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Fairlight
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Ebook640 pages9 hours

Fairlight

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About this ebook

Mittelengland, Herbst 1916
Drei Ärzte sind auf dem Weg zu einem Londoner Medizinerkongress. In einem unwirtlichen Stück Wald zwingt sie eine Reifenpanne zur Rast. Ein Reiter, gerade als versehrter Soldat aus Frankreich zurückkehrend, begegnet ihnen zufällig und bietet seine Hilfe an, indem er sie auf das geheimnisumwitterte Fairlight House einlädt, wo ein merkwürdiger Lord abgeschieden mit seinen vier Söhnen haust. Bald beginnen die Mediziner Interesse an der seltsamen Familie zu bekunden. Besonders Eugene, der jüngste der Söhne, der zudem in eine über geschwisterliche Bande hinausgehende Beziehung zu seinem Bruder Francis verwickelt zu sein scheint und hin und hergerissen ist zwischen verwehrter Flucht aus Fairlight und der Liebe zu Francis, weckt ihre Neugier mit seinem bizarren Verhalten, in dem Dr. Raeburn Schizophrenie vermutet. Eine ihm unerklärliche, jedoch nicht unbegründete Zuneigung zu dem Jungen veranlasst ihn dazu, tiefer in die verstörte Seele zu schauen und die Bewohner des Anwesens genauer zu beobachten...
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateSep 1, 2012
ISBN9781479343591
Fairlight

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    Book preview

    Fairlight - Christine Wirth

    Christine Wirth

    Fairlight

    Prolog

    Voilà, Monsieur! Là-bas,c’est Angleterre!" Der stämmige Fährmann boxte sich durch das Gerümpel seines maroden Frachters, um dem jungen unterernährten Engländer freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen und auf die schemenhaften Umrisse an der Kimmung zu zeigen.

    Es geschah nicht häufig, dass er in Begleitung unterwegs war, und so freute er sich über jedes Wort, das der britische Soldat in seinem etwas gestelzten Französisch an ihn richtete. Während der regelmäßigen und nicht selten reichhaltigen Kost seiner Schwägerin über die letzten Wochen hatte der Junge nicht viel gesprochen und kein einziges Gramm zugelegt. Überhaupt hatte er meist geschlafen und im Fieber phantasiert. In den kurzen Momenten, da er bei Sinnen gewesen war, hatte er Unmengen von Tee und Alkohol zu sich genommen, wahrscheinlich in der Hoffnung, damit den Wundschmerz zu betäuben.

    Für ihn als den kulinarischen Genüssen zugeneigten Franzosen unvorstellbar, fast ein Zeichen von Krankheit. Er schraubte den Deckel einer Isolierkanne auf; wieder fröstelte sein Passagier, obwohl die Sonne von einem blauen Himmel strahlte. „Vous voulez du thé, mon ami? " Francis lehnte sich an den sonnenwarmen Rücken seines Pferdes und nahm den Becher dankbar entgegen. „Merci, Didier." Seine schlanken, braungebrannten Hände zitterten, doch er lehnte Didiers Hilfe rigoros ab. Lange genug hatten ihn die Menschen schwach und siech gesehen. Sogar einen Arzt hatten sie ihm besorgt. Tag für Tag hatte der einfache Landmediziner hereingeschaut, um ihm das Schlimmste zu ersparen.

    Fliegen umschwirrten den frisch gewickelten Verband um sein Bein; den Schmerz in der schwärenden Verletzung hatte er zu ignorieren gelernt, doch diese aashungrigen Insekten raubten ihm noch das letzte Bisschen Verstand. Eine ungeduldige Handbewegung ausführend, verscheuchte er sie für einige Sekunden. Er schloss die Augen. Hinter seinen Lidern tanzten Sonnenreflexe, der Rappe schnaubte und zupfte mit weichen Lippen in seinem dunklen Haar. Lachend entzog er sich ihm, indem er sich unter ihm wegduckte, und erschrak dann vor seiner eigenen Belustigung. Nach all dem durchlebten Grauen klang sein Lachen fremd, harsch, nicht mehr wie früher. Trotzdem war er froh um dieses Pferd. Der Bruder des Fährmanns hatte es ihm gegen ein geringes Entgelt ‚geliehen‘, obwohl es mehr als wahrscheinlich war, dass er es nie wiedersehen würde. Auch Kleidung war ihm angeboten worden, um die verräterische Uniform zu entfernen, aber eine Art kindische Einbildung auf seinen Status hatte ihn die freundliche Offerte ausschlagen lassen.

    Il vous aime parce qu’il sait que vous êtes comme lui", scherzte Didier breit grinsend, wandte sich jedoch taktvoll ab, als jähe Tränen in die Augenwinkel des jungen Soldaten stürzten. Auch er drehte den Kopf weg, hing seinen Gedanken nach, sich insgeheim als unmännlich beschimpfend. Diese Überfahrt weckte Erinnerungen an früher; er war ein Kind gewesen, mit seinem Vater auf einer Reise ins Ungewisse. Rasch lenkte er seine Gedanken in andere Bahnen, denn er verknüpfte wenig Positives mit jener Zeit.

    Es war gut, festzustellen, dass es noch anständige Menschen wie die Familie Mauclair gab. Pascal Mauclair und seine Frau hatten ihn aufgenommen, als er vollkommen erschöpft durch Frankreich desertiert war, voller Angst, seinen Unterschenkel zu verlieren. Der Feldchirurg hatte schon alles gewissenhaft für die Amputation vorbereitet, doch in derselben Nacht, als der übermüdete Stabsarzt eine kleine Pause einlegte, war er unter Schmerzen und mit den Schreien der anderen bedauernswerten Soldaten auf ihren Pritschen im Rücken getürmt. Nie würde er sich zum Krüppel operieren lassen!

    Die Mauclairs hatten ihn auf ihrem Gut nahe der Küste gepflegt und solange als Gast behandelt, bis er imstande war, das angegriffene Bein wieder ein wenig zu belasten. Einen Deserteur zu beherbergen war gefährlich, und da Francis seine Gastgeber keinem unnötigen Risiko aussetzen wollte, beharrte er schon bald auf eine Weiterreise. Natürlich konnte er in seinem Zustand nicht zu Fuß nach Hause, und daher war er jetzt stolzer Besitzer dieses prächtigen Hannoveranerhengstes. Damit nicht genug, half ihm Pascal auch bei der Überfahrt nach Britannien. Eigentlich war es ihm nicht würdig, bei jemandem dermaßen tief in der Kreide zu stehen, zumal er gewiss nicht die Gelegenheit hätte, sich zu revanchieren. Aber in Notzeiten warf man seinen verdammten Stolz über Bord und horchte einzig auf den Selbsterhaltungstrieb, oder man war ein kompletter Narr. Jetzt endlich konnte er wieder sich selbst verstehen, wurde ihm klar, dass er nie in Europa hätte bleiben können. Der Krieg mochte in ein oder zwei Jahren zu Ende sein, vielleicht hätte er sich im Land seiner Vorväter eine Existenz aufbauen können. Nichtsdestotrotz hätte er immer etwas vermisst. Nein, nicht etwas, sondern jemanden, der ihm mehr bedeutete als sein eigenes Leben, welches ihm die bittere Erfahrung seiner Sterblichkeit in den vergangenen Wochen und Monaten drastisch vor Augen geführt hatte. Bisher hatte er sich für stark, unverwundbar gehalten, aber das war er nicht. Zwar war es ihm gelungen, einen Panzer um seine Seele zu mauern, so dass ihn das Leid der Kameraden mit der Zeit kaltgelassen hatte, aber da ihm derjenige, an den er immerzu dachte, so nahe stand wie sonst keiner auf der Welt, kehrte er erwartungsvoll zurück in das Land, in dem er aufgewachsen war, ohne Zuneigung oder wenigstens Geborgenheit. Dort würde Florey genauso sehnsüchtig auf ihn warten wie er auf ihn, er spürte es in seinem Herzen. Florey war es als einzigem gelungen, seine harte Schale ohne Anstrengung zu knacken.

