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Failed Species: Band II
Failed Species: Band II
Failed Species: Band II
Ebook925 pages13 hours

Failed Species: Band II

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About this ebook

Randolf erfährt zusammen mit seinen Freunden Entrückungszustände in einer übernatürlichen Konferenz, auf der anscheinend ihre Lagebeurteilung des Zustandes von Welt und Menschheit eine Rolle spielt. Raum und Zeiterfahrung verändern sich dabei kategorial. Die jeweiligen wissenschaftlichen Interessen und Vorlieben, selbst Hobbys und Lebenserfahrungen, haben offensichtlich eine Bedeutung bei der Beurteilung des Ergebnisses des Experiments "Menschheit" seitens der außerkosmischen Schöpfer. John scheint der Experte für das "Böse" zu sein sowie für die ähnlichen Muster apokalyptischer Vorstellungen in allen Kulturen. Melite vertritt eine pessimistische Ansicht der Menschwerdung auf der Primatenreihe. Die durch Selbst-Bewusstheit erzeugte Heimatlosigkeit des Menschen habe allerlei Wahn und Eitelkeit im Gefolge. Randolf vertritt einen eher optimistischen Standpunkt unaufhörlichen technischen Fortschritts, der in der Kolonisierung des Weltraums gipfeln werde. Einst hat er eine fast vergessene Science-Fiction-Geschichte geschrieben, die sich nun mehr und mehr in den Vordergrund drängt und sich scheinbar wie von selbst fortsetzt. Mysteriöse Ereignisse häufen sich, die Randolf an seinem Gesundheitszustand zweifeln lässt. So wird er in eine Zukunft entrückt, die von Verfall und Apokalypse gezeichnet ist. Ein zwielichtiger Orden tritt an ihn heran mit schmeichelhaften Offerten. Randolf wird Zeuge eines Vortrags über die Bildung einer neuen Elite. Er vermutet einen undurchsichtigen Zusammenhang mit seinen mysteriösen Erlebnissen...
LanguageDeutsch
Release dateFeb 22, 2016
ISBN9783741260872
Failed Species: Band II
Author

Klaus Windhöfel

Klaus Windhöfel studierte Theologie, Philosophie und Physik in Bochum, Wuppertal und Bonn. Er war 25 Jahre in Wetzlar als Pfarrer im Schuldienst tätig und unterrichtete Religion, Ethik und Anthropologie. Seit 2014 im Vorruhestand.

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    Book preview

    Failed Species - Klaus Windhöfel

    Für meine Kinder Anja,

    Lisa

    und Jonas

    und mein Enkelkind Carolin

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel 19: Odin Schneemelcher

    Kapitel 20: Die Verbotene Zone

    Kapitel 21: Die Geschichte von Hans im Glück oder: das liebe Geld

    Kapitel 22: Vom Australopithecus bis zum Homo insipiens – die Lücke im Sein oder: der Hiatus; 2. Teil

    Kapitel 23: Von der Erde abgelöst – Teil V Die Landung oder: das Vermächtnis des letzten Menschen

    Kapitel 24: Das Treffen in Geversdorf oder: der Nabel der Bedeutsamkeit

    Kapitel 25: Das Jesusfragment

    Kapitel 26: Was spiegelt der Spiegel, wenn niemand hinein schaut?

    Kapitel 27: Melites Bericht

    Kapitel 28: Der Prophet

    Kapitel 29: Insiderhandel

    Kapitel 30: Das Böse – Teil 2 Die Strukturen oder: die Verkleidungen des Bösen

    Kapitel 31: Der Kosmos der Zahlen

    Schutzumschlag: Supergau in Fukushima am 11. März 2011; in Block 1 bis 3 kommt es zu Kernschmelzen; mehr als das Doppelte an radioaktivem Material der Katastrophe von Tschernobyl wird freigesetzt; 170 000 Menschen mussten aus den kontaminierten Zonen evakuiert werden; die unmittelbaren Todesopfer werden auf 610 geschätzt, langfristig rechnet man mit 10 000 Toten infolge von Strahlungsschäden und traumatischen Belastungen. Die Entsorgungsarbeiten werden vermutlich bis zu 40 Jahre andauern; deren Kosten gehen gegen 187 Mrd. Euro; Quelle: DPA u. Wikipedia

    19. Kapitel: Odin Schneemelcher

    Von der Bibliothek, die an Zierrat und Bücherreichtum nicht zu vergleichen war mit der, in welcher ich vor kurzem dem angenehmen, kultivierten und anregenden Kamingespräch beizuwohnen die Ehre hatte, ging es über eine Treppe, der sich ein langer, schräg nach unten führender niedriger Gang anschloss, in eine Art Keller. Wir betraten einen großen Raum, an dessen Wänden Fackeln brannten, was zur Folge hatte, dass Schatten überall gespenstisch hin und her irrlichterten. Die Wände schienen in Bewegung; einen ruhenden Punkt suchte man vergebens. In der Mitte ein Tisch - ich korrigiere: es dürfte wohl eher ein Altar gewesen sein -, auf dem Symbole verschiedener Religionen angeordnet waren. Ich erinnere ein Kruzifix. Der leidende Jesus flackerte aufgeregt im durch einen leichten Luftzug bewegten Feuerschein der Fackeln. Er warf einen überdimensionierten Schatten an die Wand. Anubis stand neben einer Frauengestalt, die eine Fackel hoch hielt. Ich gewahrte das bekannte Yin - und Yan - Zeichen neben dem Halbmond; dahinter - eindeutig zu erkennen - das achtspeichige Rad des Buddhismus. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, zumal ich in der Journalisten-Existenz keineswegs mein gegenwärtiges Wissen über Religion besaß. In der Mitte ein Buch, von dem ich nur die geheimnisvollen, großen Schriftzeichen im Gedächtnis behalten habe. Es stellte sich als Arkanum heraus. Nachdem man mir oder dem Journalisten ein weißes Gewand angezogen hatte, wurde ich in einem feierlichen Ritual auf die Arkan-Disziplin eingeschworen. Die Regeln wurden in einer fremden Sprache vorgetragen. Man bedeutete mir, dass ich in Bälde eine Übersetzung bekäme. Ein Bruch des Arkanum hätte für mich unweigerlich, ohne Verzug, ohne Vergebung und Gnade den Tod zur Folge. Es waren etwa zehn Personen im Raum, die den Altar umstanden. Sie trugen lange, schwarze Gewänder. Unter den Kapuzen lugten weiße Masken hervor. Sie waren durchaus unterschiedlich. Ich konnte einen Vogelschnabel ausmachen wie bei einer bekannten mittelalterlichen Maske in abergläubischer Abwehr des Pestbazillus, eine Löwen- und eine Anubis-, also Schakalsmaske. Ein ägyptischer Ibis glotzte mich auf die gleiche Weise an wie eine grauslich aussehende Maske mit leeren Augenhöhlen. Ich wurde noch eine Etage tiefer geleitet in einen engen Raum, den man fossa sanguinis nannte. Eine Gestalt, die sich mit säuselnder Stimme als Priesterin vorstellte, gab mir Anweisung, was ich zu tun hätte. Sie war bekleidet mit einem durchsichtigen, seidenen Gewand. Weil ich sie auf ihr Geheiß hin anfassen sollte, bemerkte ich, dass sie darunter keine weitere Kleidung trug. Sie wartete mit einem mindestens so edlen Körper auf wie ich ihn von Elvira her kannte aus der Verbotenen Zone. In dem Verlies war es noch dunkler als auf dem Boden darüber. Ich vermochte keine Lichtquelle zu erkennen. Es war warm dort im Schoße der Erde - die Priesterin nannte diesen Ort einen Uterus -, deswegen legte ich meine Kleider ab. Die übrigens ebenso maskierte Priesterin wie die Gestalten um den Altar herum, nur weniger auffällig und schlichter, reichte mir einen Becher mit einer undefinierbaren Flüssigkeit. Während des Trinkens flüsterte sie mir ins Ohr, dass darinnen eine leichte Droge enthalten sei. Ich spürte aber keine Wirkung und wenn, dann setzte sie erst viel später ein. Als ich den Eindruck gewann, als ob die Dunkelheit noch intensiver wurde, tropfte eine dicke, klebrige Flüssigkeit von der Decke. Vorher jedoch war über mir ein schleifendes Geräusch zu hören und von Menschen stammende Schritte und Geflüster. Als ich zur Decke aufblickte, sah ich dort ein bläulich glimmendes, kaltes Licht, dessen Quelle von oberhalb der Decke kam. Der oben befindliche Boden über meiner Kammer war demnach ein Rost. Oben wurde etwas zelebriert, dessen Ergebnis ich unten zu spüren bekam in Form dieser klebrigen Tropfen. Die Frau und ich hielten uns umschlungen. Die Flüssigkeit war warm und rann unser beider Körper hinab, währenddessen rezitierte sie unablässig in einem monotonen Singsang, von dem ich den größten Teil wieder vergessen habe, was auf mich wirkte, wie wenn Zaubersprüche dem Ganzen eine übernatürlich-geheimnisvolle Bedeutung geben sollten. Ein Wort freilich verstehe ich jetzt, in meiner Eigenschaft als Religionsgelehrter, welches ich in der dortigen Grube als unbekannt und fremd hinnehmen musste. Hieros gamos, die heilige Hochzeit, ein uraltes, vorchristliches Ritual der Mysterienkulte, die heidnische, unchristliche Variante einer Neu- oder Wiedergeburt. Ich hörte feierlichen, mehrstimmigen Gesang, als ob Mönche sich mitten in der Nacht während der Vigil zum Gebet träfen und gregorianische Gesänge anstimmten. Die stark erregte Priesterin neben mir, die sich übrigens längst ihres Gewandes entledigt hatte, bedeutete mir, einige Tropfen jener ominösen herab tropfenden Flüssigkeit mit der Zunge aufzufangen. Sie selbst tat desgleichen und wir kamen uns mit den heraus gestreckten Zungen immer näher. Ich erinnere mich, dass die Flüssigkeit salzig-eklig schmeckte. Nachdem der Fluss von oben aufgehört hatte, fielen wir beide übereinander her und kopulierten wie die Tiere. Fellatio, cunnilingus - ich muss mich selbst davon distanzieren mittels der lateinischen Ausdrücke, denn mein Erinnerungsvermögen funktioniert diesbezüglich tadellos -; vorher hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass auch ein Mann zwei tief sinnliche und den ganzen Körper erschütternde Orgasmen kurz hintereinander haben könnte. Meine Priesterin schien damit ganz und gar keine Schwierigkeiten zu haben; sie erwies sich außerdem auch als anorezeptiv ohne selbst darauf zu bestehen, diesbezüglich aktiv zu werden. Sei es, dass das mit einer Droge versetzte Getränk oder der Tabubruch, in einer Grube Sex mit einer Priesterin zu haben, sei es, dass die klebrige Flüssigkeit ein übriges hinzutat oder schlicht die schlangenartigen, geschmeidigen, stets um mich bemühten Körperbewegungen der unbekannten Frau die Erregung bis ins Unermessliche steigerte, dieses Erlebnis werde ich wohl nie mehr vergessen und es ist für mich noch in der Erinnerung mindestens so real wie vorhin das Gespräch mit Odin im Café. Die Zeremonie gelangte an ihr Ende, die Priesterin hatte ihre Maske wieder aufgesetzt. Ein leiser Ekel überkam mich, als ich merkte, dass ich voller Blut war. Von oben bis unten waren wir mit Blut besudelt. Selbst der nun folgende Akt der Waschung schien noch etwas Heiliges an sich zu haben. Er wurde als Lavatio bezeichnet. Nachdem mir ein neues, frisches und sauberes Gewand angelegt worden war, wurde ich in einen Raum der Villa geführt, in welchem viele mir größtenteils unbekannte Personen saßen. Auch eine junge Frau war darunter; irgendetwas in mir, ein Instinkt, wies mich darauf hin, in ihr die Priesterin zu sehen, die mir gerade ein unvergessliches Vergnügen bereitet hatte. Mag sein, dass es der Wir kung der Droge zuzuschreiben war, aber je länger ich mich in diesem Raum aufhielt und der Predigt des Großmeisters zuhörte, desto mehr meinte ich in dem Antlitz der jungen Frau das Gesicht Melites zu erkennen ...

