen Sie?"

    „Schreiben."

    „Schreiben?"

    „Ja. Schreiben."

    „Was schreiben Sie denn?"

    „Romane. Ich bin Schriftsteller."

    „Ach. Sind Sie berühmt?"

    „Ach, wissen Sie. Ich bin ein wenig bekannt, aber sicher nicht berühmt", sagte er bescheiden.

    „Verraten Sie mir Ihren Namen?"

    „John Smith."

    Nettles musste lachen und verzog sein Gesicht. Es zog unangenehm an seinem Kinn und er murmelte „Das ist nicht ihr ernst, oder?"

    „Doch, ich heiße tatsächlich so. Sie lachten beide. „Ich habe zwar gesehen, dass Sie bei der Polizei was zu sagen haben, aber ich weiß noch nicht, wer Sie sind?

    „Oh, Entschuldigung. Mein Name ist Robert Nettles, Detektive Chefinspektor bei Scotland Yard. Dabei reichte er dem Schriftsteller seine Hand über den Tisch, die der kräftig schüttelte. „Wie lange gehen Sie ihrem Geschäft, dem Schreiben, denn schon nach?

    „Eigentlich mein ganzes Leben lang. Ich habe früher für die Times gearbeitet und hatte wenig Zeit für meine eigenen Geschichten, die ich schreiben wollte. Meine Frau nahm mich zusätzlich so in Beschlag, dass meine Freizeit ausgefüllt war. Bei der Times habe ich nicht nur recherchiert, sondern auch die eine oder andere Kolumne im Feuilleton veröffentlicht. Meist mit einem Kürzel, das auch noch wechselte. Das ist dort Bedingung."

    „Dann kenne ich Sie wahrscheinlich doch. Denn im Allgemeinen lese ich die

    Zeitung und sehr gerne die Geschichten, neben den Sensationsberichten."

    Er lächelte Nettles an. „Ich habe gleich gesehen, dass Sie Stil haben", lobte der

    Mann Nettles, der sich geschmeichelt fühlte. Nettles schaute auf den Anleger hinunter.

    „Sie verstehen eine Menge von Hunden, meinte der Schriftsteller weiter. Nettles zuckte mit den Schultern. „Eigentlich nicht.

    „Doch. Das war eine Meisterleistung. Sie haben einen Spürhund gelobt und der hat sich auf Sie ohne Angst oder einem Anzeichen von Zurückhaltung eingelassen. Hunde spüren, wenn man ohne scheu auf sie zukommt und es ehrlich mit ihnen meint, erklärte er. „Diese Hunde sind auf ihren Führer gepolt, der meist auch der Halter ist. Was ich nicht verstanden habe, warum hat der Hundeführer Ihnen einen Kinnhaken verpasst?

    Nettles griff sich an seine Lippe und befühlte den kleinen Huckel, der sich darunter erhob und vermutlich Regenbogenfarben annehmen würde. „Er war der Meinung, dass ich den Hund überfordert hätte. Ich habe ihn beim Präsidium schon von der Leine gelassen, weil ich sah, dass der Hund eine Spur verfolgen wollte und mit der Leine einfach nicht weiter kam. Das konnte ich nicht verhindern, ich musste ihn losmachen. Ich habe irgendwo gelesen, dass solche Spuren auch vom Wind fort getragen werden können und der Spürhund dann die Spur verlieren würde, wenn man zu lange wartete. Heute ist es so gut wie windstill und geregnet hat es auch nicht. Also, hervorragende Bedingungen. Der Mann staunte und fragte in ruhigem Tonfall: „Das stimmt. Und der Hund ist durch die Straßen gelaufen?

    „Ja. Wir haben nur aufgepasst, dass er nicht behindert oder überfahren wurde."

    „Ein weiter Weg, auch für einen gut ausgebildeten Spürhund, sagte er wissend nickend. „Da muss der Hund eine zweite Witterung gehabt haben.

    „Zum Beispiel?"

    „Öl."

    „Öl?"

    „Ja, Öl. Vielleicht leckte das Fahrzeug."

    „Ich habe nichts auf dem Asphalt gesehen, was nach einem Ölfleck aussah. „Man muss nicht unbedingt einen Fleck sehen. Die Tropfen können winzig klein sein. Der Hund riecht sie trotzdem. Letztlich ist der Spürhund zwei Geruchsspuren gefolgt.