    Es war daher kein Wunder, dass ihn Didiers Fürsorge eher peinlich berührte und er sich alle erdenkliche Mühe gab, emotionale Beherrschung zu üben. Wie hätte er seinen inneren Aufruhr dem gutmütigen Franzosen erklären sollen; dass sein Herz überfloss vor Freude über dessen Menschlichkeit, einen Kelch Tee mit ihm zu teilen, die langersehnte Freiheit, die sich am Horizont als eine unebene Linie abzeichnete! England! Trunken vor Glück sprang er an die Reling und von dort in luftige Höhen, was dem Franzosen ein besorgtes „Attention!" abnötigte. Ausgelassen schaukelte Francis an der Takelage; jetzt lachte er Didier offen ins Gesicht, als dieser ihn schützend um die Taille fasste, damit er nicht, entkräftet wie er war, hintenüber in die Brandung plumpste und sich an einem Riff womöglich das Genick brach.

    Francis schaute auf ihn herunter, immer noch in aufgekratzter Heiterkeit. „Tu as peur pour moi? Pas de ça ! Je suis chez-soi ! Ich bin Zuhause, Didier!"

    Chez Fleury", fing der Fährmann eifrig nickend das Stichwort auf, wobei er sich zurückzog, um seine Pfeife zu schmauchen. Dass er sich tatsächlich Sorgen um den Engländer machte, brauchte dieser nicht zu wissen. Sein eigener Sohn kämpfte immer noch in Albert. Da er ungefähr im gleichen Alter wie der Engländer war, betrachtete er diesen als gleichberechtigten Ersatz, solange er sich in seiner Obhut befand. „N’est-ce pas? J’espère qu’elle est jolie. "

    Francis konnte sich nicht daran erinnern, je von Florey erzählt zu haben, doch die Hoffnung des braven Franzosen entlockte ihm eine hysterische Lachsalve, in die Didier miteinstimmte. Er hielt ihn für seine Liebste. Da ihn diese Vorstellung keineswegs abschreckte, stimmte er freudestrahlend zu. Für die Liebe hatten die Franzosen immer etwas übrig. Außerdem entbehrte die Erwähnung von Fleury nicht einer gehörigen Portion Galgenhumors, der auch dem Franzosen bewusst sein musste: in die kleine Ortschaft desselben Namens waren einen Tag vor Beginn der großen Sommeschlacht, am 23. Juni 1916, die Deutschen einmarschiert. „Oui, très jolie."

    Nur wenige Stunden blieben ihnen noch, bevor der Fährmann anlegte. Über dem Hafen hing penetranter Fischgeruch, Möwen kreischten, und die Matrosen und Händler am überlaufenen Kai waren viel zu beschäftigt, um einen Soldaten in Uniform der britischen Armee zu bemerken, der sich unerlaubt in heimatliche Gefilde stahl. Sofort band Didier den scheuenden Rappen los und führte ihn mit beschwichtigendem Brummen über eine wackelige Holzplanke ans Ufer. Die Heimat in sich aufsaugend folgte Francis. Nicht dass ihn irgendwelche sentimentalen Anwandlungen beschlichen, doch nun würde es bis zum Wiedersehen nicht mehr weit sein. Er ertappte sich dabei, dass er mit der Aufregung rang, in seiner Brust pochte es schmerzhaft, und er legte die Hand darüber, um dem Einhalt zu gebieten. Würde ihn Florey wiedererkennen? Er glaubte, dass er sich verändert hatte, nicht unbedingt zum Guten hin. Und Florey! Inzwischen war er fast erwachsen.

    „Ich helfe dir beim Ausladen", erbot er sich; es war das wenigste, das er für seinen Retter tun konnte.

    Empört wies Didier auf das kranke Bein. „Sie müssen sich schonen, Monsieur! Warum stehen Sie noch hier herum? Ich brauche Ihre Hilfe nicht." Abschiede machten den grobschlächtigen Mann stets traurig; Francis war ihnen allen ans Herz gewachsen. Er hätte es begrüßt, wenn sich der Soldat mir nichts, dir nichts aus dem Staub gemacht hätte, aber dazu verfügte er über viel zu gute Manieren. „Au revoir, Didier, flüsterte er; linkisch, den Zügel um die Armbeuge geschlungen, umarmte er den Freund. „Ich werde nie vergessen, was ihr alle für mich getan habt, und das, ohne dass ich es verdient hätte. Grüße mir Pascal und Odette noch einmal herzlich.

    Das gerötete, wettergegerbte Gesicht am Kragen des anderen verbergend nickte Didier gerührt. „Gott mit Ihnen, Monsieur. Wir sehen uns vielleicht in besseren Zeiten wieder."

    Bevor er ebenfalls von Didiers Abschiedsschmerz angesteckt zu werden drohte, entfernte sich Francis weiter vom Frachter; der Hengst schritt hinter seinem neuen Herrn her zu einer Kiste, die Francis aufgrund seines kranken Beines als Aufstiegshilfe nutzte. Im Sattel wandte er sich um, winkte dem kleiner werdenden Fährmann zu, der sich tapfer die Tränen verbiss und seine Mütze schwenkte, bis Francis nicht mehr zu sehen war.

    „Jetzt zeig‘, was du kannst, Schwarzer, sagte Francis und strich über den Hals seines Tieres. „Ich will in spätestens drei Tagen in Manchester sein.

    Kapitel 1

    M

    orastbedeckt und von Schlaglöchern übersät, war der Weg nicht das, mit dem man üblicherweise ein nagelneues Automobil Baujahr 1915 konfrontierte. Dr. John Raeburn seufzte und sandte seinen ausdrucksvollen dunklen Blick nebst einem Stoßgebet gen Himmel, als der Chauffeur, Edward Vaughan, mit sicherem Instinkt eine weitere Unebenheit anmanövrierte und alle drei Insassen des Renault Phaetons durcheinander gerüttelt wurden. Wahrscheinlich ein Eichhörnchen oder ein Rebhuhn, dachte Raeburn ohne besonderes Mitgefühl für die arme Kreatur unter den Rädern. Er hatte sich gleich für die besser ausgebaute Straße ausgesprochen, doch Edward behauptete, durch den Wald erreichten sie ihr Ziel in der Hälfte der Zeit. Mittlerweile sah selbst er ein, dass es eine Schnapsidee gewesen war, sich nach dem heftigen Regen den schlammigen Waldboden Untertan machen zu wollen.

    Neben ihm auf der Rückbank döste sein junger Kollege Dr. Thorpe, er schien den halsbrecherischen Fahrstil seines Assistenten gewöhnt zu sein. Was Raeburn anging, so war er ständig bemüht, die Übelkeit zu unterdrücken; seit heute Morgen waren sie unterwegs und hatten noch nichts in den Magen bekommen. Schwankend lehnte er sich vor, um dem erschreckt auffahrenden Vaughan auf die Schulter zu tippen.

    Edward, erhob er seinen volltönenden Bariton, der seine hochgewachsene, schlanke Gestalt vortrefflich unterstrich. Sind Sie sicher, dass wir uns nicht verirrt haben?

    Ausgeschlossen, Sir! Die weinerliche Entrüstung ließ das Gegenteil vermuten. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie verfahren.

    Geben Sie es doch zu, Edward, mischte sich Thorpe unerwartet ein, er hielt die Augen immer noch geschlossen. Ich jedenfalls kann mich an diesen Teil der Strecke nicht erinnern.

    Es ist eine Abkürzung, Dr. Thorpe, verteidigte sich sein Assistent, der gleichzeitig Mädchen für alles war und in diesem verantwortungsvollen Posten Fehler ungern eingestand. Hektisch fuhr er mit der Hand durch sein braunes, leicht gewelltes Haar. Ich könnte schwören, dass wir bald auf einen Gasthof treffen müssten... Vielleicht ist der Wirt ortskundig?