    Im Nachhinein kommt mir diese Zeremonie wie die Einführung eines Adepten durch den Mystagogen vor. Jedenfalls fühlte ich mich außerordentlich gut, eben wie neu geboren. Das Alte war abgetan; ein vollkommen neuer Mensch war entstanden, mutiger, machtbewusst. So mussten sich Christen gefühlt haben nach der Taufe im Jordan. Der alte Adam war gestorben; wiedergeboren war ein Christusnachfolger im Heiligen Geist. Die darauf folgende Predigt von Lipkows konnte man nicht ernst genug nehmen. Sie geht mir jetzt noch durch Mark und Bein. Ich versuche sie aus dem Gedächtnis im Wortlaut so genau wie möglich wiederzugeben. Ich bezeichne sie deswegen als Predigt, weil sie der äußeren Form nach stattfand in einer Feierlichkeit und in einem Ambiente, die an einen Gottesdienst erinnerten. Auf einem Tisch brannten Kerzen. Der Raum war verdunkelt. Von Lipkow trug ein prachtvolles, bunt besticktes Gewand, das allerdings deutlich von einem protestantischen Talar oder dem priesterlich-katholischen Ornat unterschieden war. Verglich ich gerade dieses Zeremoniell mit der christlichen Wiedergeburt, wie sie die ersten Christen mutmaßlich in heiligem Verzücken mit himmelwärts verklärtem Blick erlebt haben mochten, so stand vorzeiten gewiss die Demut vor Gott, dem Allmächtigen, im Vordergrund, jetzt aber, zweitausend Jahre danach, diente dieser Neopelagianismus der Erweiterung irdischer Machtfülle und wenn überhaupt noch vom Himmel die Rede war, so sah man darin nichts als die zukünftige in den Weltenraum hinaus ausgedehnte Macht, die vor nirgends mehr Halt macht. Er hielt seine Rede von einer leicht erhöhten, reich verzierten und mit Schnitzwerk versehenen hölzernen Kanzel, die wohl einst in einer Kirche so manchem Prediger zu trostreichen, erbaulichen Worten inspiriert haben dürfte. Seine einführenden Worte nach der Begrüßung galten mir:

    "... Herr Peter Schmidt-Duisberg, Nachfahr eines alten Wissenschaftlergeschlechts, auf Anraten und Fürsprache vieler Electi, die Sie und ihre Familie kennen und schätzen gelernt haben, ausgewiesen durch eine hervorragende wissenschaftliche Untersuchung zur religiösen Qualität des Nationalsozialismus, gehört nun zu uns und ist auf das Arkanum eingeschworen wie vorzeiten das Wissen um die heidnischen Mysterienkulte und die der Taufe der Christen vorangehende katechetische Unterweisung vor der Welt wegen der Gefahr der Verweltlichung und Verunreinigung geheim gehalten wurden. Im Namen Gottes oder im Namen höherer Werte und Mächte entstand eine Elite aus Eingeweihten, Auserwählten, die der Menge enthoben waren. Sie gab es immer zu allen Epochen in der Menschheitsgeschichte, meist unerkannt, teils geachtet, ja, auch verfolgt, gemordet, als Magier und Sektierer der Inquisition ausgeliefert wie Giordano Bruno, einer der ersten, der erkannte, dass der Kosmos grenzenlos sei und wir keineswegs allein, sondern dass es viele belebte Welteninseln darinnen gebe, Auserwählte, mal allein, dann wieder im Kollektiv geschützt, dann und wann fast die Breite einer Massenbewegung erreichend, nicht selten wieder ins Geistig-Romantische sich verflüchtigend wie in Hesses Morgenlandfahrt. Was im Isis und Osiris Kult, im Kybele- und Attis-Kult oder in den Mysterien von Eleusis die esoterische Lehre oder im Christentum die Offenbarung Gottes in seinem Sohn und Gesandten Jesus Christus war, ist für uns die Beauftragung von höheren, jenseitigen Wesen, die zu vielen von uns Kontakt aufgenommen haben, indem sie uns in Gesichten erschienen oder sich in Visionen kundtaten oder auch nur in Träumen sich manifestierten. Die Botschaft war so kurz wie einfach: Seit Jahrzehnten wiederholen sich diese Botschaften und Beauftragungen. Sie sind in den letzten Jahrzehnten immer differenzierter geworden. Das einfache Volk hat sich aus solchen Begegnungen und Ufo-Sichtungen eine Art Ersatzreligion geschaffen. Information und Botschaft sind vergleichsweise primitiv. Eine extreme Furcht geht um vor so genannten Nahbegegnungen mit den Außerirdischen. Da ist von Abduktionsphänomenen die Rede, von grausigen Experimenten in deren Raumschiffen. Immer mehr Menschen behaupten, entführt worden zu sein. Es geht das Gerücht, dass diese Wesen Götter sind, die große Teile der Menschheit zu retten beabsichtigen vor dem großen Untergang, den auch das einfache Volk befürchtet. Wir erforschen zurzeit, wie wir uns diese Ängste nutzbar machen können. Wenn sie nur nicht die Wahrheit erfahren! Wir gehen davon aus, dass es unter diesen übernatürlichen Erscheinungen verschiedene Wesenskategorien gibt, eventuell auch solche, die kontradiktorisch ein Störfeuer legen und damit die an uns gerichteten erlesenen Botschaften und Anweisungen torpedieren. Die Wesen, die zu uns Kontakt aufgenommen haben und ihn weiterhin aufrechterhalten, haben offensichtlich kein Interesse an einer gleichsam demokratischen Verbreitung ihrer Inhalte. Sie würden sich selber widersprechen und ihren eigenen Zwecken zuwiderhandeln. Ja, man kann diese regelmäßig zu allen Zeiten wiederkehrenden Phänomene durchaus so interpretieren, dass sie zu den Mitbegründern unseres Ordens zählen. Diese übernatürlichen Begegnungen sind hinreichend untersucht worden. Ein streng kausal ausgerichtetes naturwissenschaftliches Verständnis hat sie lange Zeit erfolgreich geleugnet und in einen religiösschwärmerischen Winkel verbannt. Seitdem wir unseren Blick auf die Welt erweitert haben und auch akausale Phänomene außerhalb von Raum und Zeit akzeptieren, werden solche Erscheinungen einer höheren Form von Realität zugewiesen. Diese Wesen kommen aus einer Art Überwelt oder Überrealität, die uns nur zum Teil offen steht und auf die wir nur geringen Einfluss haben, gleichwohl existieren diese Bereiche. Vor gar nicht allzu langer Zeit galt Religion als bloße subjektive Einbildung jenseits jeglichen objektiven Wahrheitsgehaltes. Folglich wurde Religion als reine Privatsache betrachtet ohne öffentliche Relevanz. Diese Wesen haben uns eines Besseren belehrt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt, einer konkreten geschichtlichen Lage, nahmen diese Begegnungen in Häufigkeit und Intensität des Austausches dramatisch zu. Diese Vorkommnisse, die es eigentlich gar nicht geben durfte, fliegende Untertassen oder schlicht unidentifizierbare Flugobjekte genannt, traten in Wechselwirkung mit unserer Welt. Demnach konnte es sich nicht um bloße Ereignisse der Phantasie oder gar krankheitsbedingter Halluzination handeln. Es gibt Geheimdokumente von Militärs, darüber, dass sie in der Lage waren, Waffendepots zeitweilig außer Kraft zu setzen. Wir hielten diese Vorkommnisse unter Verschluss, um das Volk nicht zu beunruhigen. Außerdem versprachen wir uns durch den Kontakt mit diesen – nennen wir sie ruhig wie die schlichten und einfältigen Zeitgenossen – Außerirdischen einen beträchtlichen Informationsgewinn. Diese Wesen mussten unserer technischen Entwicklung Lichtjahre voraus sein. Einige wenige Auserwählte teilten uns mit, dass diese Wesen sogar befugt seien, eine Art Urteil zu fällen über den Wert der Menschheit oder ob es sich überhaupt lohne, uns Menschen weiterhin zu fördern oder ob wir uns nicht unentwirrbar in ein Wollknäuel verheddert hätten, aus dem es keine Befreiung mehr gebe.