    „Sie wissen viel über Spürhunde?"

    „Ich habe ein Buch über diese Spürnasen geschrieben. Zur Krönung hatte ich meinen damaligen Schäferhundmischling zu einem Spürhund ausgebildet."

    „Ist es geglückt? Hatten Sie Erfolg mit Ihrer Ausbildung?"

    Er lachte. „Ja, sicher. Er hat immer den richtigen Whisky gefunden." Sie lachten erneut und Nettles Kinn spannte unangenehm.

    „Tut weh, was? Trinken Sie mal einen." Er hob die Hand und winkte dem Mann hinter der Bar mit einer vielsagenden Geste, dass er zwei Gläser mit Whisky wollte. Den Protest vom Chefinspektor wies er energisch ab.

    „Wo ist Ihre junge Schülerin?, fragte er plötzlich. „Ah, dort. Kommen Sie auch her. Sie können sich meine Aufzeichnungen ansehen, forderte er Harriet auf.

    Sie kam zum Tisch herüber und stellte Nettles das Bier vor die Nase, der gleich einen riesigen Schluck nahm. Sie hatte sich eine große Cola bestellt und setzte sich neben ihren Chef.

    Der Mann hinter der Bar kam mit einem Tablett zum Tisch herüber. Darauf zwei Gläser Whisky und die bestellten Gerichte. Es roch lecker und Nettles griff zum Besteck und sagte nebenbei „Sie erlauben doch?", wartete keine Antwort ab und begann mit Hunger zu essen.

    Der Schriftsteller sah zu, wie sich ein Polizist, der offenbar ausgehungert sein musste, ein Stück Fleisch nach dem anderen in den Mund steckte. Bei jedem Bissen verzog er etwas das Gesicht.

    Vielleicht war ein Zahn lose, dachte Nettles, der sich an das Kinn griff und die Kaubewegung auf die andere Seite verlagerte.

    „Sie werden wohl keinen Whisky wollen, Kindchen, oder?", fragte der hilfsbereite Mann an Harriet gerichtet.

    Sie schüttelte den Kopf. Auch sie aß mit Hunger und hatte den Mund prall gefüllt, dass ihre Wangen sich aufblähten, wie bei einem Hamster.

    John Smith schob sein großes Notizbuch über den Tisch. „Es ist nach Datum und Uhrzeit alles aufgeschrieben, was hier am Steg so los ist. Vielleicht etwas blumig, aber das ist eben künstlerische Freiheit. Schließlich soll es ja kein Tatsachenbericht über einen Polizeieinsatz werden. Hier." John Smith zeigte mit seinem Finger auf einen bestimmten Abschnitt.

    Harriet las, während sie kaute. Einige Zeilen lesend, stellte sie plötzlich das Essen ein und schüttelte den Kopf. „Das gibt’s nicht. Hier steht alles haarklein", sagte sie zu Nettles, der von der Seite her auf das Skript sah, obwohl er ohne seine Lesebrille nicht viel erkennen konnte und gleichzeitig das letzte Stück von dem Rinderfilet in seinen Mund schob.

    Smith prostete Nettles mit seinem Whisky zu, der seinerseits das Glas erhob. Er wollte nicht unhöflich erscheinen und trank den Whisky genüsslich. „Mmh, ein guter Tropfen", lobte Nettles, der zwar kaum Alkohol trank, dennoch einen guten Whisky erkannte.

    Harriet las das Stück vor, das Nettles am meisten interessierte. „Der große muskelbepackte Mann trug eine schlanke, brünette Frau wie einen nassen Sack auf seinen Armen. Er betrat den Steg mit der Leichtigkeit eines Sportlers. An Bord der Cap Diana wurde der Motor angelassen, sobald der Mann mit seiner Fracht am Anleger zu sehen war. An Deck der circa sechsunddreißig bis vierzig Fuß langen Jacht, erschien ein Gentleman in einem feinen anthrazitfarbenen Maßanzug mit Streifen. Seine Schuhe glänzten und er schien auf den Mann mit der Frau auf dem Arm gewartet zu haben. Ungeduldig wippte er auf seinen Füßen von vorn nach hinten und trommelte mit den Fingern auf die Stahlrohre der Rehling. Ein Matrose zog den kleinen Steg auf das Deck, löste die Leinen von den Pollern und holte die Fender ein. Der Kapitän ließ sofort ablegen. Der Mann mit der Frau auf seinen Armen trug sie in das Innere der Jacht. Der Maßanzug warf nur einen kurzen Blick auf die ohnmächtige Frau, deren Körper leblos wirkte. Der Kapitän in dem kleinen offenen Führerhaus steuerte bedächtig die weiße auffällige Cap Diana, mit den dunkelblauen Streifen am Rumpf, langsam auf die Mitte der Themse zu und lenkte sie stromabwärts, wo sie an Fahrt aufnahm. Mehr als zwölf Knoten sind auf Flüssen nicht erlaubt und der dichte Schiffsverkehr ließ ein schnelles Fortkommen nicht zu."

