Von "Deutschland" nach Deutschland: Zeitzeugnis
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Er versucht, zusammen mit seinem Cousin, über die Tschechei nach Westdeutschland zu fliehen. Sie werden verhaftet, verurteilt und leben fast ein Jahr in den Gefängnissen der DDR. Ihre Freiheit erlangen Sie durch den damaligen Freikauf der Gefangenen von der BDR. Dieses Buch besitzt in seinem Anhang die vollkommene Dokumentation der Schilderungen.
Joachim Straube
Der Autor Joachim Straube wurde 1959 als 2. Kind schlesischer Eltern in der DDR geboren und wuchs dort auf. Nach dem Abitur versuchte er 1977 mit seinem Cousin Rainer über die CSSR in die Bundesrepublik zu flüchten. Die Festnahme erfolgte in den Anlagen der Grenzsicherung der Tschechei. Nach Auslieferung an die staatlichen Organe der DDR wurde er knapp ein Jahr lang in verschiedenen Gefängnissen eingesperrt. Im August 1978 wird er, wie so viele andere politische Häftlinge, von der BRD frei gekauft. Seine Erlebnisse hat er in einer Niederschrift kurz nach dem Freikauf festgehalten.
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Book preview
Von "Deutschland" nach Deutschland - Joachim Straube
Inhalltsverzeichnis
Vorbereitung
Flucht
Gefangennahme
Auslieferung
Erste Untersuchungshaft
Erinnerungen
Zweite Untersuchungshaft
Besuch
Anklage
Verhandlung
Das Urteil
Zwischenspiel
Erster Transport
Cottbus
Zweiter Transport
Brandenburg
Alltag
Besuch von Sabine
Freiheit
Der Autor
Dokumentation
Protokolle der Festnahme
Vernehmung Plauen, Haftbefehl, schulische Leistungen
Vernehmungsprotokolle Karl-Marx-Stadt, Hafterleichterung
Einberufung
U-Plan der Staatssicherheit
Weitere Vernehmungsprotokolle, Karl-Marx-Stadt
Antrag Sprecherlaubnis, Verhöre Vater Straube und Sabine
Weitere Vernehmungsprotokolle, Karl-Marx-Stadt
Staatsanwaltliche Untersuchung wegen Ferien in Ungarn
Schriftverkehr: Schreiberlaubnis Sabine und Staatsanwalt
Schreiben Staatsanwalt Besuchserlaubnis des Vaters
Anklageschrift, Niederschriften der Hauptverhandlung
Hauptverhandlung
Urteil
Vernehmungsprotokoll
Schreiben Ministerium Staatssicherheit, Entlassungsverfügung
Entlassung aus Staatsbürgerschaft DDR
Telegramm, Frei, Oberstaatsanwalt Westdeutschland, Fluchtweg
Vorbereitung
Im Oktober 1977 konnten wir endlich unseren lang gehegten Plan in die Wirklichkeit umsetzen.
Wir, mein Vetter Rainer und ich, hatten im Sommer das Abitur geschafft und seit einigen Tagen lag der Einberufungsbefehl zur Nationalen Volksarmee auf unseren Schreibtischen.
An einem wunderschönen, herbstlichen Samstagmorgen, es sollte der letzte warme Tag in jenem Jahr sein, brachen wir unsere Zelte
in Werdau, einer Kleinstadt im Süden der DDR, ab. Dick bekleidet war ich gegen 7 Uhr zu Rainer gegangen. Eigentlich hatten wir vereinbart, dass er mich mit seinem Motorrad, einer MZ 250 mit 17 PS, abholt. Da der verabredete Zeitpunkt schon weit vorüber war, machte ich mich zu Fuß auf den Weg zu ihm.
Ich hatte für die Fahrt, sehr viel angezogen. Ein Unterhemd, einen dicken Wollpullover mit Rollkragen, eine Strickjacke, eine Trainingsjacke, einen dünnen gelben Anorak, den ich heute noch habe, weiter eine Gummijacke, wie sie auf Baustellen bei schlechtem Wetter getragen werden, und schließlich einen Parker mit Fell, der meinen Oberkörper gegen Feuchtigkeit und Kälte schützen sollte. Eine Unterhose, eine Turnhose, eine Trainingshose, eine Jeans und eine lederne Motorradhose hatte ich an den Beinen.
An den Füßen trug ich dicke Socken und Füßlinge, die ich für die zu großen Lederstiefel nicht nur gegen Kälte brauchte.
Die Hände waren durch Skihandschuhe und darüber durch Motorradhandschuhe, deren Schaft über die Unterarme reichte, geschützt. Auf dem Kopf trug ich einen dunkelblau gespritzten Sturzhelm.
Außerdem hatte ich noch einen kleinen Proviantbeutel mit zwei belegten Broten, zwei Äpfeln und einigen Karotten bei mir, den mir unsere Großmutter fürsorglich gefüllt hatte.