    Unser Orden ist sehr alt. Unter gänzlich verschiedenen Namen manifestierte er sich in den Wirren der Menschheitsgeschichte. Das Arkanum wird seit eh und je gepflegt. Unsere Historiker und Theologen haben bereits im Altertum ähnlich machtvolle Beauftragungen an Einzelne und kleinen Gruppen ausgemacht, Offenbarungen ähnlichen Inhalts. Es geht immer um das gleiche Thema: diese Erde zu bewahren, sorgsam und pfleglich mit ihr umzugehen und sich einem Höheren zu unterstellen und dem Befehl eines konkreten Auftrags zu gehorchen. Der Erfolg, der uns bisher beschieden war, lässt uns nicht im Geringsten zweifeln an der Wahrheit der empfangenen Botschaft und an der Wirksamkeit der von uns eingeschlagenen Strategie. Seit alters verfuhren wir streng mit Abweichlern und solchen, die Verrat übten. Lieber Peter, wir würden auch Sie verfolgen und töten, wohin Sie auch fliehen sollten, falls Sie auf den Gedanken kämen, auch nur ein Jota preiszugeben von der geheimen Lehre. Dafür gehören Sie ab heute zu einer weltweiten Elite. Der Verteilungschip ist inzwischen so umprogrammiert, dass Sie für die Wenigen sichtbar sind als Ordensmitglied ihnen zum Nutzen und Schutz, für die Eifersüchtigen hingegen, den Neidern und die Masse tragen sie nur das gewöhnliche Programm, das allgemein in Gebrauch ist. Wenige nur, Herausragende, Genies, Tat- und Machtmenschen, die sich teilweise gar nicht kennen, regieren im Geheimen die Welt und dies seit über hundert Jahren mit großem Erfolg. Katastrophen und Verwerfungen waren damals schon unvermeidlich. Die Erde barst ob der Vielzahl der auf ihr wohnenden Menschen. Alle drängten sich wie eine Menge Würmer und Maden um die wenigen Essensreste. Alles geiferte und gierte nach Nahrung, Wasser, Arbeit, Lohn und Brot. Eine ungeheuerliche Dekadenz hat die Menschheit fast in den Abgrund stürzen lassen. Eine Ochlokratie drohte die Welt unter ihren Klauen zu zermalmen. In Geltung stehende heilige Werte und Bildungsideale wurden mit Füßen getreten. Jeder meinte mitreden zu können, weil er der festen Überzeugung war, über sicheres Wissen zu verfügen. Kaum jemand vermochte noch zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Nur der Geheimbund, der sich bildete aus altehrwürdigen heidnischen und religiösen Traditionen, war willens und in der Lage unter Aufbietung all seiner Kraft und Energie, den Niedergang aufzuhalten. Ja mehr noch, ihn so zu steuern, dass die frei werdende Energie durch das Sterben der Vielen die Herrschaft der Wenigen nährte. Dass wir interreligiös orientiert sind, auch das Heidentum aufgenommen, ja das später von der Kirche in ihrer geschichtlichen Allmacht als das Böse und Teuflische verfemte nicht ausgespart, selbst die sich gegen religiöses Vorurteil stets gewehrt habende Naturwissenschaft im freimaurerischen Symbol von Zirkel und Winkel integriert haben, macht uns zu einer weltweit agierenden machtvollen Gruppe, die auf kein partikulares religiöses oder atheistischnaturwissenschaftliches Bekenntnis festgelegt ist. Dennoch sind wir tiefreligiös, weil wir im Namen höherer Werte, Ziele, Absichten und Mächte handeln. Es gibt immer wieder interne Kritik wegen des atavistischen Rituals, das wir vorhin durchgeführt haben. Doch der innere Zirkel unseres Bundes steht dazu und wir werden auch in Zukunft darauf nicht verzichten. Nach alter religiöser Anschauung liegen im Blut sowohl die Kraft eines Lebewesens als auch seine Seele. Diese wiederum ist höheren Ursprungs, und im Verbot des Blutgenusses liegt der heilige Respekt vor dem Leben und die Furcht begründet, den Bereich des Heiligen unerlaubt zu betreten und Gott zu nehmen, was nur ihm allein gehört. Das Christentum ereilte das nämliche Schicksal, das so vielen Religionen den Garaus gemacht hatte. Es verlor seine Kraft. Jesus selbst sagt, dass das Salz weggeworfen gehöre, wenn es fad werde. Diese radikalen jesuanischen Sprüche hat die Kirche mit Bedacht getilgt und ihre Fundamente dadurch selber untergraben. Doch die Tage ihrer angemaßten Macht des Korpus christianorum sind gezählt. Deswegen haben unsere Theologen ein Ritual ersonnen, das viel älter ist als die christliche Offenbarung und zurückreicht in die Zeit, als es noch keine Feindschaft zwischen Natur und Geist gab. Wir haben der echten Neugeburt des Adepten in Gestalt des Tauroboliums wieder zu Ehren verholfen, indem wir auf heidnische Kulte zurückgegriffen haben. Das Christentum ist substanzlos und schwach geworden. Der große Fehler bestand in der Abkoppelung des Geistes vom Körper und von der Willenskraft, sowie von den natürlichen Trieben des Menschen. So verschmachtete der Geist in eingebildeten Höhen, während die körperliche Sexualität verwelkte und alle sinnlichen Freuden verteufelt und madig gemacht wurden. Das kollektive schlechte Gewissen und die Ohrenbeichte waren nichts als ein Instrument der Kirche zur Kontrolle und Herrschaft über die Menschenmassen, die sich bis in die Neuzeit in Gestalt der Volkskirchen noch treu im Glauben hielten, mehr aus Gründen des Brauchtums und der Gewohnheit, bevor dann der Exodus in die andere Richtung begann, raus aus den beengenden Kirchenmauern. Doch schon lange vorher verfielen der Glaube der Christenheit und seine Anliegen, seine exklusiven Anweisungen und Rituale der Welt und wurden entweiht. Die verheißene geistliche Wiedergeburt durch Taufe und Geistempfang zu Pfingsten führte zu keiner besonderen, erwählten Existenz mehr. Die Gläubigen unterschieden sich nicht wesentlich von den Weltmenschen. Die Wiedergeborenen wurden zur Masse. Mit dem Wort der Wiedergeburt wie mit vielen anderen ehemaligen auf heilige Inhalte verweisende Worte des Glaubens wussten die Christen nichts mehr anzufangen. Der besondere Auftrag, den wir erhalten haben oder der in unserem Geheimbund erneuert worden ist, erging damals schon an die junge, unverbrauchte Christenheit wie an viele andere Religionen auch; der Auftrag, den Samen des Lebens weiterzutragen und an ein Endziel der Geschichte zu glauben. Der Auftrag Gottes wurde nicht mehr ernst genommen, die Menschen zu erziehen mit dem Ziel, sie auf einen höheren Stand zu bringen. Man leugnete geflissentlich die Gefahren der Preisgabe an die Welt und der Verdurchschnittlichung und Vermassung insgesamt. Man wich dem Bösen aus; man duckte sich vor ihm; man erklärte es weg aus der Welt; man verlernte die Achtsamkeit und die ständige Behauptung des Edlen vor dem Minderwertigen. Einst trat das Christentum das Erbe der heidnischen Religionen an. Nun, seitdem es zur Welt geworden ist, indem es die Fähigkeit, Sauerteig und Salz zu sein, verloren hat, will es sich nicht mehr sondern. Dies ist anstrengend und gefährlich. Deswegen mussten wir immer weiter in der Religionsgeschichte zurückgreifen bis wir auf das Urgestein stießen, den Wesenheiten und Ideen, die sich schon in den Mythen befinden und, aus ihnen frei präpariert, die einzigartige Wahrheit enthalten: nur wenige sind auserwählt und der Weg, dazu zu gehören, ist ein mühsamer und anstrengender. Du, Peter, gehörst dazu. Du bist heute ein anderer Mensch geworden, ein Glied des Ordens. Das Blut des Stieres, in dem seine Seele, seine Kraft liegt, ist mit Dir verschmolzen; Dein Einfluss und Deine Macht haben sich damit potenziert. Bedenke nur, dass Freiheit niemals Willkür ist! Solltest Du den Orden verlassen und diese Macht und Freiheit, die Du heute erhalten hast, nur für Dich und Deine kleinen egoistischen Zwecke nutzen, so bist Du des Todes. Jegliche Macht ist nur eine geliehene, alle Herrschaft ist Beauftragung. Die Ziele des Ordens müssen Dir stets wichtiger sein als Deine eigenen. Du und Deine Familie seid auf einem guten Weg, auch zu den Gründervätern und –müttern der neuen Kolonien zu gehören. Die übernatürlichen Wesen haben uns mitgeteilt, dass die Jahre der Erde gezählt sind. Wir sind genauestens informiert über den Ablauf ihres Endes und wie wir darauf zu reagieren haben. Der Plan ist, nicht nur die kulturellen Errungenschaften der Menschheit über den Untergang hinaus zu bewahren, sondern eine Elite von der untergehenden Erde zu evakuieren und sie auf andere, geeignete Planeten im Universum umzusiedeln. Die überirdischen Wesen haben uns erzählt, dass die gesamte Geschichte der Menschheit auf dieses eine große Ziel am Ende hinausläuft. Dies sei der Weg, wie sich Leben im Universum fortpflanze. Die Geschichte unseres Ordens ist Teil der Weltgeschichte mit ihren Chancen und Widersprüchen, Aufstieg und Verfall, Größe und Niedertracht. Alles fing an mit der Heiligung des Wissens, als dessen äußere Symbole die Bibliothek von Alexandria standen, später die große Gelehrsamkeit in der Blüte des Islam von Bagdad bis Konstantinopel, Istanbul, dem Zentrum osmanischer Bildung während der Hochzeit des Islam, wo die Schriften des Aristoteles in heiliger Ehre gehalten wurden, der heilige Thomas von Aquin; Klöster bewahrten das Wissen, die abgeschiedene Horte des Geistes und des Gebets repräsentierten, über die ersten Universitätsgründungen der freien Städte, bis hin zur Elite der Weisen, Kastalien, den Electi, gegründet von berühmten Mitgliedern unseres Ordens, in ihnen allen, mehr verborgen als offen zugänglich, mehr kryptisch und unverständlich für die Unkundigen, oftmals zurückgeholt, verfallen an die Welt, überrannt vom Mob, aufgestachelt von religiösen Fanatikern, die umfangreiche Bibliothek von Alexandria durch einen christlichen Mob verbrannt, der weisen Pythia schabte man mit Muscheln die Haut vom lebendigen Leibe, die Klöster geschändet - in ihnen allen wurde das grundlegende Wissen aufbewahrt, stets gefährdet, stets bedroht, nur den Eingeweihten verständlich. Das Arkanum, welches heilig und unter Verschluss gehalten worden war, drohte an die Welt zu verfallen und unwirksam zu werden. Kastalien ist für die Öffentlichkeit unerreichbar und unbekannt in unserer Epoche, der dritten nach dem Großen Desaster, wie wir sie zu benennen pflegen, der einzige Ort, an welchem dieses alte Wissen nunmehr tradiert und noch lebendig erhalten wird. Doch die Bedrohungen nehmen zu; keiner weiß, wie lange noch die Mauern von Kastalien werden standhalten können. Diese unverkennbaren Anzeichen des Niedergangs, schon lange vor dem GD, gab den Gründern unseres Ordens das Signal zum Aufbruch. Wenn die Welt und ihre Geschichte ohnehin dem Untergang geweiht waren, so wollten wir ihn steuern und lenken, um Kontrolle und Macht, Überblick und Herrschaft nicht aus der Hand zu geben. Wie Sie wissen, folgten entsetzliche Krisen, Kriege und ein Massensterben, das die Erdbevölkerungszahl drastisch reduzierte. Wir ließen Krisen und Kriege kommen, wie wir es für zweckmäßig hielten. Die sicherste Weise, einer drohenden Lawine zu entgehen, ist, sie selbst auszulösen durch geschickt verteilte Sprengungen. So haben wir die Krisen selbst verursacht, weil sie andernfalls in Kürze ohnehin durch dumme Zufälle gekommen wären und uns unkontrolliert überrannt und alles unter sich begraben hätten. Unser Orden hat den Auftrag, Kultur und Wissen der Menschheit zu bewahren und in Ehren zu halten und vor den Angriffen des Mobs zu schützen und hat diesen Auftrag stets unter Einsatz all seiner Möglichkeiten mit extremer Entschlossenheit in die Tat umgesetzt. Ja, auch mit Blutvergießen! An dieser geschützten Stelle kann ich offen mit Ihnen sprechen. Außergewöhnliche Lagen erfordern ungewöhnliche Mittel. Wir haben einen Geheimdienst eingerichtet und paramilitärische Verbände, die unseren Interessen dienen. Wir haben unsere Verbindungsleute in fast allen Militärs der Welt, und wir üben im GWK einen beträchtlichen Einfluss aus. Leider ziehen am Horizont dunkle Wolken auf. Ich sage Ihnen nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass in der Gegenwart, also der dritten Epoche nach dem GD, und die - anfangs jedenfalls - durch eine nennenswerte Beruhigung gekennzeichnet war, der brodelnde Sumpf der Verbotenen Zonen wieder einmal von sich reden macht. Die VZ sind ja zu unserem Schutz umgeben von hohen Mauern und durch ihre Schleusen kommen nur ausgewählte und im Ganzen wenige Menschen hinaus und hinein; trotzdem besteht Anlass zur Sorge. Die Ringe der VZ sind immer weiter und umfangreicher geworden. Zwielichtige Elemente, Gescheiterte, solche, die sich den Verteilungschip entfernt haben zum Zeichen des Protests, Agitatoren, Rädelsführer, religiöse Fanatiker, siedeln schon seit Jahrzehnten in der Nähe der VZ, so dass wir zu unserem Schutz die Mauern immer weiter und höher ziehen mussten. Gegenwärtig scheint sich die Lage zuzuspitzen und wir müssen unter Umständen zu drakonischen Maßnahmen greifen. Was uns Sorgen macht, ist, dass die neutrale Mitte, bestehend aus folgsamen, arbeitseifrigen Familien, die gerne unserem Arbeitsgebot gehorchen und den durch den Verteilungschip gewährleisteten Frieden akzeptieren, Menschen, die jegliche Unsicherheit, alle ungute Leidenschaft hassen, immer mehr und erfolgreicher von Subjekten der VZ unterwandert werden. Diese Infiltration und Umerziehung der Bewohner der neutralen Zonen können wir auf keinen Fall dulden, weil sie in unseren Labors und Hightech-Einrichtungen forschen und arbeiten. Wir haben sie so erzogen und gentechnisch ausgestattet, dass sie als unsere Arbeiterinnen und Drohnen wie in einem erfolgreichen Insektenstaat tätig sind. Eigentlich sollten sie gegen andere Ideologien als die der Arbeitsnotwendigkeit immun sein. Unsere Wissenschaftler konnten offensichtlich nicht alles vorausberechnen. Forschungsaufträge sind in Gang gesetzt worden, die Erklärungen finden sollen für den Erfolg der demagogischen Ratten aus den VZ. Deswegen sind Sie, Peter, für uns so wichtig, wegen Ihrer guten Beziehungen zu den VZ ..."