    Robert Nettles schaute auf seine Uhr und es waren ungefähr eineinhalb Stunden vergangen. Mit einem Ruck stand Nettles auf und griff in seine Jacke. Indes sagte er zu Smith gewandt: „Bitte geben Sie uns ihre Adresse und eine Telefonnummer. Wir brauchen Sie vielleicht noch."

    „Selbstverständlich. Am Besten bin ich aber hier zu erreichen", sagte John Smith und schrieb seine Kontaktdaten auf einen Zettel, den er aus seinem Notizbuch heraus riss.

    Nettles rief im Präsidium an. „Nettles. Auf der Themse stromabwärts ist eine weiße Jacht mit dem Namen Cap Diana und einem dunkelblauen Streifen um den Rumpf unterwegs. Die entführte Esther Duffy wird auf dieser Jacht gegen ihren Willen festgehalten. Die Jacht muss gestoppt werden. Der Kahn hat vor etwas mehr als einer Stunde abgelegt. Die könnten jetzt schon längst die Londoner Gegend verlassen haben und auf dem Weg zur Nordsee sein. Benachrichtigt die Wasserpolizei. Achtung: die Männer sind höchstwahrscheinlich bewaffnet. Ich bin mit Constable Clarks unterwegs."

    „Wissen Sie, wo die Marine Policing Unit ihren Anleger hat?", fragte Nettles den Schriftsteller.

    „Zwei Meilen flussaufwärts auf dieser Seite, antwortete er. „Aber Sie können ein schnelles Boot bei dem Skipper dort unten mieten, fügte er an und zeigte auf einen Mann am Steg, der auf einem Motorboot saß und in einer Zeitschrift blätterte.

    Nettles nickte und rannte los. „Danke", rief er ihm noch zu und war auch schon draußen.

    Harriet steckte den Zettel ein und den letzten Bissen von ihrem Steak in den Mund, bevor sie Nettles folgte, der im Vorbeigehen das Essen bezahlt hatte. Robert Nettles rief auf dem Weg zum Boot Martin Bohlten an und informierte ihn in aller Kürze. Bei dem Motorboot angelangt, zückte er seine Dienstmarke.

    „Nettles, Scotland Yard. Ich brauche Ihr Boot für einen Einsatz."

    Der Mann schaute ihn ruhig an. „Keiner bekommt mein Boot, auch nicht die Polizei. Das fahre ich selbst", entgegnete er mit störrischem Unterton. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er das Motorboot selbst steuern würde.

    „Okay, sagte Nettles. Er hatte keine Zeit für lange Diskussionen. „Dann werden Sie das Boot fahren, aber nach meinen Anweisungen.

    Der Skipper nickte, und reichte Nettles die Hand und half ihm an Bord zu kommen. Harriet Clarks kam angerannt, machte die Leinen los und sprang auf die Bootsplanken hinüber.

    „Wohin?"

    „Flussabwärts, sagte Nettles. „Einer Jacht mit dem Namen Cap Diana hinterher.

    „Ach ja. Die lag bis vor über einer guten Stunde noch hier nebenan. Halten Sie sich fest. Da müssen wir uns beeilen, wenn wir die einholen wollen."

    Nettles griff nach dem Handlauf, der rund um das gesamte Boot verlief. „Meinen Sie, wir können sie einholen?"

    Der Motor röhrte, die Nase des Bootes hob sich aus dem Wasser und der Skipper steuerte der Mitte des Flusses entgegen. Er schien das Boot auf unsichtbaren Fahrwegen zu lenken.