Als ich nach fünf Minuten Fußweg bei meinem Vetter ankam, hatte dieser bereits das Motorrad vom Schuppen auf den Hof geschoben. Er befestigte gerade eine Tasche daran. Ich begrüßte ihn und sagte, dass ich es vor Aufregung nicht mehr zu Hause ausgehalten und ich mich deswegen schon auf den Weg gemacht habe.
Nach der Begrüßung kontrollierten wir noch einmal unsere Sachen. Als wir sicher waren, nichts vergessen zu haben, schob Rainer das Motorrad vom Hof.
Es ging also los! Der lang ersehnte Augenblick war endlich gekommen. Wie oft hatte ich mir den Beginn meines Weges in die Freiheit in Gedanken und Träumen ausgemalt. Wie oft hatte ich abends im Bett gelegen und davon geträumt, den Kommunisten nicht mehr ausgeliefert zu sein.
Ob unsere Reise ins Ungewisse ein gutes Ende nehmen würde? Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, lief wie im Trance hinter Rainer vom Hof. Er hatte das Motorrad bereits in Gang gebracht, als ich auf die Straße trat.
Da wir aber ausgemacht hatten, uns beim Fahren abzuwechseln und ich mit seinem Fahrzeug nicht so vertraut war, nahm Rainer die ersten Kilometer auf dem Sozius, dem hinteren Beifahrersitz, Platz. So konnte meine Fahrunsicherheit durch die Straßenkenntnis etwas ausgeglichen werden. Mit wackligen Knien und zittrigen Händen lenkte ich das Kraftrad einem Ziel entgegen, das zu diesem Zeitpunkt nur wir beide kannten.
Unseren Eltern hatten wir die Reise mit einem Besuch bei einem Freund, der seinen Wehrdienst bei der NVA, der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik gerade ableistete, begründet. Sabine, meine damalige Verlobte, wusste nichts von unserem Unterfangen, ebenso wenig Rainers Freundin Petra.
Rathenaustraße, Werdau
Auf den ersten Metern der Fahrt durch die Straßen der Heimatstadt Werdau überkam mich ein eigenartiges Gefühl. Durch die Aufregung lief alles regelrecht wie in einem Film vor mir ab. Die Häuser und Straßen mit all ihrem Schmutz, selbst die Menschen, glichen Bildern. Wir sollten sie auf unbestimmte Zeit nicht wiedersehen.
Von Rainers Wohnung aus fuhren wir gerade hinunter zur Hauptstraße, die hier Plauensche Straße heißt. In diese bogen wir nach rechts ein. Wir kamen an der Rathenaustraße vorüber. Noch einmal sah ich das Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte und aufgewachsen war und in dem ich das Sterben meiner Mutter erleben musste.
Auch an dem Haus, in dem Sabine wohnte, kamen wir vorüber.
Durch Fraureuth, einem lang gezogenen Dorf, ging es auf Landstraßen weiter in Richtung Plauen. Die Fahrt machte uns wegen des so idealen Wetters Freude. Kurz hinter Plauen legten wir unsere erste Rast ein.
Rainer hatte sich etwas Westgeld
(DDR-Mundart für D-Mark) mitgenommen. Wie viel es war, wusste ich Gott sei Dank nicht. Warum dies gut war, sollte sich einige Wochen später herausstellen.
Ich selbst hatte einen 100 DM-Schein bei mir. Das gesamte Geld versteckte mein Vetter und Freund im rechten hinteren Blinklicht des Motorrades. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, denn an der Grenze zur Tschechisch-Slowakischen Republik werden die Passanten oft intensiv kontrolliert, mehr als nötig. Hätte man bei uns dieses Geld gefunden, wäre das nach dem DDR-Strafgesetzbuch ein Devisenvergehen gewesen; außerdem bestand dann die Gefahr, dass man uns der Flucht schon an dieser Grenze zur CSSR hätte verdächtigen können. Also, warum sollten wir es dem Zoll unnötig leicht machen?
Gegen 9 Uhr waren wir am Grenzübergang.
Wir wollten noch tschechisches Geld eintauschen. Eigentlich hätten wir keines gebraucht, aber als Alibi war das Geld unbedingt notwendig. So gingen Rainer und ich zur Wechselstelle. Wir waren überrascht, als wir die riesige Menschenschlange am Eingang der Baracke sahen. Wohl oder Übel mussten wir uns am Ende anstellen. Nun ärgerten wir uns, dass wir das Geld nicht schon zu Hause in Werdau umgetauscht hatten.
Da standen wir, mit den Gedanken schon ganz wo anders, geschlagene drei Stunden.