    Nun war es heraus. Ich sollte spionieren und vermutlich als Kontaktmann eingesetzt werden, möglicherweise auch als Vermittler. Wenn Melusine um Elvira wusste, so wusste man im Orden ebenfalls um mein Verhältnis zu ihr. Alles passte zusammen und ich erschrak. Kein Wort von einer weiteren Berufung ins GWK. Man hatte mich wohl eher für Handlangerdienste ausersehen. Wenn ich nicht aufpasste, würde sich meine Mitgliedschaft im Orden innerhalb der VZ als Himmelfahrtskommando erweisen. Ich musste von nun an auf der Hut sein; durfte niemandem mehr trauen, ganz besonders Melusine nicht. Denn wenn ich den ganzen Vorgang richtig einschätzte, besaß sie mehr Macht, als ich vor meiner Initiierung angenommen hatte. Sie besaß Informationen erster Güte aus der VZ; demzufolge war sie auch in der Lage, jederzeit den umgekehrten Informationsweg einzuschlagen und Gerüchte über mich in der VZ zu verbreiten, die meine Lebenserwartung erheblich verkürzen würden. Ich hatte ja auch nur die Einweihung dritten Grades erhalten. Beim zweiten Grad wusste man erheblich mehr, zum Beispiel über die außerirdischen Wesen oder Engel oder göttlichen Propheten. Woher kamen die, was haben die mit uns vor? Oder waren die Geschichten nur erfunden? Ein höherer Grad der Weihe würde auch Auskunft darüber vermitteln, ob man zu den wenigen gehörte, die für eine Evakuierung der Erde vorgesehen waren. Trotz meines Astronomen-Hobbys besaß ich nicht die geringste Vorstellung von einer etwaigen technischen Durchführbarkeit dieses Vorhabens. Gerüchteweise hatte ich vernommen, dass allerorten geforscht und experimentiert wurde, um dieses Ziel zu erreichen. Auch mein Vater hatte wiederholt Andeutungen gemacht, tat sehr geheimnisvoll. Mir waren die Details gleichgültig; ich wollte auf jeden Fall zu den Gewinnern gehören und in die Unvergänglichkeit eingehen. Man munkelt, dass man das Genom in einen Digitalcode transferiert. Ich will auch dabei sein! Das wäre die Chance, wenn nicht ewig, so doch mehrere Lebensspannen hintereinander zu existieren!