    Also doch verirrt, konstatierte Raeburn. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, befinden wir uns im Distrikt der Fairlights, Privatbesitz. Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, wenn wir erwischt werden, Vaughan. Mit den Leuten ist nach dem, was ich gehört habe, nicht zu spaßen.

    Thorpes Interesse war geweckt; er richtete sich auf und verschränkte die Arme, bereit zu einer kleinen Plauderei, nach der dem älteren in keiner Weise verlangte.

    Fairlight? Dann wird das nächste Anwesen Fairlight House sein, oder? Ja, es stimmt, man erzählt sich so einiges über den kauzigen Alten und seine Brut. Erwachsene Söhne, allesamt ledig. Der Jüngste ist wohl schwachsinnig. Mich soll's nicht wundern bei der Familie. Regelrechte Eigenbrötler. Wo hat man so etwas schon erlebt?

    Es mag Ihnen ungewöhnlich scheinen, doch sehen Sie sich um, erwiderte John Raeburn mit einem müden Grinsen. Mindestens zehn Meilen bis zur nächsten Stadt, kein idealer Ort für Brautschauen, geschweige denn für eine Frau.

    Ja, pflichtete Thorpe eifrig bei und knipste sein charmantestes Lächeln an. Er war ein im klassischen Sinne gutaussehender Mann und wusste um seine Anziehungskraft auf die holde Weiblichkeit, was er jedoch zu befangen und wohlerzogen war, auszureizen. Infolgedessen war er mit vierunddreißig Jahren der begehrteste Junggeselle in ganz Huddersfield.

    Die Lady Clayton soll es hier so unerträglich gefunden haben, dass sie freiwillig aus ihrem tristen Dasein schied, und sie war bei Gott keine zartbesaitete Seele. Wenn nur die Hälfte wahr ist von dem, was man munkelt, muss das eine wirklich verrückte Sippschaft sein.

    Edward kicherte. Genie und Wahnsinn liegen ja oft nahe beieinander. Oder wie Shakespeare so schön formuliert: 'Der Wahnsinn hat Methode.' Wenn Sie meine Meinung hören wollen, Gentlemen, die haben nicht nur Lady Claytons Leiche im Keller. Schade um die Frau. Ein Fluch soll seitdem auf dem Haus liegen, naja, das übliche Getratsche.

    Ein donnerndes Krachen, verursacht durch ein weiteres Schlagloch, beendete die müßige Konversation abrupt, Vaughan fluchte deftig und machte ebenso sinnlose wie verzweifelte Anstalten, das Lenkrad aus der Verankerung zu reißen. Weiß der Himmel, was er damit bezweckte, dachte Raeburn mit einem Anflug von Zorn. Nicht zum ersten Mal fühlte er sich an einen kleinen linkischen Buben erinnert, der aus Trotz oder Ärger über seine eigene Unfähigkeit denselben an unschuldigen Opfern, im konkreten Fall an dem schmucken Phaeton, ausließ. Ein Kindskopf, dieser Vaughan. Und so ein unbeherrschtes Subjekt wollte approbierter Doktor werden. Raeburn kam sich vor wie auf einer Narrengesellschaft, Thorpe war nicht unbedingt ein ernsthafterer Zeitgenosse, ein Dandy. Doch vielleicht wurde er, Raeburn, mit Ende Vierzig langsam alt. Fest stand jedenfalls, dass sie sich verspäten würden, und zwar um wenigstens einen vollen Tag. Es gab wenig, was der Doktor so sehr hasste wie Unpünktlichkeit.

    Den Kollegen amüsierte die Situation offenbar; er lachte und klopfte Vaughan auf die Schulter. Nicht aufregen, Edward, alter Knabe. Sie ruinieren Dr. Sedgleys Eigentum.

    Das ist nicht mehr nötig.

    Die raue Stimme, die von oben erscholl, ließ die drei zusammenzucken, Edward schrie leise auf. Spielend das Gefälle einer rutschigen Anhöhe nehmend, tänzelte ein prächtiger Rappe auf den Pfad, ein nervöses, schäumendes Tier, das von einem fast zierlich gebauten Mann meisterlich in Schach gehalten wurde. Er mochte Anfang Dreißig sein, vielleicht etwas jünger. Seine zerrissene Uniform war schmutzbespritzt, ebenso die hohen Füße seines verausgabten Pferdes, dessen Nüstern vom schnellen Lauf rot glühten. Auffallend waren die schlanken Hände und die bogenförmig geschwungenen Brauen des Reiters, die ihm ein merkwürdig trauriges und zugleich listiges Aussehen verliehen. Apart und nahezu hübsch war auch das von spärlichen Bartstoppeln eingerahmte, jungenhafte Gesicht mit den feinen Zügen, in dem die haselnussbraunen Augen irgendwie manisch glänzten. Er trug das dunkle Haar im Nacken kurz und an den Seiten länger, wie die Mehrheit der Herren seines Alters; ein starker Kontrast zu seinem übrigen, eher ungepflegten Äußeren. Das spöttische Lächeln, mit dem er die Gestrandeten bedachte, drückte auf beunruhigende Art Mitleid aus. Er schien Gefallen daran zu finden, sie einzuschüchtern. Eine kurze Musterung genügte, um den ängstlichen Vaughan zum Stottern zu verleiten, welcher beherzt zu einer Erwiderung auf den Kommentar ansetzte und ehrfürchtig verstummte, als der Reiter das – wie ihm vorkam – haushohe Ross bedrohlich auf ihn zulenkte und in schallendes Gelächter ausbrach. Edward spürte, wie ihm der Schweiß den Kragen hinunterrann und errötete. Rasch betupfte er seine Stirn mit einem Taschentuch und bezog Deckung hinter dem Heck des Autos. Thorpe fasste sich als erster.

    Was ist nicht nötig, Sir?

    Der Soldat wandte sich Thorpe überrascht zu, offenes Unverständnis über das Nachhaken des Gentlemans bekundend. Er postierte sein Pferd so, dass es sich wenige Zentimeter vor dem jungen Arzt versammelte. Dann beugte er sich vor, in der Absicht, direkt an dessen Ohr zu sprechen.

    "Den Wagen zu ruinieren. Er ist bereits ruiniert. Von Technik verstehe ich nicht viel, aber ich glaube, ich erkenne das Geräusch einer gebrochenen Vorderradachse, wenn ich es höre."

    Die Worte entlockten Vaughan, dem Übeltäter der Misere, ein abgrundtiefes Stöhnen.

    Ist er krank? erkundigte sich der Reiter, nonchalant in Edwards Richtung nickend. Das täte mir leid.

    Er ist nicht krank, ließ sich Raeburn vernehmen. Besäßen Sie die Freundlichkeit, uns die Straße nach London zu zeigen? Ich fürchte, wir haben uns gründlich verfahren.

    "Oh, damit wollen Sie nach London? Ich gäbe mein letztes Hemd, um das zu sehen. Sind Sie Mechaniker, Zauberkünstler oder beides in einer Person?"

    Souverän ignorierte Raeburn die letzte zynische Frage, der Mann war ihm entschieden zu neugierig. Er hatte sich noch nicht einmal vorgestellt.

    Möglicherweise gibt es in der Nähe ein Wirtshaus, wo wir die Achse austauschen könnten.

    Wieder lachte der Fremde. Wissen Sie, wo Sie sind? Hier gibt es weit und breit nichts außer Wald und Flur.

    Thorpe wagte einen Vorstoß. Was ist mit dem Fairlight Anwesen? Wohnt dort niemand?

    Ein strenger Zug bildete sich um die schmalen Lippen des Soldaten. Er versetzte dem Tier einen rohen Schlag mit den Zügeln und riss es um die Hinterhand.