    „Sicher. Die kann auf der Themse keine volle Fahrt aufnehmen. Es sind zu viele Bojen, Kurven und Brückenpfeiler im Fluss. Der Verkehr ist ebenfalls hinderlich. Und um diese Uhrzeit ist noch Hochbetrieb. Da kommen alle rein und legen an. Da kann man nicht schnell fahren. Die Touristenboote sind auch noch dazwischen. Und erlaubt ist es ohnehin nicht", rief der Skipper laut, um das Motorengeräusch zu übertönen.

    „Aber wir dürfen?"

    „Schon, zumindest bis zur erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Mein Boot ist wesentlich schneller, kleiner und wendiger."

    „Sie haben die polizeiliche Erlaubnis schneller als erlaubt zu fahren", rief Nettles dem Kapitän zu, der nickte. Schnell bewegte sich das Motorboot zwischen Bojen und anderen größeren und kleineren Booten hindurch, ohne diese zu behindern. Nettles stand breitbeinig neben dem Kapitän des kleinen Motorbootes, der das Ruder sicher bediente. Er war froh, dass er das Boot nicht lenken musste. So konnte er alles genauer betrachten und brauchte sich nicht auf die zu Fahrt konzentrieren. Auch war er sich nicht sicher, ob er das Motorboot überhaupt so gut bedienen konnte und eine Fahrerlaubnis hatte er ohnehin nicht. Harriet saß hinten auf der Bank, schaute den Wellen zu und auf die vorbeifliegenden Gebäude am Ufer.

    „Es wird allmählich dunkel", rief der Skipper Nettles zu, der sofort wusste, was er damit sagen wollte.

    „Ja", antwortete Nettles nur. In der Nacht waren alle Katzen grau und große weiße Jachten konnten genauso irgendwo hinter einer Kurve in einem Dock oder einem Anleger, der groß genug war, verschwinden und untertauchen. Er sah mit Schrecken, dass es schnell dunkel wurde. Die Sonne, die heute den Tag so freundlich erhellte, versteckte sich immer mehr zwischen den Häusern. Die letzten Strahlen leuchteten in den Fenstern dunkelgelb, die in der Flussbiegung nach Westen standen. Die Schatten wurden länger und brachten auch die Kälte. Nettles hatte nur sein Jackett an, das er notdürftig zugeknöpft hatte. Die Themse versank allmählich in der Nacht. Die Oberfläche brach unter den vorbeifahrenden Booten unruhig auf und die Geräusche waren den brechenden Wellen an einem Strand sehr ähnlich, nur sehr viel ruckartiger und mit Motorgeräuschuntermalung. Nettles versuchte in der hereinbrechenden Dunkelheit eine weiße Jacht mit fast vierzig Fuß zu entdecken. Er wusste, es würde schwer werden ein Boot in der Nacht zu finden und zu stellen, egal wie klein oder groß es war.

    „Wir verlassen jetzt London", rief der Skipper Nettles zu, der auf die Uhr sah, aber die Zeiger im Dunkeln nicht erkennen konnte.

    Die Marine Policing Unit war von der Zentrale des Scotland Yard benachrichtigt worden und befand sich ebenfalls auf der Suche nach der Jacht flussabwärts. Zwei große Scheinwerfer erhellten die Themse in ihrer gesamten Breite und suchten den Fluss und das Ufer systematisch ab. Einer der Scheinwerfer war nach vorne gerichtet und ein weißes großes Boot tauchte in der Finsternis auf. Es hatte schnelle Fahrt aufgenommen und befand sich augenblicklich auf der Flucht. Eine Sirene wurde aktiviert, um den Kapitän zum Anhalten zu bewegen. Aber der reagierte nicht, sondern fuhr stur weiter. Nach einigen Ansprechversuchen über ein Megaphon, erhöhte der Kapitän der weißen Jacht die Geschwindigkeit. Die Jacht schlug mächtige Wellen, die auf das Ufer zurollten. Boote, die an den Stegen festgemacht worden waren, bewegten sich so heftig, dass sie sich von der Verankerung lösten, andere schlugen an den Steg oder stießen mit ihren Nachbarn zusammen.

    Der Kapitän des Bootes der Wasserschutzpolizei forderte mehrmals den Kapitän der flüchtigen Jacht auf, endlich zu stoppen.