    20. Kapitel: Die Verbotene Zone

    Wieder daheim, ohne mich so recht heimisch zu fühlen. Erschöpfungszustand. Nach der Nacht in Bremen, in der ich so gut wie gar nicht geschlafen hatte, vereinbarte ich einen Termin in der psychosomatischen Abteilung der Klinik Eppendorf, der mir als Privatzahler unverzüglich gewährt wurde. Am gestrigen Nachmittag wurde ich auf die fußläufig erreichbare Psychiatrie überwiesen. Abends lenkte mich selbst eine viertklassige Fernsehschnulze nicht ab vom Trubel in meinen Gedanken. Um überhaupt ein wenig Schlaf zu finden, nahm ich eine ganze Noplizin, die wie ein leichtes Narkosemittel wirkt. Ich musste unwillkürlich an die Sache mit Michael Jackson denken; da war das Narkotikum Propofol im Spiel, dessen Überdosierung Herz und Kreislauf zum Erliegen brachten. Während der Radtour heute morgen versuchte ich mich auf das Treffen in zwei Wochen bei mir zu Hause zu konzentrieren und mich auf das Wiedersehen mit Melite zu freuen. Ihre Emails erreichten mich mittlerweile regelmäßig. Inhaltlich enthielten sie keine besonderen Neuigkeiten, sehr wohl aber liebevolle Koseworte und sie verrieten viel Freude auf das Treffen. Leider wirkt sie bislang nicht ansteckend auf die innere Unruhe der Gedanken. Den gesamten gestrigen Umweg in die Hamburger Psychiatrie hätte ich mir sparen können. Einen Tag verloren! Was hatte ich denn eigentlich erwartet? Langwierige Anamnese bei Professor Nebendorf beziehungsweise seinen Oberärzten und Assis tenten. Nachmittags in der Psychiatrie bei einem Oberarzt namens Rohrmünder. Die Diagnosen, jeweils eingeleitet mit schwirren mir noch durch den Kopf. Mein ungewöhnliches oder übernatürliches Erleben passte offenbar in kein Schema. Mit den Inhalten war ich sparsam – das ging schließlich nur mich etwas an; trotzdem fühlte ich mich gezwungen, Melite zu erwähnen und ihre Verwandlung in Melusine. Die metaphysischen Konferenzen bekamen ein anderes Etikett. Hypnagoge Schlafstörungen bedürften der Behandlung. Das Weggetretensein im Supermarkt samt dem gestrigen außerweltlichen und –zeitlichen Erleben wurden mit ernster Miene vom nachmittäglichen Psychiater dem Bereich schizophrener Halluzinationen zugeordnet mit beginnender ernsthafter dissoziativer Identitätsstörung. Ob ich unter Selbstverletzungsdrang litte oder Depressionen habe? Ob ich als Kind schlimme Missbrauchslagen erlitten hätte? Nein und abermals nein! Er verschrieb mir leichte Psychopharmaka gegen die Halluzinationen, die ich natürlich nicht nehmen werde. Auf der Heimfahrt dachte ich lange über die nach. Trance, Besessenheit, Glossolalie, was hat man diesen Armen nicht alles angedichtet! Die heutige Erklärung ist menschlicher: ein Kind hatte keine andere Wahl, als eine Überlebens-Identität oder mehrere zu entwickeln, um eine schlimme, lebensbedrohliche Lage auszuhalten, in die dann eben ein robusteres Ich entsandt wurde, an das man sich später nicht mehr zu erinnern vermochte – aus reinem Selbstschutz. Mir taten diese Leute leid, weil das eine vom anderen Ich nichts weiß oder auch viele Identitäten einfach so unverbunden nebeneinander existierten in ein- und demselben Kopf. Weder hatte ich solch Traumata in meiner Kindheit erlebt noch litt ich unter Amnesie – im Gegenteil: ich vermochte mich ja haarklein an jedes Detail im Leben des Journalisten zu erinnern. Ob ich Angst vor solchen Halluzinationen besäße? Nein! Das war ein ehrliches Nein, was den Oberarzt mit offenem Mund zurückließ. Offensichtlich hatten die meisten meiner Leidensgenossen einen Horror vor ihren Absenzen, Trance-Zuständen, Abduktionen, Wahnvorstellungen und Entrückungszuständen. Ja, dann solle ich das doch einfach geschehen lassen und mich nicht dagegen sträuben! Welch Erkenntnis nach sechs Stunden Fragen beantworten, Tests, Herumwühlen in Kindheitserlebnissen, die vorrangig gut waren. Ich kann nur sagen: ich freue mich regelrecht auf die nächste Vision oder den nächsten Einstieg in ein spannendes Leben, in welchem ich viel jünger bin und in dem ich vermutlich auch jene Elvira kennenlernen würde, gentechnisch optimiert – na, mir sollte es recht sein, solange ich wieder zurückkehren durfte und ich nicht Gefahr liefe, unser Treffen hier im Haus zu versäumen. Am Eindrucksvollsten fand ich noch die Vermutung des eher wohlwollend psychoanalytisch und psychosomatisch arbeitenden Nebendorf am Morgen, meine übernatürlichen oder – wie er wortwörtlich sagte – Erfahrungsinhalte seien auf zurückzuführen. Dies sei zwar eine anerkannte psychotherapeutische Methode, die auch von den Kassen bezahlt werde, jedoch scheine ich ihr auch ohne äußere Anweisung kundig zu sein. Der Grundgedanke sei ein induziertes Tagträumen, welches verborgene Komplexe und verdrängte Affekte aus dem Unbewussten ans Tageslicht befördere und seine heilsame Wirkung entfalte, indem man den Eindruck gewinne, man sei selbst Urheber der imaginierten Realität und könne sie maßgeblich beeinflussen. In meinem Fall sei ich mein eigener Therapeut. Ich hätte durch eine Art Autosuggestion mich in eine Scheinwelt geflüchtet als Reaktion auf meine triste Lebenssituation. Nun ja – mein Gesicht formte sich zu einem Lächeln -, die ganz reale Melite, mit der ich geschlafen hatte, erwähnte ich erst Rohrmünder gegenüber, wahrscheinlich würde der alte Nebendorf nur für Illusion halten, was er sich selber in seinem Alter – ich glaube, er übertraf mich an Jahren – nicht mehr vorstellen konnte, dass ein kleiner Rentner aus Geversdorf so viel Glück bei jungen Frauen hatte. Gleichwohl fand ich seine Diagnose ansprechend; vielleicht besaß ich wirklich eine überdurchschnittliche Begabung für eine blühende Phantasie ohne Krankheitsbild.

    Ich fläzte mich auf den Sessel vor dem Kachelofen, wurde zunehmend ruhiger und döste so langsam vor mich hin …