    Das ist mein Ziel. Wenn Sie möchten, begleiten Sie mich, erbot er sich, plötzlich die Höflichkeit selbst. Eine Radachse werden Sie dort nicht finden, aber ich will sehen, was sich machen lässt. Vielleicht ist der Alte guter Dinge und borgt Ihnen sein Vehikel.

    Sehr freundlich. Aber wir gedenken nicht, Ihnen Umstände zu machen –

    Das tun Sie nicht, unterbrach der Reiter Raeburn schroff. Die haben selten Besuch, da werden Sie fürstlich tafeln. Ihr armer Freund ist schon am Verhungern, nicht wahr, mein lieber Vaughan, das sind Sie doch?

    Völlig perplex blinzelte Edward zu dem Soldaten auf.

    Sie... Sie kennen meinen Namen, Sir?

    Ich beobachte Sie schon recht lange. Da bekommt man zwangsläufig einen Eindruck der Unterhaltung.

    Thorpe wechselte einen vielsagenden Blick mit Raeburn, der jedoch sein Hauptaugenmerk auf den verstörenden jungen Mann richtete. Demnach musste der Kerl alles mitangehört haben, vermutete Morgan. Kein ihm behagender Gedanke. Was, wenn er mit den Fairlights in engerem Kontakt stand und ihnen die Unterhaltung zwischen ihm und Raeburn brühwarm auftischte? Gut, es war Geschwätz, wer gab schon etwas darauf? Doch gerade Gerüchte konnten verletzen, daher mied er im Normalfall Klatsch und Tratsch und verabscheute den monatlichen Gang zum Barbier, wo man den neuesten Hut der Lady Soundso detailversessen erörterte und das sittengerechte Liebesleben des Nachbarn anzweifelte, der es schon wieder gewagt hatte, die jungfräuliche Mrs. Smith zu einer Tasse Kaffee zu verführen. Wie hatte er sich nur so gehenlassen können? Andererseits war es mehr als taktlos von dem Kerl, sie zu belauschen. Was fiel ihm eigentlich ein, hatte er keine Manieren? Nun, so wie er sich ihnen bislang präsentiert hatte, anscheinend nicht besonders gute. Dem Reiter fiel es jetzt ebenfalls ein, dass er versäumt hatte, sich bekanntzumachen.

    Mein Name ist Holbrook Fairlight, sagte er, während er vom Pferd glitt, um es Vaughan anzubieten; aus irgendeinem Grund glaubte er immer noch, dieser sei krank. Francis ist kürzer.

    Falls Dr. Morgan Thorpe geschockt über diese Eröffnung war, so hatte er sich erstaunlich gut unter Kontrolle; lediglich sein Mundwinkel zitterte für die Dauer eines Wimpernschlages. Francis Fairlight führte das Tier, auf das sich Vaughan ohne Widerrede hatte hieven lassen, neben sich her. In seinen lebhaften Augen flackerte ein dem Doktor in jahrelanger Praxis vertrauter Ausdruck des Schmerzes, jedes Mal, wenn er das linke Bein belastete. Nach der Ursache forschend, ließ er seinen geschulten Blick an der drahtigen Gestalt entlangwandern. Eine Unregelmäßigkeit beim Gehen, ein mit Mühe vertuschtes Hinken. Um das Schienbein war ein provisorischer Verband gewickelt, dreckig und von den Bewegungen brüchig. Raeburn schlug einen beiläufigen Ton an, denselben, den er für seine Patienten reservierte, kühl und sachlich, aber dennoch interessiert.

    Was ist mit Ihrem Bein passiert?

    Wo komme ich wohl her, hm? zischte der junge Fairlight. Ich hatte Zeit, mein Haar schneiden zu lassen und ein Bad zu nehmen, da entschuldigen Sie bitte, dass es mir nicht vergönnt war, mein Bein auszutauschen. Ein gesundes wollte mir keiner geben.

    Der Doktor hatte mit einem derart ätzenden Sarkasmus nicht gerechnet, er senkte den Kopf, konzentrierte sich auf die aufgeweichte satte Erde, in der die Schuhe bis zur Sohle mit einem schmatzenden Geräusch ein- und austauchten.

    Das tut mir leid, rettete er sich in Floskeln. Es war eine Floskel, aber er meinte es ernst. Hinter seiner oft teilnahmslosen Miene steckte Einfühlungsvermögen und Interesse an seinen Mitmenschen, ansonsten wäre er wohl kaum Mediziner geworden. Den hippokratischen Eid betrachtete er als sein Gebetbuch. Sie waren in Frankreich?

    An der Somme und in Flandern. Möchte nicht darüber reden. Zuvor habe ich Europa bereist. Italien, den Balkan... schöne, sehenswerte Länder vor dem zerstörerischen Krieg. Bin gerade auf der Heimreise. Ich pfeife auf dieses Abschlachten und dieses zersplitterte Bein. Aber ich wollte es so. Meine Brüder, das sind Pazifisten wie mein Herr Vater, so etwas kann ich noch weniger ausstehen. Feiglinge!

    Voll Bitterkeit spuckte er aus.

    Ich würde abhauen, wenn mein Bruder nicht wäre... Sein glasiger Blick verlor sich im Nichts, er starrte geradeaus, seine heisere Stimme veränderte sich und wurde weich. Florey...

    Unvermittelt beschleunigte er seine Schritte, Worte vor sich hinmurmelnd, welche die anderen nicht verstehen konnten. Thorpe war im Begriff, eine Bemerkung zu machen, aber Raeburn legte ihm die Hand auf den Arm, ihn um Takt für den Versehrten bittend. Schließlich beruhigte dieser sich etwas, er blieb stehen und warf einen Blick über die Schulter.

    Sie sollten nicht zu Fuß gehen, mahnte Thorpe. Edward ist in ganz passabler Verfassung, er wird es schon schaffen. Wir würden uns Ihr Bein später gerne anschauen, es sieht nicht gut aus.

    Fairlight überhörte den besorgten Einwand, stapfte stur weiter, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die beiden Ärzte ihm noch folgten. An seiner vernarbten Schläfe lief Schweiß entlang; er tat Raeburn aufrichtig leid, doch wie es schien, hielt er es für ein Kavaliersdelikt, Schwäche zu zeigen, daher schwieg der Doktor wohlweislich.

    Was ist so falsch daran, Pazifist zu sein, griff Vaughan die Diskussion wieder auf. Den Frieden zu lieben und sich für ihn einzusetzen, ist doch etwas Ehrenhaftes.

    Mein Vater ist Pazifist, erklärte Francis. Deshalb ist es falsch.

    Beide, Thorpe und Raeburn, erstaunte dieser pubertäre rebellische Standpunkt; Morgan, als der Offenere von ihnen, sprach das aus, was Dr. Raeburn sich gleichfalls fragte.

    Wenn Sie Ihren Vater so sehr... hm... wenn Sie nicht mit ihm auskommen, warum gehen Sie nicht weg von hier, nach London beispielsweise, ziehen in eine kleine Villa? Sie sind reich, was hindert Sie daran?

    Es dauerte eine Weile, ehe der Soldat antwortete.

    Sie glauben, ich sei reich? Dass Sie sich nicht täuschen! Geld ist nicht das Problem. Ich würde mir Arbeit suchen wie jeder anständige Mensch. Es ist aussichtslos, wegzulaufen, wozu die Mühe machen? Mein alter Herr findet mich überall. Das ist wohl meine Strafe.

    Auf einmal wirkte er sehr schwermütig, vermutlich hatte er schon mehrere erfolglose Ausbrüche unternommen. Um von seinem eigenen Elend abzulenken und weitere Fragen zu unterbinden, steuerte er eine für ihn unverfängliche Richtung des Gesprächs an:

    Was verschlägt Sie eigentlich in diese Ödnis? Ich weiß so gut wie nichts von Ihnen. Sie sind Quacksalber, nicht?