    Nettles Mobiltelefon vibrierte wild in seiner Jeans, wo er es fühlen konnte, und er griff danach. Die Zentrale unterrichtete ihn, dass eine weiße Jacht mit Namen Cap Diana gesichtet worden sei und die Wasserschutzpolizei mit erhöhter Geschwindigkeit die Verfolgung aufgenommen hatte.

    „Können wir schneller…?", rief Nettles dem Skipper zu. Der Motor heulte auf, als dieser die Geschwindigkeit erhöhte. Es war inzwischen Dunkel und die meisten Ausflugsboote waren verschwunden. Fischerboote gab es in dieser kalten Jahreszeit kaum und die meisten großen Schiffe lagen ebenfalls schon in den Docks oder an einem Kai für die Nachtruhe fest.

    Das Boot hob seine Nase weit aus dem Wasser und die Welle die erzeugt wurde, wühlte das Oberflächenwasser der Themse auf und schüttelte die Boote bei den Anlegern erneut. Nettles musste sich gut festhalten und er sah nach Harriet, die sich an dem Handlauf ebenfalls mit beiden Händen festhielt.

    „Dort. Sehen Sie?", rief der Skipper und zeigte nach vorn. Ein riesiger Scheinwerfer leuchtete über das Wasser der Themse und man konnte die Umrisse einer weißen Jacht erkennen.

    „Ja", antwortete Nettles aufgeregt und wendete sich dem Skipper erneut zu.

    „Ich möchte, dass Sie das Boot so nah wie möglich neben die Jacht bringen, dass wir an Bord klettern können."

    „Nein, das ist zu gefährlich. Die Jacht ist zu groß und würde uns umstoßen und in Seenot bringen. Und Sie kommen nicht bis an die Rehling ran. Zu hoch, rief er zurück. „Wir drehen am Polizeiboot bei. Es ist kleiner und Sie können von dort auf die Jacht übersetzen.

    Nettles nickte und dachte, dass der Skipper wohl angenommen hatte, er würde auf die Jacht springen wollen, während sie noch fuhr. Aber so verrückt war er nicht, dass er auf ein Boot übersetzte, das sich auf dem Wasser noch fortbewegte. Nettles fiel ein Film ein, in dem solche Sprünge mit Leichtigkeit funktionierten, über alle physikalischen Gesetze hinweg, während eine riesige Jacht durch das Wasser pflügte.

    Irgendwie waren alle Boote noch in Bewegung und es schien, als ob der Skipper der Cap Diana nicht ans Aufgeben dachte. Das Megaphon der Wasserschutzpolizei war zu hören, als sie näher kamen. Gleichzeitig kam von der anderen Seite ein zweites Polizeiboot heran und der Kapitän der gestellten Jacht steuerte direkt in die Falle. Die Jacht wurde von allen Seiten angeleuchtet. Der Kapitän drosselte schließlich die Geschwindigkeit, denn er wollte eine Kollision vermeiden und stoppte die Maschinen. Er lenkte nur noch, sodass die Wasserschutzpolizei die Jacht von zwei Seiten enterte.

    Der Skipper des kleinen Motorbootes drosselte die Geschwindigkeit ebenfalls und näherte sich dem Boot der Marine Policing Unit. Harriet warf ein Seil hinüber und ein Beamter machte es an dem größeren Boot fest. Dann half ein Polizist mit Schwimmweste dem Chefinspektor, der sich von dem Skipper beim Hinüberklettern kurz verabschiedete. Harriet Clarks folgte mit der jugendlichen Unbekümmertheit, die zu einem ungewollten Themsebad führen konnte. Nettles streckte Harriet seine Hand entgegen. Er erwischte ihre Hand, als das Boot sich einige Zentimeter vom größeren Polizeiboot entfernte. Harriet befand sich einen Moment in der Luft und Nettles zog sie hinauf und fing sie auf.

    „Äh, entschuldige", sagte Nettles und ließ sie schnell los.

    „Danke, Chef."

    „Robert."

    Sie musste breit grinsen und wenn es nicht dunkle Nacht gewesen wäre, dann hätte man ihre roten Wangen gesehen.

    Der Kapitän der Marine Policing Unit begrüßte Nettles, der sich kurz mit Dienstausweis vorstellte.

    „Sie wurden angekündigt. Frank Sutherland", sagte der Kapitän kurz und ging mit Nettles zusammen auf die gekaperte Jacht hinüber.