    Die Verbotenen Zonen wurden in fast allen großen Städten eingerichtet, nachdem sich das Chaos in der ersten Phase nach dem Großen Desaster zu Beginn der zweiten Epoche einigermaßen gelichtet hatte. Ursprünglich dienten sie zur Eingrenzung oder Ausgrenzung der Revolutionäre und Rebellen, eigentlich all jenen zwielichtigen Elementen, die sich nach dem GD nicht mehr anpassen konnten oder wollten. Die Orte solcher Ghettos ergaben sich wie von selbst. Innenstädte, in denen keine Familie mehr leben wollte, die etwas auf sich hielt, und von einem fragwürdigen und unsozialen Bodensatz der Gesellschaft bevölkert wurden, wurden schlicht und einfach mit einer hohen Mauer und Stacheldraht umgeben. Im Laufe der Zeit wuchsen diese Zonen mehr und mehr in Richtung Peripherie; schließlich wurde sogar geplant und gebaut, nicht nur das Kaputte und Abgerissene, Vermüllte und Verdorbene so lange bewohnt, bis die Ratten das letzte Wort sprachen. Seit man sich an die Existenz dieser Ghettos gewöhnt hatte und sie von den gewöhnlichen Bürgern geschätzt wurden, ging man sogar auf ihre Bedürfnisse ein. Um die VZ herum war eine Rennstrecke errichtet worden, etwa dreißig Kilometer lang, auf der man sich nach Herzenslust austoben konnte. Die Rennstrecke durfte von jedem genutzt werden, der imstande war, sich ein Auto zu mieten. Auf der Piste hatten die zahllosen Regeln des Elektroautomobilverkehrs keine Gültigkeit mehr. Aufenthalt und Zutritt für die VZ waren zunächst streng geregelt. Inzwischen sind daraus anarchistische Zonen geworden, in denen alle möglichen Formen von Korruption herrschen, die aber gleichzeitig nicht einer gewissen Attraktivität entbehren. Ein Experte, dessen Namen mir entfallen ist, hat unlängst die VZ zutreffend als Unbewusstes oder ES der Gesellschaft bezeichnet, während die Normale Zone das Erwachsenen-Ich darstellt und das Über-Ich vom Großen Weltkomitee gebildet werde. An dieser Charakterisierung ist was dran. Viele aus den NZ waren Dauergäste in den Dancebuildings, seitdem der Zugang de facto offen war. Sie wollten der Langeweile entkommen; wenigstens für kurze Zeit die Überreglementierung durchbrechen. Solche, die es sich leisten konnten – wie ich -, führten eine Art Doppelleben. Sie waren Mitglied einer der Gangs, entweder waren es Biker oder Rennfahrergruppen mit verbotenen Autos, die noch mit Verbrennungsmotoren betrieben wurden. Diese wiederum lieh man an die interessierten Normalbürger aus, woraus sich ein schwunghafter Tauschhandel entwickelte. Weiß der Teufel, woher der Sprit kam. Er lag in ausreichenden Mengen vor. Getauscht wurde hier mit allem, was man irgendwie gebrauchen, entfernt als wertvoll ansehen oder weiterverkaufen konnte. Sex wurde selbstverständlich als Währung anerkannt. Die VZ hieß nicht grundlos so. Hier ging es äußerst unmoralisch zu. Ethik und Sittlichkeit waren hier Fremdwörter. Selbst das alte, entwertete Papiergeld war hier neben den viel begehrteren Gold- und Silbermünzen noch in Gebrauch, bunte, abgegriffene Papierfetzen aus der Zeit der Krise mit dem kaum lesbaren Aufdruck „entwertet. Was soll’s? Auch ich hatte mir einen kleinen Vorrat dieses bunten Papiers angelegt, das ich nur aus Büchern und vom Hörensagen kannte aus der Zeit meiner Urgroßeltern. Ihn hütete ich wie vieles andere in meinem Depot in der VZ. Den Markt brauchte nicht wiedererfunden zu werden. Er war so alt wie die Menschheit selbst. Getauscht wurde immer. Warum sollte man sich die Tauschgeschäfte nicht erleichtern durch eine Übereinkunft, dass man das alte Papiergeld als Mittel wieder einführte? Zumal noch genug davon vorhanden war. Seine Umlaufmenge musste nur streng kontrolliert werden. Für die dazu notwendigen Absprachen trafen sich sogar alle Gangbosse und „Honoratioren der VZ. Auf Fälschung stand die Todesstrafe. Da wurde nicht lange gefackelt. In dieser gefährlichen, autarken Zone galt eigenes Recht und Gesetz samt Exekutive und Vollstreckung. In der zweiten Epoche kontrollierte noch die Polizei von außen die verwinkelten Gassen der VZ bis sie sich eines Tages weigerten und streikten. Der Dienst war den Ordnungshütern zu gefährlich geworden. Man stellte überrascht fest, dass die Morde und Tötungsdelikte keinesfalls wie erwartet sprunghaft anstiegen, sondern sich in etwa die Waage hielten. Mit anderen Worten: Ich kann nicht für alle VZ auf der Welt sprechen, aber in meiner VZ – die ich kenne und in welcher ich einen Namen habe – hat sich ein verlässliches Kräftegleichgewicht eingestellt. Jeder Besuch ist und bleibt allerdings gefährlich. Hier kann man einfach so verschwinden. Niemand würde sich trauen, in der VZ nach einem zu suchen. Gehandelt wurde leider auch mit Menschen, was mich persönlich sehr störte. Aber ich musste dazu schweigen, sonst wäre ich das letzte Mal hier gewesen oder würde selber auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Neben den paar alten Geldscheinen, mit denen ich hier und da ein paar Annehmlichkeiten eintauschen konnte, bestand mein Kapital in etwas Anderem. Die Pfunde, mit denen ich wucherte, waren meine guten Beziehungen. Darüber hinaus konnte ich lesen und schreiben, was an diesem finsteren Ort keineswegs selbstverständlich war. Mit diesen Diensten hatte ich immerhin eine Handfeuerwaffe erworben; ein recht großes Bike mit einem wohlwollenden Artikel, den ich über den Anführer der Gang geschrieben hatte, gekauft. Dass dieser Artikel überhaupt veröffentlicht wurde, kostete mich einige Mühe und Überzeugungskraft auf den Redaktionssitzungen. Ich bemühte mich des Weiteren, immer freundlich über die VZ zu berichten. Das Böse ließ ich halt weg; über den Menschenhandel und die sexuellen Abartigkeiten, die hier teilweise praktiziert wurden, verlor ich kein Wort. Darum fühlte ich mich relativ sicher. Trotzdem: wer die VZ betrat, ließ alle herkömmlichen Sicherheiten hinter sich. Hier wurden nicht nur Drogen vertickt, nein, das gesamte Ghetto war eine einzige Droge. Ständige Lebensgefahr brachte das Blut zum Kochen; das triumphale Feeling, sein Leben behauptet und erfolgreich um seinen Erhalt gekämpft zu haben, bescherten dir ein euphorisches Glücksgefühl, wie es die Vormenschen gekannt haben dürften, deren Impulse und Triebe noch nicht durch Vorschriften und ein ständig ätzendes und nagendes Gewissen domestiziert wurden, nachdem sie den Widersacher erfolgreich mit der Keule zu Boden gestreckt hatten. In den VZ waren praktisch alle Waffen erlaubt, während in den NZ selbst böse Blicke verboten waren, wo Freundlichkeit Pflicht und Gutmenschentum Norm war, wo man nur das Beste für alle wollte über den genialen Ausgleich via Verteilungschip, wo man den Bewohnern ein schlechtes Gewissen einschärfte schon beim heimlichsten Gedanken an Gewalt und Handhabung von Waffen. Man musste halt die Menschen zu ihrem Glück zwingen, indem man sie überversorgte und sie ständig satt und müde hielt, sie mit Telenovelas fütterte und ihre Leidenschaften kontrollierte, indem für jedes Bedürfnis eine passende Fernsehshow angeboten wurde, Castings hier, Menschen in prekären Lebenssituationen dort, Jugend, schöne Mädchen, Mode, Sex, Gesang, Leid, Unglück – kurz: alles, was Gefühle machte, wurde dort verkauft. Für diejenigen, die sich nicht trauten, wurde auch eine ständige Liveschaltung zu verschiedenen Orten der VZ angeboten, der Rennbahn zum Beispiel oder dem größten Dancebuilding, aus dem so mancher nur noch in der Horizontalen auf einer Bahre hinauskam. So konnte man sich wenigstens am Anblick von Lust und Ekstase anderer weiden. Ich wohnte ja selbst in einer solchen NZ. Mit Verlaub gesagt: Es war dort stinklangweilig und Gott sei Dank war ich kein ängstlicher Typ. Der einzige Vorteil: Man war wirklich sicher; und ich konnte in Ruhe schreiben, falls ich denn nun einmal tatsächlich für die Redaktion zu arbeiten hatte. In der VZ blühte ich auf. Die Person wechseln wie ein abgetragenes Kleid. Nur das elementare Zutrauen zu sich selbst und die rasche Einschätzung eines Blicks oder des provokanten Gangs eines Fremden, der stur auf dich zukam und keinen Millimeter auszuweichen bereit war – nachgeben oder Konfrontation? -, garantierte hier halbwegs das Überleben. Notwendig war das Abzeichen der Gang, zu der man gehörte. Leider konnte alles gefälscht werden. Das wussten die Gegner auch. Als letzte Rettung bestand immer noch die Möglichkeit eines Anrufs beim Boss, falls der zufällig erreichbar war. Hatte er einen schlechten Tag oder du warst in Ungnade gefallen, so konnte man Pech haben. Es klingt dumm und überheblich: Ich mochte diesen Nervenkitzel; die Angst um das Leben! Von Mann zu Mann mit der urtümlichsten aller Währungen bezahlen! Do ut des, ich gebe dir dies und das, dafür brauchst du mich und ich bekomme von dir dies und jenes; dafür brauche ich dich; nicht mehr, aber auch nicht weniger; das wertvollste Geld: Verlässlichkeit und Vertrauen. Die unverzichtbare Intuition: Wie weit kann ich in dieser Situation gehen? Morgen trifft das Heutige schon nicht mehr zu, gelten ganz andere Regeln. Man lernt hier, wie viel ein Leben effektiv wert ist, bestehend aus Fleisch und Blut, Angst und Hoffnung, nicht als papiernes Recht oder politische Sicherheits-Floskel. Bezeichnenderweise gab es hier weniger Lüge. Es ist so wie es ist. In den Händen eines Stärkeren hat dein Leben nur die Bedeutung, die dein Gegenüber ihm noch gibt, - noch, betone ich -, was sich in wenigen Minuten in sein Gegenteil verkehren kann. Bildung, Herkunft, Titel, das Maß des bereits erlittenen Leids spielen keine Rolle. Alles wird auf die nackte Existenz reduziert. Deswegen brechen alle Lügen und edlen Wahrheiten vom Menschen angesichts der allgegenwärtigen Todesdrohung in sich zusammen.

    Einmal gab es ein böses Missverständnis. Mitglieder einer konkurrierenden Gang hatten mich bereits in ihren Folterkeller verbracht. Ich hatte eine Heidenangst vor den Schmerzen und vor dem Sterben. Plötzlich wurde ich sogar religiös; ich betete, warf mich auf den Boden, küsste die dreckigen Schuhe der Gangster. Ich wusste nicht mehr, auf was ich mich noch beziehen sollte. Wie konnte ich in seinen Augen mein Leben wertvoll machen? An was vermochte ich noch zu appellieren, wenn kein gemeinsam geteilter Boden aus humanen Grundsätzen, Recht, und Religion mehr bestand? Wenn selbst die Angst vor Strafe beim Mörder bedeutungslos war? Ich versuchte, mich ihm anzudienen und bot Gefälligkeiten an. Ich redete mich um den Tod. Ich glaube, nie in meinem Leben habe ich so viel Unsinn geredet. Das Existieren wurde bleischwer. Leben war Überleben; immer nur auf die nächsten Minuten bedacht. Ich weiß nicht, an was ich alles in dieser Ausnahmesituation gedacht habe, in den Pausen, als mein Peiniger den Raum verließ aus mir unersichtlichen Gründen. Ich lebte ausschließlich in seiner Welt. Was dachte oder plante der Verbrecher? Mit wem telefonierte er? Könnte irgendwas in seinem Kopf vorgehen, was meinen Wert für ihn steigerte? Eines habe ich noch in Erinnerung: Mir fiel plötzlich die Geschichte von Hemmingway ein, Der alte Mann und das Meer: diese Einsamkeit, der endlose Kampf mit dem übergroßen Fisch, umgeben von permanenter Todesdrohung, den tosenden Elementen ausgesetzt. Der unaufhörliche Dialog mit sich selbst; die Selbstdisziplin beim Verzehr eines rohen, halb verdorbenen, kleinen Fisches, um bei Kräften zu bleiben. Damals gelangten nur Erinnerungsfetzen in mein Gedächtnis. Von Vollständigkeit oder korrekter Deutung der Geschichte war ich weit entfernt. Ich glaube, eines gab mir an dieser Geschichte Mut: Das bloße Dass; der Fischer gab den Kampf eben nicht auf, obwohl seine Hand schon blutete vom ewigen Halten der Schnur, an welcher der Fisch stundenlang zog. Erst aus der zeitlichen Distanz gelangte ich zu einer Auslegung auf meine damalige Bedrohung hin. Das Chaos des Meeres war das Schicksal. Die Tatsache, dass der Alte Mann am Ende seine Beute an die gefräßigen Haie abgeben musste, weiter, dass er nach all den Strapazen nächtens anlandete, völlig entkräftet und erschöpft, schon aus Schwäche umfiel; es waren keine Leute da, die applaudierten oder ihm halfen; aus all dem sprach mir die Sinnlosigkeit der ganzen Existenz. Wenn ich damals in diesem dreckigen, stinkenden, feuchten Keller gestorben wäre? Na und? Anonyme Mächte hätten mein Schicksal nur verkürzt. Das, was ich danach erlebte, hat es sich wirklich gelohnt? Vielleicht darf man so auch nicht fragen. Vielleicht muss man den Stein ewig wälzen. Anderntags wird der Fischer von seinem jungen Freund versorgt, nun bekommt er doch noch etwas Anerkennung. Einheimische und Touristen staunen ob der Länge des Skeletts des abgenagten, seitlich am Boot hängenden Fisches. Was macht der Alte Mann? Natürlich weiter! Was auch sonst? Er lebt und kämpft weiter gegen die Elemente! Der Sinn ergibt sich im steten Weitermachen. Sinn ergibt sich gerade nicht infolge von zermürbender Reflexion. Ich will jetzt nicht ins Philosophieren abgleiten, wenn ich von unserem Eintritt in die VZ erzähle. Jedenfalls kann ich mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich nur durch einen Zufall gerettet wurde. Der Anführer kam nach einer langen, für mich quälenden, von Untergangsphantasien geplagten Pause wieder herein, band mich los und gab mir die Hand. Ich war nie in meinem Leben – weder vorher noch nachher – so perplex wie in jenem einmaligen Augenblick, als mir das Leben nicht durch Leistung und Verdienst, sondern von etwas, was ich nicht einmal benennen könnte, geschenkt wurde. Alles gestaltete und bildete sich neu wie in einem Schöpfungsakt, mit dem ich nichts zu tun hatte. Reines Geschenk. Und dann gab er mir auch noch die Hand. Ich begann hemmungslos zu weinen. Nie wieder erfuhr ich solche Freude. Ekstatisch, orgiastisch wie einst die Bacchanten und Mänaden im Gefolge des Dionysos, so feierte ich das Leben. Vernandez – so hieß der Anführer der Motorradgang - wollte Wiedergutmachung um seiner und meiner Ehre willen, - er liebte nicht die großen Worte der Entschuldigung -, dabei war ich ihm doch so dankbar wie gegenüber einem Leben spendenden Gott. Er schenkte mir ein Mädchen. Ich war noch zu neu, um die Gesetze der VZ zu verstehen. Dieser Schenkungsakt war auch eine vergleichsweise milde Form von Menschenhandel. Ich konnte dieses Geschenk nicht ablehnen, weil ich Angst davor hatte, ihn wieder zu beleidigen. So kam ich mit Elvira zusammen. Obwohl ich zunächst Hemmungen hatte, war dies das Beste, was mir je passieren konnte. An mein neu geschenktes Leben – ich glaube, es war bereits Spätnachmittag, als ich aus dem Kellerloch befreit wurde -, schloss sich der Besuch in der Dancehall an, ein Etablissement, welches Vernandez gehörte und in welchem Elvira als Stangentänzerin arbeitete, ein Abend und eine Nacht, die ich zu den schönsten zähle in meinem ganzen Leben, noch völlig berauscht von dem scharfen Kontrast zwischen Todesnot einige Stunden zuvor und paradiesischen Geschenken und Anblicken, die mir nun zuteil wurden. In eben dieser Dancehall war ich seitdem Stammgast. Ich wickelte dort meine Geschäfte ab, pflegte Kontakte. Mit Vernandez war ich inzwischen befreundet. Er gehörte zwar der konkurrierenden Motorradgang an; mein Boss schätzte mich jedoch als Vermittler, wenn es mal wieder Stress zwischen den Gangs gab. Nicht zuletzt wegen meines rednerischen Geschicks vermittelte ich zwischen den Banden um Einflusssphären, Geldumlauf, Strafmaßnahmen, Bauvorhaben und vieles andere mehr.