    Internisten, korrigierte Thorpe. Wir sind unterwegs zu einem Kongress, der in London tagt. Bedauerlicherweise werden wir durch die kleine Wagenpanne nicht rechtzeitig dort ankommen.

    Seien Sie unsere Gäste, lud Francis ein. Wenigstens für ein paar Tage. Was ist so Wichtiges an einem lächerlichen Kongress? Was erfahren Sie da, was Sie vorher nicht schon wussten? Solche Sperenzchen sind die reinste Zeitvergeudung.

    Oh, meldete sich Edward emsig, auf dem Pferderücken fühlte er sich einigermaßen sicher. Das Thema lautet Psychologische Interferenzen im Kindesalter. Ein völlig neues Gebiet auf dem Sektor der -

    Thorpe boxte seinen Assistenten grob in die Seite, woraufhin Edward empört nach Luft schnappte.

    Ein außergewöhnliches Thema, stimmte der junge Fairlight zu; man konnte nicht erkennen, ob er es ironisch meinte oder tatsächlich interessiert war. Da hätten Sie gewiss viel für Ihre Fortbildung tun können. Zu dumm, dass Ihnen jetzt etwas entgeht.

    ~~~

    Allmählich lichtete sich der Wald, und das berüchtigte Anwesen wurde sichtbar. Den Neuankömmlingen stockte der Atem. Wie um seinem lieblichen Namen zu höhnen, Fairlight- Helles Licht - ragte es düster und massig hinter den Bäumen auf. Links und rechts vom eisengeschmiedenen Portal thronten steinerne riesenhafte Löwen, die den Besuchern mit weitaufgerissenen Mäulern eine Warnung zuzuriefen schienen. Raeburns leerer Magen revoltierte angesichts der gespenstischen Atmosphäre, wiewohl er sich nicht zu den empfindlichen Naturen zählte. Ein Hauch von Vergangenheit lag über dem Haus, Schloss wäre die treffende Bezeichnung, fand Raeburn. Moosflechte an den Mauern und ein verwilderter Vorgarten warfen kein gutes Licht auf die Gärtnerschaft, sofern hier jemand in dieser Kategorie beschäftigt war. Eine Spur von Leben war nicht zu entdecken. Als leidenschaftlicher Hobbybotaniker juckte es John Raeburn in den Fingern, das überflüssige Geäst und wucherndes Unkraut zu beseitigen. Francis Fairlight, der seinen Blick richtig deutete, seufzte.

    Kaum ist man drei Jahre weg, schon faulenzt die Bagage. Ich werde ein Hühnchen mit Frederick zu rupfen haben, er ist einfach nicht energisch genug. Kann sich nicht durchsetzen gegen das Pack. So endet man, wenn man nichts als Gedichte und die schönen Künste im Kopf hat.

    Sie näherten sich dem Portal, an dem ein schlanker, fast schmächtiger Knabe herumlungerte und gedankenverloren eine Moosflechte zerfledderte. Sobald der Hufschlag des Pferdes zu hören war, hob er den Kopf. Der Bruder Florey, mutmaßte Raeburn. Er sah Francis in vielem ähnlich, die gleichen scharfgeschnittenen Züge, die Jungenhaftigkeit, die bei ihm ausgeprägter schien. Doch sein Haar war von einem fahlen Blond, das kräftige Kinn glattrasiert. Sein Alter war schwer zu schätzen, er musste an der Schwelle vom Jüngling zum Mann stehen. Mit einer fließenden Bewegung, die den Doktor überraschte, da dieser sinnend ein Gemälde des Knaben vor dem Tor skizziert hatte, stieß er sich vom Gemäuer ab und sprang auf sie zu.

    Francis! Ich erhielt dein Telegramm und warte schon seit gestern!

    Im Nu war er bei ihnen, der Bruder schloss ihn herzlich in die Arme und wirbelte ihn herum, als wiege er nicht mehr als eine Feder. Mein kleiner Sonnenschein! Du hast mir gefehlt! Bist du gewachsen, meine Güte -

    Das Gewicht des Jungen wirkte sich ungünstig auf seine Verletzung aus; er ließ ihn los und verzog das Gesicht, einen Schmerzenslaut verbeißend. Dem aufmerksamen Bruder entging die Veränderung nicht; entgeistert starrte er auf das verbundene Schienbein.

    Francis... Jetzt klang sein Ton alarmiert, er klappte den Mund auf und wieder zu, Panik spiegelte sich in seinen grünen Augen.

    Nichts Schlimmes, Florey. Ich bin froh, dass ich noch lebe.

    Thorpe schaltete sich ein, ihn beschlich das Gefühl, dass er den aufgewühlten Jungen beruhigen musste. Wir werden ihn gleich untersuchen. Ich glaube, wir können den gefährlichen Wundbrand ausschließen.

    Wundbrand? Der Junge fasste besitzergreifend nach Francis' Hand, blickte ihn flehend an. Es kamen nicht oft Fremde nach Fairlight, und diese Leute jagten ihm einen Schauder über den Rücken, speziell der hünenhafte dunkle Mann, dessen elegische Aura ihn irritierte. Er war um Haaresbreite so groß wie Jones, der Stallbursche, dabei aber überhaupt nicht bärenhaft und gutmütig, was in Floreys Augen eine Höhe von über sechs Fuß durchaus rechtfertigte. Der Gast dagegen war ihm unheimlich. Weshalb nur starrte er so?

    Dr. John Raeburn konnte sich von Floreys Anblick nicht lösen, er faszinierte und fesselte ihn. Die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen, die kindliche Unschuld, von der er jedoch nicht ganz überzeugt war.

    Ich Kaliban, schalt sich Francis. Habe meine Freunde ganz vergessen. Da siehst du, wie du mich in deinem Bann hast. Florey, das sind würdige Medizinmänner auf dem Weg nach London. Ein Unfall zwingt sie zur Übernachtung in unserem gemütlichen Heim. Benimm dich also.

    Formell begrüßten sie sich per Handschlag, wobei sie ihre Namen nannten. Raeburn registrierte die Scheu des Jungen vor Berührungen, er wich seinem forschenden Blick aus.

    Florey, sagte Raeburn. Was für ein bemerkenswerter Name. Er passt zu Ihnen, Mr. Fairlight.

    Ich heiße Eugene, stellte der jüngste Fairlight-Spross richtig. Mein Bruder nennt mich Florey, seit wir Kinder waren. Er ist nicht davon abzubringen.

    Der ungestüme Francis, im Charakter ganz das Gegenteil seines jüngsten Bruders, inspizierte inzwischen den Hof, der Rappe trottete am losen Zügel hinter ihm her. Schließlich kehrte er zu seinen Gästen und Florey zurück, ein missmutiger Unterton in der Stimme, wandte er sich an die Doktoren.

    Die Kerle sind ausgeflogen. Ich muss mich um das Pferd kümmern. Mein Bruder wird Ihnen das Haus zeigen und Mrs. Falkenberg benachrichtigen, damit sie Ihnen etwas Warmes serviert.

    In jäher Zuneigung zauste er das Haar des neben ihm stehenden Florey.

    Diesem Jones werde ich Feuer unterm Hintern machen. Lässt mich wie einen Idioten dastehen. Wo ist Vater eigentlich?

    Er ist mit Frederick und Clayton weggefahren, als dein Telegramm kam. Ich weiß nicht, wann sie wiederkommen.

    Ich hatte vor einer Woche die Nachricht geschickt. Seitdem bist du hier ganz alleine?

    Ja, bestätigte Florey. Du weißt doch, das macht mir nichts aus.

    Unterdrückte Wut malte sich in Francis' aufgeschlossenes Gesicht, er stützte sich auf die Schultern des Knaben.

    Geht es dir gut? fragte Florey besorgt, woraufhin sich die Miene des Älteren entspannte.

    Sicher. Ich komme sofort nach. Lass unsere Besucher nur nicht im Regen stehen, mein Schatz.