    Die Wasserschutzpolizisten hatten schon alles unter ihre Kontrolle gebracht und einen kleinen Steg zwischen den wankenden Booten angebracht.

    Der Kapitän der Jacht machte keine Anstalten sich zur Wehr zu setzen. Er und der Matrose hatten die Hände gehoben und wurden von zwei Beamten mit Maschinenpistolen im Anschlag bewacht.

    Nettles hatte, wie so oft, keine Waffe dabei. Er hatte sie in seinem Büro abgelegt und hielt sich jetzt im Hintergrund. Er hielt auch Harriet zurück, die nach vorne stürmen wollte.

    Er sagte zu ihr: „Das ist Sache der Wasserschutzeinheit."

    Die Tür zum Unterdeck war schnell geöffnet. Eine schmale Treppe führte einige Stufen nach unten. Der Raum war nicht allzu groß, aber dennoch geräumig. Auf einer Sitzgruppe saß der Mann mit dem Maßanzug und den glänzenden Schuhen, ganz wie es Smith beschrieben hatte. Neben ihm saß, die Hände gefesselt, Esther Duffy. Ein Mann mit einer Baseballmütze auf seinem Kopf hatte eine Waffe gezogen. Der Entführer war zum Schuss bereit.

    „Waffe runter und Hände hoch!", rief einer der Beamten und machte eine Andeutung schießen zu wollen, wenn der Angesprochene nicht gehorchte.

    Der Mann im Maßanzug gab ihm ein Zeichen. Er legte die Waffe auf den Boden legte und ließ sich widerstandslos festnehmen.

    Esther sah Nettles hinter dem Kapitän der Marinepolizei an der Treppe stehen. Sutherland nahm den Maßanzug ins Visier und fesselte ihm persönlich die Hände auf dem Rücken. Er sagte kein Wort, als ihm seine Rechte vorgetragen wurden.

    Esther stand auf und rannte auf Nettles zu. Sie hob ihre gefesselten Hände über seinen Kopf und küsste einen überraschten Chefinspektor unverhofft auf den Mund.

    „Au!", sagte Nettles und hielt sich die Hand vor seinen schmerzenden Mund.

    „Was ist mit dir passiert?", fragte Esther, als sie die rötlichdunkle Schwellung an seinem Kinn entdeckte. Es hatte sich ein kleiner Bluterguss gebildet.

    „Das erzähl ich dir später", antwortete Nettles nur und befreite sich aus der Umarmung. Es war ihm peinlich, dass sie ihn vor Kollegen auf den Mund geküsst hatte und er wusste nicht, wohin er sehen sollte und versuchte stattdessen den Knoten ihrer Fesseln zu öffnen.

    Kapitän Sutherland und Constable Clarks lächelten sich zu. Sie war Nettles in das Unterdeck gefolgt und wurde Zeuge dieser offensichtlich sehr gefühlsbetonten Geste.

    Die beiden Männer wurden abgeführt und der Gentleman in dem Maßanzug blieb dicht vor Esther stehen, sah sie an und sagte: „Die kriegen dich noch. Denk´ dran."

    Esther griff nach Nettles´ Hand, der sich unwillkürlich zwischen Esther und dem Mann aufbaute.

    „Abführen!", befahl Sutherland scharf und einer der Beamten schob den Verhafteten nach oben an Deck.

    Nettles sagte nun zu Sutherland: „Wir sollten die Spuren auf dem Boot sichern. Vielleicht sind außer den anwesenden Personen noch weitere hier gewesen. Sutherland nickte und antwortete: „Wir überführen die Jacht in unser Dock. Dort können die Forensiker ihrer Arbeit in Ruhe nachgehen. Bleiben Sie hier an Bord, wir fahren langsam zurück und hier ist es gemütlicher, als auf dem Polizeiboot, sagte er, mit einem Blick auf die Sitzecke. Damit ging er an Deck.

    Harriet rief sofort in der Zentrale an und bestellte ein Forensikteam zu den Docks der Marine Policing Unit.

    Nettles sah sich um und dann in die strahlenden Augen Esthers, die lächelte und offensichtlich sehr glücklich über ihre Befreiung war.

    „Geht es dir gut?", fragte er sie.

    „Ja. Aber ich weiß nicht, was ab dem Moment geschah, als der Mann sich auf

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