    Melusine kannte sich mindestens ebenso gut in der VZ aus wie ich, obwohl sie nicht über die vielen Kontakte verfügte. Natürlich wollte sie in die Dancehall Nummer eins, in den Schuppen von Vernandez, weil Elvira dort arbeitete. Viele Mitglieder des GWK und des Geheimbundes, soweit sie mir bekannt waren, pflegten Kontakte innerhalb der VZ, machten dort ihre Geschäfte, und nicht wenige unterhielten in komfortablen Wohnungen schöne und kostspielige Mätressen, die zum großen Teil auf Kosten ihrer „Auftraggeber" auch noch genetisch optimiert waren. Elvira ereilte dieses Schicksal. Sie war gentechnisch verändert nach Klasse eins, was für einen Normalsterblichen unerschwinglich gewesen wäre. Infolge eines riskanten Deals wurde sie eines Tages Vernandez übereignet von einem prominenten Mitglied des GWK. Nur ich kannte den Namen, den mir Vernandez unter strengster Verschwiegenheit anvertraut hatte. Als Gegenleistung erledigte Vernandez einige schmutzige Auftragsarbeiten. Irgendwann wurde ihm Elvira über. Sie war überaus selbstbewusst, manchmal zickig und wenig folgsam.

    Am Checkpoint angelangt, wurde unser Chip gescannt und man durchsuchte uns auf Waffen. Es folgten die üblichen Belehrungen. Dass wir exterritoriales Gebiet beträten; die Polizei sei für uns nicht mehr zuständig. Jeder durfte hier inzwischen hinein. Ich glaube, den Machthabern war es inzwischen egal, ob hier jemand zu Tode kam; sie wollten nur wissen, wer. Innerhalb der Zone hielt sich die Gewalt gegenüber sogenannten Touristen in Grenzen, seitdem man mit ihnen einen lukrativen Handel betrieb. Die Kuh, die man melkt, schlachtet man bekanntlich nicht. Die Gangs wussten, dass das Geschäft sofort zurückgehen würde, wenn es sich unter den ängstlichen Besuchern herumsprach, wenn nur das Gerücht auftauchte, dass jemandem ein Finger gekrümmt worden wäre. Gegen den Scann konnte man nichts unternehmen. Falls man auf den Gedanken kam, den Chip zu entfernen, wurde man von der Geheimpolizei festgenommen, es sei denn, einem gelang die Flucht in die VZ. Leider war man in diesem Fall fortan vogelfrei. Weil man kein Tourist war, mit dem sich Geld verdienen ließ und man niemals zurückkehren konnte, musste man sich eine neue Existenz aufbauen. In der VZ lebten viele, die sich von Anfang an geweigert hatten, sich einen solchen, nur der persönlichen Sicherheit dienenden Chip einzupflanzen. Nachdem die Machthaber in Gestalt ihrer Sondereinsatzkommandos zunächst mit brutaler Gewalt und schlimmen, der Abschreckung dienenden Verstümmelungen gegen solche Delikte von staatlichem Ungehorsam vorgingen, kapitulierten sie nach kurzer Zeit, als der Verweigerer zu viele wurden. Man drängte sie in die VZ ab und schwieg diesen peinlichen Machtverlust des Staates tot. Ansonsten war der Chip eine gute Sache. Eine möglicherweise perfekte Überwachung des Einzelnen wurde dadurch ausgeschlossen, dass am anderen Ende keine Person mit Bewusstsein saß, die die Bewegungen meines Lebens hätte interpretieren können, sondern eine Instanz, die blind war. Ganz blind wiederum doch nicht, insofern ein Computersystem eifrig ohne Wissen auch die langweiligsten Vorgänge speichert, freilich jederzeit, von berufener oder unberufener Hand um einen Output gebeten, die fraglichen Daten, Bewegungsprofile, Einkaufsdaten und dergleichen, dann auch bereitwillig ausspuckt. Schon von weitem hörten wir das Gedröhn der Musik, das dumpfe Hämmern der Bässe. Wehrenfels war mitgekommen, seiner Straßenschule wegen. Überall qualmende Müllhaufen, bestialischer Gestank, zwielichtige Gestalten, Kinder ohne Eltern „Verdammt, ich hasse das… „Deswegen das Straßenschulen-Projekt! „Die müssen überleben! Was sollen die denn sonst verkaufen außer sich selbst? „Im besten Fall arbeiten sie als Dienstmädchen. „Dienstmädchen? Dass ich nicht lache! Ein Straßenprediger stand auf einer leeren Bierkiste und predigte vor einer Handvoll zerlumpter und müder Zuhörer. „Wie einst Savonarola kommentierte Wehrenfels die bizarre Szene. „Wo war das noch? Meine Frage verhallte ungehört im Niemandsland. Ich glaube, es war Florenz. Wir gingen zu meinem Depot. Wehrenfels: „Soll ich mich umdrehen? „Machen Sie Witze? Im Übrigen: Falls Sie hier etwas bunkern wollen, dürfen sie gern mein Depot benutzen, umsonst … Ich zog mein Lederdress an und die Kutte, die das Heiligtum der VZ war, weil ihr die Rang- und Ehrenabzeichen anhafteten, die Auskunft über deine Zugehörigkeit zu welcher Gang verrieten und allen unmittelbar ins Auge drückten. Der Rest besaß nur Lumpen oder Straßenanzüge wie die Touristen. Wehe dem, der sich mit falschen Abzeichen schmückte. Darauf stand der Tod. Bei Entweihung meiner Kutte, Beschmutzung, Bespuckung, Beleidigung, Diebstahl war ich nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, den Übeltäter unverzüglich zu ermorden. „Harte Sitten hier! „Hätte ich auch nicht gedacht, dass der nette Nachbar über mir, wenn ich mich nicht irre Dr. rer pol, Mitglied des Ordens, eine zweite Haut trägt. „Alles Schauspielerei! Ein bisschen Spaß, wichtigtun, mehr nicht – ich fahre halt gern Bike, schwächte ich mein neues Outfit ab. Wehrenfels deutete auf ein Abzeichen, das zu einem anderen Motorradclub zählte. „Stehen sie auf beiden Seiten? Verdammt, der kannte sich aus! „Ein Geschenk von Vernandez, mein Freund … ich verkehre in Dancehall No 1. Sie sind natürlich mein Gast. Also, eigentlich ein privater Club, aber ich kenne sie ja, Nachbar unter mir, dürfte kein Problem sein … Im Schultergurt steckte meine geladene Waffe. „He – darüber geben sie doch Unterricht? Wie war das noch? „Unterschätzen sie mich nicht; damit verstehen nicht nur sie umzugehen. Ich registrierte mit Genugtuung, wie Wehrenfels um meine chromblitzende Maschine herumging und sie zärtlich zu streicheln schien. „Wollen sie gleich eine Runde drehen? Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht, dass er freudig bejahte. Ich stand im Wort. „Nach der Disco. In der Dancehall verloren wir uns rasch aus den Augen; Augen die man schwerlich offen zu halten in der Lage war aufgrund des beißenden Zigarettenqualms. Was in den NZ überall verboten war, war hier allerorten erlaubt. Es gab nur die paar Regeln, die die Gangs selber aufgestellt hatten und die sich ständig änderten. Vernandez klopfte mir auf die Schulter. Verstehen von gesprochener Sprache war an diesem Ort so gut wie unmöglich; ich hätte von den Lippen lesen müssen. Er zog mich in einen ruhigeren Gang Richtung Toilette. „Du musst verhandeln! Es wird bald Ärger geben. „Weiß schon – aber erst nächste Woche, so viel Zeit muss sein; bin mit Elvira einige Tage an der Nordsee. „Gratulation zu deinem Aufstieg! „Nur dritten Grades! „Ja und? Du kommst mit wichtigen Leuten zusammen – mit Vermittlung meine ich die höchsten Stellen! „Na klar! Ich stehe in deiner Schuld „Amüsier dich erst mal – Deinem Freund lass´ ich unsere hübschesten Mädchen zukommen. Er soll den Abend in bester Erinnerung behalten. „Ich glaub´, der steht auf so was nicht; er betreibt eine Straßenschule. „Warum sollte er deswegen ein Kostverächter sein?" Wie recht Vernandez hatte! Jede Wette hätte ich verloren, dass Wehrenfels, aus bestem Hause, mit Mädchen rum´ macht. Wie ich durch den Dunst schemenhaft erkennen konnte, ließ sich mein Nachbar von drei Mädchen verwöhnen. Später sah ich sie nicht mehr; sie werden wohl eines der entlegenen Zimmerchen oder Separees aufgesucht haben. Wie kam ich darauf, dass er asketisch orientiert sei? Elvira machte an der Stange eine prachtvolle Figur. Die anderen Tänzerinnen boten durchaus jene weiblichen Reize, weswegen Männer jeden Alters diesen Club aufsuchten einschließlich einiger weniger Verheirateter der NZ, die noch genügend Mumm hatten, sich diesem Abenteuer auszusetzen, doch mit Elvira konnte sich keine vergleichen. Sie war flinker, geschmeidiger, räkelte sich schlangenhaft um die Stange; eh man sich versah, hing sie ganz oben, wandt sich wieder herab, stand federnd und verbeugte sich, bekam von vielen Geld zugesteckt. Außergewöhnlich viele Vertreter der NZ waren heute anwesend, die auf Anhieb an ihrer normalen Bürokleidung zu erkennen waren, langweilige graue Anzüge, farblose Krawatten, nur den Knoten unordentlich gelockert wegen der Hitze und schweißnassem Hemd. Woher und von wem sollten sie die Kutten und Rangabzeichen der Hölle denn verliehen bekommen haben? Ich war stolz auf meine zweite Haut und blickte mitleidig auf das kleine Vergnügen der Anzugträger, Wissenschaftler in den Genlaboren, Techniker der Waffenschmieden oder Administratoren der Verteilungsagenturen, herab. Mein Leben war weitaus gefährlicher, dafür interessanter und abwechslungsreich. Sie waren nur des Geldes wegen erwünscht und weil sie nie Ärger machten. Sie mussten mit hartem Silber oder kleinen Goldmünzen zahlen, für die sie auf den Banken viele Zuteilungspunkte ihres Chips einzutauschen hatten.