    Florey warf seinem im Stall verschwindenden Bruder einen bewundernden Blick nach. Dann widmete er sich den Herrschaften, die Francis aufgelesen hatte. Er besaß Kavalierqualitäten und einen eigenen spröden Charme. Ohne Murren wuchtete er die Koffer von Thorpe und Vaughan vom Boden, viel zu schwer für einen so zarten Knaben, fürchtete Raeburn, doch der Junge bestand darauf, sie zu tragen. Immerhin durfte John Raeburn sich das schlechte Gewissen ersparen, indem er sein Gepäck selbst zu transportieren hatte. Beflissen bat Florey sie, ihm zu folgen und stemmte seine geringe Körpermasse gegen das hölzerne zweiflügelige Tor, das ein Relikt aus Ritterzeiten sein durfte.

    Drinnen war es kalt, der weiträumige Empfangssalon wurde nur von zwei mahagonifarbenen Chippendalekommoden flankiert. Keine Blumen, keine Bilder, abgesehen von einem finsteren Ölgemälde monströser Ausmaße oberhalb der breiten Steintreppe, das offensichtlich ein Porträt der Lady Clayton darstellte. Gebieterisch, schwarzhaarig und mit unverhohlener Arroganz begrüßte sie jeden Eindringling, der den Saal betrat.

    Die kargen, ebenfalls imponierend weiten Gästestuben, die den Eindruck erweckten, nur zu Prestigezwecken errichtet worden zu sein, waren nicht viel heimeliger. Ein Mönch hauste komfortabler. Vaughan fröstelte. Insgeheim war er froh, dass ein Gästezimmer über drei Betten verfügte, so war er des nachts nicht ohne Gesellschaft, ein Umstand, der ihn in diesem unheilvollen Haus hart angekommen wäre.

    Nachdem der Junge an der Eichentür die Koffer abgesetzt hatte, lief er rückwärts vor ihnen her, die Hände lautlos aneinanderklatschend. Das Hemd unter dem graubraunen Pullunder war ihm zu weit, vermutlich trug er die Kleidung seiner Brüder auf. Im Herbst ist nur die Küche beheizt, entschuldigte er die Kälte. Im Winter auch das Wohnzimmer. Aber das dauert noch. Wenn Sie wünschen, speist Nellie den Kamin.

    Es ist schon in Ordnung, versicherte Raeburn. Wir sind nicht verweichlicht.

    Floreys flinke Finger spielten mit einer auf dem Sims platzierten Musikdose, sein langes Deckhaar fiel ihm ins Gesicht, er hatte keine acht mehr auf die Gäste, schien vollkommen von der kleinen Kostbarkeit gefangen. Neugierig reckte Vaughan den Hals. Ein Dekorationsstück in dieser Männerwirtschaft, eine Sensation!

    Als Raeburn einen Schritt auf ihn zukam, um das in verschnörkelte Intarsien eingebettete Instrument genauer zu begutachten, gab Florey einen erstickten Laut von sich. Der Doktor verharrte, er steckte die Hände in die Manteltaschen. Florey hatte das Gefühl, dass seinen tiefumschatteten Augen keine Kleinigkeit verborgen blieb. Dieser Mann durchschaute ihn bis auf den Grund seines Innersten, dabei kannte er ihn noch nicht einmal eine halbe Stunde.

    Florey, sagte Raeburn sanft. Wovor haben Sie Angst?

    Fassen Sie mich nicht an! brach es schrill aus Florey heraus. Morgan stieß Edward bedeutsam in die Seite, während Raeburn den Jungen interessiert musterte. Ganz ruhig. Ich tue Ihnen nichts. Wollen wir zu Mrs. Falkenberg gehen? Meine Kollegen sterben Hungers, und Sie sehen ebenfalls aus, als könnten Sie etwas in den Bauch vertragen.

    Auf einmal wurde der Knabe unsicher, sein gebräuntes Antlitz leichenblass. Er zappelte herum.

    Wird man – wird man das Bein – abnehmen müssen?

    Das war der Moment, den Dr. Thorpe herbeigesehnt hatte; er brannte darauf, einen Vortrag über abgetrennte Gliedmaßen und die Fortschritte der Amputation zu halten. Genüsslich legte er die Fingerspitzen aneinander, in der Absicht, seinen Worten mehr Gewicht beizumengen.

    Sehen Sie, Mr. Fairlight, das ist eine äußerst komplizierte –

    Nein, fuhr ihm Raeburn in die Parade, er stand nahe genug, um Tränen in den Augen des Knaben glitzern zu sehen. Ihr Bruder ist zäh. Er wird nicht mehr so toben können wie früher, doch das Bein wird ihm bleiben. Der Feldarzt hat ordentliche Arbeit geleistet.

    Erleichtert ließ der Junge die Schultern sinken und entkrampfte seine Muskeln.

    Sie lieben Ihren Bruder sehr, nicht wahr?

    Abrupt und fast wild fixierte Florey den eher harmlos scheinenden Edward Vaughan.

    Ist das ein Verbrechen?

    Ähm, nein, natürlich nicht. Ich dachte nur, dass Sie einen für Geschwister recht innigen Umgang pflegen. Das... hm... könnte man doch so nennen?

    Die Reaktion des jungen Fairlight und die Antwort war den Doktoren ein Rätsel, er schluckte heftig, maß die Gäste mit einem flammenden Blick, den er endlich auf Raeburn ruhen ließ. Dieser war sich keiner Schuld bewusst, er hob abwartend die Brauen.

    Mischen Sie sich bitte nicht in unsere Angelegenheiten, Sirs. – Ich will sehen, was Francis macht, vielleicht benötigt er Hilfe. Einen Augenblick, bitte.

    Flugs huschte er aus dem Zimmer, die verdutzten, zudringlichen Gäste hinter sich lassend. Er floh in seine Kammer, wo er sich einschloss. Gehetzt betrachtete er sich in dem ovalen, fast blinden Wendespiegel, seine Augen waren gerötet, er sah fürchterlich aus. Den Hahn über dem Lavoir bis zum Anschlag aufdrehend, wusch er seine Unterarme und benetzte damit sein erhitztes Gesicht.

    ~~~

    Unschlüssig sahen sich die Besucher in ihrem vorläufigen Quartier um, wie bestellt und nicht abgeholt.

    Auf Traditionen scheint man hier nicht viel zu geben, konstatierte Vaughan in charakteristisch weinerlichem Tonfall, nachdem er einen Blick auf seine Taschenuhr geworfen hatte. Von einem Fünf-Uhr-Tee war noch gar nicht die Rede.

    Thorpe schlug vor, die Küche aufzusuchen, was von Raeburn und Vaughan verworfen wurde. Das Haus war viel zu riesig, höchstwahrscheinlich würden sie sich verirren, eine Peinsamkeit, die keiner von ihnen verwinden würde. Sie waren britische Gentlemen und würden, wenn es sein musste, bis zum Ende der Welt in diesem kalten, verlassenen Raum auf einen Fairlight warten. Ganz so lange mussten sie sich nicht gedulden; Francis stob atemlos mit fliegenden Rockschößen herein und lächelte verbindlich. In seinem dunkelbraunen, jetzt verstrubbelten Haar steckten Späne und Stroh, wie Raeburn belustigt feststellte. Die ganze Zeit schon hatte er sich gefragt, warum er bei der lästigen Prozedur des Striegelns und Abreibens des schweißnassen Pferdes solch ein geruhsames Tempo vorgezogen hatte. Er legte den Zeigefinger vor den Mund, um ein Schmunzeln zu verbergen.

    Entschuldigen Sie, Gentlemen. Die eigentümlich kehlige Stimme klang zerknirscht. Mein Bruder ist ein netter Kerl, aber zuweilen ein wenig zerstreut. Er meint es nicht persönlich. Mrs. Falkenberg erwartet Sie. Bitte kommen Sie mit mir.

    Trotz seiner bestenfalls durchschnittlichen Körpergröße, oder gerade deswegen, war sein Gang weitausgreifend und federnd. Die Doktoren hatten Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben, da sie sich allein aus Interesse an dem alten Haus gemächlicher vorwärtsbewegten. Das gesamte Mobiliar – ohnehin sparsam verteilt – bestand in pedantischer Ordnung aus gediegenen Chippendalestücken, die in den oft abgedunkelten Räumlichkeiten nicht unbedingt eine wohnliche Atmosphäre vermittelten. Francis hüpfte die Stufen zur entlegenen Küche hinab, Thorpe fühlte sich bemüßigt, seine Verletzung zu berücksichtigen.

    Um eine Untersuchung kommen Sie nicht herum, Francis. Bis dahin befolgen Sie artig ärztlichen Rat und schonen sich.

    Die Sache mit Ihrem Kongress ist bedauerlich, entgegnete der junge Mann, als hätte er den leisen Vorwurf nicht vernommen. Mein Vater hat den Wagen. Ich könnte Ihnen die Kutsche anbieten, doch wenn Sie damit London erreicht haben, tagt schon der nächste. Außerdem - Er kicherte, als würde ihn die folgende Tatsache eher amüsieren, statt zu verärgern, - ist sie wie das Auto verschwunden, sowie unsere beiden zuverlässigsten Droschkengäule. Ich werde Florey zur Rede stellen müssen, aus Langeweile hat er sie anscheinend veräußert, der kleine Schuft.

    Was ist mit der Bahn? erkundigte sich Edward, diese Alternative lockte ihn weit mehr als die vertrackten Vorgänge eines Automobils. Der Gedanke, einen weiteren ihm nicht vertrauten Wagen zu Schrott zu fahren, schmeichelte ihm nicht sonderlich.

    Ich würde gerne einige Tage hier verweilen, sofern es Ihnen genehm ist, Mr. Fairlight... Francis, wagte Raeburn einzuwenden. An diesen staubtrockenen Medizinerbeweihräucherungen konnte teilnehmen, wer wollte; ihn beschäftigte der Junge, in dem er seine Herausforderung erkannte.

    Gleichgültig zuckte Fairlight die Achseln. Mich wundert es, dass Sie sich schon vor einer Kostprobe von Mrs. Falkenbergs Geschmortem dafür entscheiden. Sie ist eine Fritz, aber ein fabelhafter Koch und eine geistreiche Unterhalterin.

    In der Küche, die noch großzügiger angelegt war als die übrigen Gemächer, fuhrwerkte Mrs. Falkenberg zwischen Töpfen und Kesseln herum; sie war eine korpulente Mittvierzigerin aus Bayern mit einem großen Herzen für 'ihre beiden Kinder' Francis und Florey unter ihrem wogenden Busen. Tatsächlich ersetzte sie dem Jüngeren die früh verlorene Mutter, zumindest bildete sie sich das gerne ein, und bis zu einem gewissen Grad entsprach es sogar der Wahrheit. Vor Jahren hatte sie Tränen über ein aufgeschrammtes Knie oder einen toten Vogel getrocknet, geduldig zugehört, wenn Eugene mit einem scheinbar unlösbaren Problem zu ihr flüchtete. Das Einzige, was sie an dem Jungen störte, war sein mangelnder Appetit. Als Francis die Küche betrat, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen.

    Jesusmariaundjosef! rief sie fassungslos. Der Herr Francis!

    Ursula! Stürmisch umhalste der nun zerbrechlich wirkende Francis seine matronenhafte Ziehmutter, die ihn mindestens genauso stürmisch abküsste. Ich bin wieder da. Haben Sie mich vermisst?

    Mein Gott, Bub! Was können Sie fragen! Der Florey hat mich informiert, dass Besuch kommt, aber mit Ihnen habe ich ja gar nicht gerechnet! Wie sehen Sie denn aus?

    Ich hätte mich in Schale geworfen, extra für Sie, Ursula. Wenn ich bloß einen Frack im Schrank hätte.

    Mrs. Falkenberg, die nahe am Wasser gebaut hatte und sich in ihren freien Stunden hinter billigen Groschenromanen vergrub, schluchzte.

    Sie sind so romantisch, Herr Francis.

    Raeburn bemerkte aus den Augenwinkeln ein herbes Mädchen, das aus einem nebulösen Hintereingang erschien und eilends ihre Diensthaube zurechtrückte, ihr großer Mund, aus dem pfeifend der Atem entwich, verzerrte sich dabei vor Anstrengung. Dann strich sie ihre Schürze glatt und trippelte auf Francis zu, um einen höfischen Knicks vor ihm und seinen Begleitern anzudeuten. Von dem Idealbild einer barocken Schönheit meilenweit entfernt, war ihr Gesicht blass und knochig, ihre Figur knabenhaft; der Doktor assoziierte sie unverzüglich mit dem hässlichen kleinen Entlein aus Andersens Märchen. Ihre störrische schwarzbraune Mähne wollte sich nicht unter das Häubchen zwängen lassen, darüber ungehalten, stieß sie ein tierisches Knurren aus. Francis grinste, er streckte die Hand, um das magere Ding zärtlich-kameradschaftlich in die kaum vorhandene aschfahle Wange zu kneifen.

    Sieh an. Die kleine Nellie. Wo hast du dich wieder rumgetrieben, hm?

    Raeburn konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Nellie nicht nur für die Küchenarbeit und das Heizen des Kamins zuständig war. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er vorhin einen Strohhalm auf ihrem Rock entdeckt.

    Die Pferde, Sir. Haben Hunger. Das leise Organ komplettierte ihre verhuschte Gestalt; ein verschrecktes Eichhörnchen, nicht einmal ein Entlein, das sich später in einen Schwan verwandelte. Mrs. Falkenberg verpasste ihr einen energischen Klaps. Träum nicht, dummes Gör. An die Arbeit. Die Gentlemen haben noch nicht gegessen.

    Oh, keine Eile, beschwichtigte Thorpe, den die Küchenmagd dauerte. Wir sind nicht über die Maßen hungrig.

    Nichts da, widersprach Mrs. Falkenberg und stemmte die Hände in die gewaltigen Hüften. Wenn ich sage, Sie haben Hunger, dann haben Sie auch welchen.

    Lässig ließ sich Francis auf einem der hölzernen Stühle nieder, die Mediziner taten es ihm weniger ungezwungen nach. Gin, Nellie! befahl Fairlight heiter. Das Mädchen wuselte zu einem mit unzähligen Flaschen gefüllten Wandregal, brachte vier Gläser und stellte sie devot auf den grobgeschnitzten Tisch. Francis packte ihren Arm, als sie im Begriff war, sich umzuwenden.

    Trink ein Glas mit uns.

    Ich darf noch nicht trinken, Master Francis. Ich bin im Dienst.

    Und ich dein Vorgesetzter. Du tust, was ich dir auftrage, Nellie. Ich bin zurück, das muss begossen werden.

    Mit einem Schlag war seine gute Laune wie weggeblasen, das Mädchen wimmerte unter seinem eisenharten Griff. Gewalt einer Frau gegenüber, und sei sie noch so unattraktiv wie die unscheinbare Nellie, konnte Dr. Raeburn nicht durchgehen lassen.

    Lassen Sie sie in Ruhe, Fairlight.

    Erstaunt wandte sich der momentane Hausherr ihm zu, die Augenbrauen grotesk weit nach oben ziehend. Nellie nutzte die Gelegenheit und entwischte, flink wie ein Wiesel.

    Ich... ich verzichte gleichfalls, stammelte Vaughan. Gin ist zu harter Tobak für mich.

    Den Unmut über Raeburns dreisten Tadel und seine asketischen Freunde wusste Francis gut zu kaschieren; er bot ihnen Zigaretten an, die dankend die Runde machten. Bald war die Küche von durchdringendem Qualm und duftendem Fleischgeruch durchzogen.