    Jemand rempelte mich von hinten auf der Tanzfläche an. Melusine! Sie schien bestens gelaunt, zeigte ihre Zahnreihen, für deren Ebenmaß garantiert einige Spangen in ihrer Kindheit verantwortlich waren. „Keine Angst, ich bleibe nicht die ganze Nacht! Deine Elvira tanzt hervorragend; ich glaube, ich müsste lange üben, um nur halb so viel an der Stange hinzukriegen wie sie. Fährst Du gleich ´ne Runde mit mir? Ich gab Elvira ein Zeichen, dass ich in einer Stunde zurücksei. Den wieder aufgetauchten Wehrenfels nahm ich gleich mit zu der versprochenen Motorrad-Spritztour. „Okay, ich wusste gar nicht, dass Du heute Zeit hast. „Nur um mit Dir zu feiern. Ich habe noch was Wichtiges vor; mein Lover wartet – war nur ein Scherz! - dann hast Du deine Elvira ganz für Dich allein. Dass sie ein Rennauto unterhielt mit wuchtigem 400 PS Motor, wusste ich – nur hatte ich es noch nicht in Augenschein genommen, geschweige denn mit ihr eine Probefahrt gemacht. Ihr eng anliegender Lederanzug deutete schon ihren verwegenen Fahrstil an. Wehrenfels kam erstaunlich gut mit der schweren Maschine zurecht – eine 400 kg schwere Golwing, fast 100 Jahre alt, sehr gut gepflegt. Der Tachostand zeigte 100000 Meilen. Für einen Motor, dessen Hubraum 1800 Kubikzentimeter betrug, war diese Fahrleistung normal. Sorgen vor einem Motorschaden brauchte ich mir nicht zu machen. Ich polierte und schraubte liebend gern an meinem Motorrad herum. Fernandez stand sie selbstverständlich jederzeit zur Verfügung. Reine Ehrensache! Melusine hatte sich flink auf den Sozius geschwungen. Wehrenfels konnte nicht anders, als eine Runde mit ihr zu fahren, allerdings nur eine kurze, nicht die lange 30 km Strecke. Gott sei Dank fuhr er schneckenhaft langsam und bei der Rückkehr wies ich ihn mit den Armen rudernd eine Stelle zum Halten zu, wo der Boden in einigermaßen planem Zustand war, was angesichts der üblichen Schlaglöcher eine Seltenheit war. Trat er beim Stillstand des Bikes mit einem Bein in ein Loch, so würde die Maschine, um den Körper von Melusine schwerer, unweigerlich umkippen und ich bangte um das schön polierte Chrom und um mein Statussymbol. Ich applaudierte, nachdem alles glatt verlaufen war und er den Seitenständer ausgeklappt hatte, sodass die Maschine sich leicht nach links neigte, bevor sie festen Stand fasste. „Man – sie fahren echt rasant… spottete Melusine, die ihren Helm abgesetzt hatte. „Ich hoffe, Du hattest keine Angst. „Nö! In der Ferne schepperte es gewaltig. Regeln oder Geschwindigkeitsbegrenzungen gab es nicht. Autorennen waren in dieser verderblichen Zone ausdrücklich erlaubt. Schwere Unfälle mit Todesfolge waren die Regel. Die Einserjuristin setzte sich hinters Steuer, nachdem ein Service-Boy vollgetankt hatte; ich fand mit meinen langen Beinen kaum Platz, hatte den Eindruck, mit dem Hintern auf der Straße zu schleifen. Wir hatten beide die Helme aufgesetzt. Ich saß in einem Lamborghini Aventador, der einst stolze 300 000€ gekostet hatte. Musste sie sich ausgerechnet jetzt mit ihrem Bruder ein Rennen liefern? Dieser Sportwagen freundete sich nicht mit den Schlaglöchern an. Eine halsbrecherische Fahrt brach an, bei der sie immer vorne lag. Mir wurde schwindlig und schlecht. Sie schaute hektisch in alle Spiegel, schaltete rauf und runter, die Schuhe hatte sie ausgezogen, um die Pedale besser bedienen zu können. Der Motor heulte auf; der Drehzahlmesser ging allerdings niemals in den roten Bereich. Mehrmals musste sie hart in die Eisen steigen. „Kühlung der Bremsbacken plus Kühlung der Scheiben; außerdem noch eine zusätzliche Ölkühlung. Wieder wurde ich beim Beschleunigen in den Sitz gedrückt. Doch zwang sie mich nicht zu dem ohnmächtigen Ausruf: „Fahr doch bitte etwas langsamer!, der mir zugegeben auf den Lippen lag. Sie reagierte unglaublich schnell, sobald Hindernisse auftauchten, und die gab es reichlich. Schlaglöchern, kaputten Autos, einem brennenden Motorrad wich sie geschickt aus. Der Rundkurs führte in Teilen durch die zerstörte Stadt. Hier fuhr sie sogar langsamer. „Sieht Scheiße aus; wird wohl erst dann wieder aufgebaut, wenn das Geld als offizielles Zahlungsmittel wieder eingeführt wird … Ihr Bruder lag gleichauf. Sie lachte hämisch. Der Lamborghini war eindeutig stärker; sie brauchte ja nur das Gaspedal bis zum Anschlag durchzutreten auf den geraden Passagen und die Distanz zum Bruder vergrößerte sich. Nun hielt sie stracks auf eine Betonmauer zu. Ich war kurz davor zu schreien. Meine Augen waren schon geschlossen. Wir hätten den Crash beide nicht überlebt … trotz Helm. Im letzten Moment bog sie scharf nach rechts. Der Wagen lag hervorragend in der Kurve; sie glich das leichte Wegdriften der Hinterräder durch leichtes Gegenlenken aus. „Die meisten Fehler entstehen dadurch – tödliche Fehler übrigens! – dass man das Steuer beim Gegenlenken überdreht oder verreißt. Das Auto fängt sich nicht mehr und man schleudert unaufhaltsam in die Gegenrichtung … klärte sie mich auf. Wir wurden von einem Rennmotorrad überholt. Diesmal hatte sie keine Chance; sie gab die Verfolgung auf. Zwei Runden Angstschweiß, Adrenalin pur – wir kamen glücklich als Sieger ins Ziel. Helme ab, in den Sand geworfen, wir umarmten uns, jauchzten und tanzten. Sogar Wehrenfels hüpfte im Applaus der vielen Zuschauer. Abklatschen der Hände, Ballen der Fäuste. Ich zwängte mich wieder in die schwere Kutte, die ich auf dem schmalen Notsitz abgelegt hatte. „Du Flasche! begrüßte sie ihren Bruder, küsste ihn jedoch danach liebevoll auf die Wange. „Sollen wir mal die Fahrzeuge tauschen? Mit dem Lamborghini fahr` ich dir auch davon! Das Motorrad hast du wohl nicht mehr geschafft! Alles gelingt selbst dir nicht, liebste Melli. Ich kannte ihren Bruder, weil ich zuweilen mit ihm tauschte. Außerdem war er Clubmitglied, aber den Status, einer Gang anzugehören, was hier die ultimative Oberschicht bedeutete, den besaß er nicht. Und ich sah keinen Grund, mich für ihn einzusetzen. Danach gingen wir wieder in die Danchall,

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