    Von den deutschen Gerichten hatte Francis ihnen nicht zuviel versprochen; der rheinische Sauerbraten war das Beste, das den dreien seit langem zwischen die Zähne gekommen war. Der normalerweise recht genügsame Edward langte tüchtig zu und verleibte sich das mürbe, auf der Zunge zerschmelzende Fleisch gleich löffelweise ein. Mrs. Falkenberg, die ihnen Gesellschaft leistete, strahlte über das ganze Gesicht. Sie mischte sich hin und wieder ins belanglose Gespräch; den Krieg, der in aller Munde war und in dem ihr Schützling fast ein Bein gelassen hatte, wollte sie mit keiner Silbe erwähnt haben. Francis, der über die frischen grauenvollen Erinnerungen nicht gerne sprach, sondern sie erst für sich selbst verdauen musste, war darüber mehr als erleichtert. Sie klärte Fairlight über die Abwesenheit des Gespanns auf; die beiden irischen Stallknechte hatten beschlossen, sich einen faulen Lenz zu machen und waren in die Stadt gefahren, solange Sir Chester aus dem Hause war. Ab diesem Zeitpunkt verschlechterte sich Francis' Gastgebergehabe rapide; nachdem das Geschirr weggeräumt worden war, fläzte er sich auf seinem Stuhl und legte die Beine auf den Tisch. Alle empfanden Ekel vor dem abgefetzten Verband um das Knie, Edward ließ seiner Empörung in einer Fratze freien Lauf.

    Als sie ihren Kaffee tranken, die Verdauungszigarette rauchten und das Gespräch zu verebben drohte, runzelte Fairlight die Stirn.

    War Florey schon hier, Mrs. Falkenberg? Ich habe ihm mitgeteilt, dass wir um sieben dinieren. Es sieht ihm gar nicht ähnlich, Ihre kulinarischen Genüsse zu verschmähen.

    Ach, seufzte Mrs. Falkenberg. Der Junge isst doch wie ein Spatz, wie man bei uns sagt. Er hatte keinen Hunger, und ein wenig durcheinander schien er mir.

    Raeburn horchte auf. Durcheinander? Weshalb?

    Die Wiedersehensfreude vielleicht? Ich weiß nicht, mein Gott, er macht mir Kummer, der Bub. Er sieht ganz dünn aus. Grad so als würde ihn der Wind mitnehmen können.

    Er war schon immer so, Mrs. Falkenberg, versetzte Francis barsch.

    Sein überbordendes Temperament bezähmend stand er auf und strich sich das dunkle Haar zurück. Er hob das Kinn und erinnerte Dr. Raeburn in dieser Pose lebhaft an die überhebliche Person auf dem Bild in der Empfangshalle. Doch falls es die Lady Clayton zeigte, schien es mehr als absurd, dass sie blutsverwandt waren. Dumpf dämmerte es in seinem Hinterkopf, dass die Fairlights vor etwas mehr als fünfzehn Jahren zwei Knaben aufgenommen hatten, von denen keiner wusste, woher sie kamen. Damals hatte die Geschichte für einen Skandal gesorgt, war durch sämtliche Gazetten gegangen. Leider entsann er sich der Einzelheiten nicht mehr; die Sache hatte ihn nicht sonderlich interessiert. Aber er glaubte, dass man bis heute über die Herkunft der beiden im Dunkeln tappte. Hatte Francis sich ihnen nicht als Holbrook Fairlight vorgestellt?

    Betrachten Sie mein Haus als das Ihre, Gentlemen, unterbreitete dieser jetzt höflich. Wir haben eine überwältigend unüberschaubare Bibliothek; wenn Sie sie sich anschauen möchten, wäre es mir ein Vergnügen.

    Eine grandiose Idee! Vaughan taute auf, das gute Essen hatte sein Selbstwertgefühl gestärkt. Obwohl Francis nicht viel von Literatur hielt und sie im Allgemeinen als Müßigkeit abstempelte, freute er sich über seinen Einfall. Diese Leute waren Akademiker, Wissenschaftler: in der Bibliothek würden sie sich tagelang zu unterhalten wissen, sicher fanden sich unter den über Jahrzehnte gehorteten Büchern auch medizinische Nachschlagewerke. So hatte er sie wenigstens nicht ständig um sich herum. Die Rolle des Gastgebers zu spielen war mit einem gewissen Kraftaufwand und einer Ehrwürdigkeit verbunden, die seinem energiegeladenen Wesen nicht entsprach und ihm somit eisernen Willen abverlangte.

    Selten hatten die Doktoren eine Bücherei von solch reichem Umfang gesehen, nicht einmal Huddersfield konnte sich damit messen. Bis unter die Decke stapelten sich Romane, Gedichtbände und Sachbücher aus verschiedenen Epochen. Wie berauscht legte Thorpe den Kopf in den Nacken und drehte sich um die eigene Achse; den gigantischen Anblick auf sich wirken lassend. Hier war er in seinem Element.

    Gefällt sie Ihnen? Ein selbstzufriedenes Grinsen auf den Lippen, verschränkte Francis die Arme vor der Brust.

    Das ist... großartig, Francis. Sie müssen über ein immenses Allgemeinwissen verfügen bei all diesen Büchern.

    Ich habe sie nicht alle gelesen, winkte Francis ironisch ab und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Aber Sie können es gerne versuchen. – Wenn Sie mich entschuldigen, ich habe eine Menge zu tun.

    Kapitel 2

    S

    pät in den Abendstunden legte John Raeburn den medizinischen Ratgeber beiseite, seine Lider wurden ihm schwer, er verkniff sich ein Gähnen. Das veraltet formulierte Werk entstammte dem Jahr 1867 und veranlasste ihn mehr als einmal zu einem leisen, amüsierten Lachen, wobei er verständnislos den Kopf schüttelte. Wie rasend schnell sich die Wissenschaft doch fortentwickelte, beinahe beängstigend.

    Morgan und Edward waren schon vor einiger Zeit zu Bett gegangen; ihren Gastgeber hatten sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ohne Dienstboten war er gewiss zu beschäftigt gewesen, sie noch einmal mit seiner Gegenwart zu beehren. Auch der Junge blieb wie vom Erdboden verschluckt, eine Tatsache, die Raeburn bedauerte. Zu gerne hätte er mehr über den stillen Fairlight erfahren. Doch er wusste, um dieses Ziel zu erreichen, musste er Geduld und Einfühlsamkeit aufbringen, Komponenten, die ihm angeboren waren. Daher drängte er sich nicht. Ein Zusammentreffen zwischen ihm und Florey sollte sich nach Möglichkeit wie zufällig ereignen.

    In der Diele brannte heruntergedrehtes Licht. Überzeugt davon, der einzige zu sein, der noch wach war, schlich Raeburn leise über das knarrende Parkett. Klaviergeklimper aus der oberen Etage widerlegte seine Annahme; sein musisch verwöhntes Ohr identifizierte die Tristesse von Chopin. Da ihn sein Weg ohnehin über die Treppe führte, gestattete er sich, an der Tür zu verweilen, die lediglich angelehnt war und einen Blick in den Raum erlaubte. Der Pianist hatte sein nahezu virtuoses Spiel eingestellt, Kerzenschein beleuchtete sein dunkles, eingefallenes Antlitz und tanzte unter seinen hohen Backenknochen. Es handelte sich um Francis Fairlight, er drehte sich auf dem Hocker um, schien nicht allein zu sein. Raeburn positionierte sich ein Stück weiter weg, so dass er im schrägen Winkel die Person erspähte, die ihm gelauscht hatte, Florey Fairlight.

    Du spielst immer noch wunderschön, lobte er den älteren Bruder. Ich dachte, du hättest es vielleicht verlernt.

    Ich habe viel verlernt, Florey. Nur nicht Dinge, die unwichtig sind. Bitterkeit

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