Die Langeweile wurde uns verkürzt, als wir beobachten konnten, wie sich ein Mann, dessen Auto auf das des Vordermanns gerollt war, weil es nicht durch die Handbremse gesichert war, aus dem Staub machte. Obwohl wir den ganzen Vorgang beobachtet hatten, machten wir niemanden darauf aufmerksam, um eventuelle Scherereien zu vermeiden.
Der Geldwechsel vollzog sich ohne Probleme.
Gegen 12 Uhr konnten wir endlich die Grenze zur CSSR passieren. Ein Beamter fragte uns noch nach dem Ziel unserer Reise in der CSSR. Unsere Antwort war die Standardantwort vieler DDR - Bürger:
"Nach Karlsbad, Bier kaufen!", denn das tschechische Bier war besser und schmeckte viel leckerer, als das fade der DDR.
Rainer lenkte nun das Motorrad weiter in Richtung Karlsbad.
Von da fuhren wir wie geplant nach Süden bis zur Europastraße Nr. 12. Auf dieser Strecke hätten wir direkt bis Nürnberg durchfahren können. Trotz allem, sollte sie ein Stück unsere Weges in die Freiheit sein. Die Straßenhinweisschilder, auf denen westliche Städtenamen standen, gaben uns Mut und Optimismus. Wir kamen an einem Campingplatz vorbei, den Rainer von früheren Ferienaufenthalten kannte. Hier machten wir wieder Rast und stärkten uns aus unseren Proviantbeuteln.
Der Campingplatz, neben einem kleinen Weiher gelegen, war völlig ausgestorben, da die Saison schon vorüber war. Ein seltsames Gefühl der Verlassenheit schlich sich in mein Inneres.
Bald setzten wir unsere Fahrt fort. Nun fuhr ich das Motorrad wieder, Rainer hatte auf dem Sozius Platz genommen, da er auch ein wenig fror. Das Wetter war inzwischen umgeschlagen. Vom anfänglichen Sonnenschein bei der Abfahrt war nichts mehr zu sehen. Die Wolken hingen nun tief am Himmel. Es war diesig und kalt geworden. Der Weg nass und glitschig. Wegen des glatten Pflasters musste man beim Fahren verstärkt aufpassen. Und wer Straßen im Ostblock kannte, weiß, dass es einer besonderen Kunst bedurfte, den Schlaglöchern auszuweichen.
Wir fuhren zunächst direkt in Richtung Bundesrepublik Deutschland. Ungefähr 25 km vor der Grenze, kurz vor 14 Uhr, lenkte ich das Motorrad in eine Waldschneise, um eine weitere Rast einzulegen. Kaum hatten wir das Fahrzeug abgestellt und etwas zwischen die Bäume geschoben, damit man es nicht gleich sehen konnte, kam auf dieser Europastraße ein tschechisches Polizeiauto aus Richtung BRD an uns vorbei. Da zunächst nur ich das Auto sah, teilte ich meinem Vetter sofort meine Beobachtung mit und auch, was ich davon hielt. Meine Vermutung sollte richtig sein. Nach fünf Minuten sahen wir dieses Auto wieder, diesmal in die andere Richtung fahrend. Ich nahm an, dass es den ganzen Tag die Europa-Straße zur Beobachtung abfuhr. Hatten wir ein Glück, ihm nicht begegnet zu sein. Es war wohl Eingebung, dass ich in die Waldschneise gefahren war. Ein gutes Omen!?
Rainer und ich beschlossen, uns sofort auf das Motorrad zu schwingen, wenn das Auto wieder von der Grenze vorbeikommt. Zunächst aber besprachen wir noch mal unseren Plan, schauten die Straßenkarte genau an und probierten den Kompass aus, der uns schon an der DDR-Grenze neben dem Westgeld auch zum Verhängnis werden konnte, wenn er gefunden worden wäre. Denn wozu braucht man einen Kompass auf einer Motorradfahrt!? Den Leser wird es nicht überraschen, wie gewagt unser Vorhaben zu dieser Stunde schon war. Rainer nahm das Geld wieder aus dem Rücklicht und wechselte die Schuhe. Für die Fahrt hatte er feste Lederstiefel angezogen. Da wir aber bald viel laufen würden, hatte er sich noch leichtere Wildlederstiefel mitgenommen. Die DM-Geldscheine legte er unter die Einlegesohle der Stiefel. Meine 100 Deutsche Mark behielt er auch gleich. Die anderen Treter ließ er im Wald zurück. Sie müssen heute noch dort liegen, wenn sie nicht jemand gefunden hat. Mir war vermutlich an dieser Stelle meine Armbanduhr abhanden gekommen.
Schon vorher hatten wir auf dem Campingplatz das DDR-Zeichen vom Motorrad entfernt. Nun überlegten wir, ob man aus diesem Kennzeichen nicht ein D-Schild machen könnte, denn in jener Gegend waren Fahrzeuge aus der DDR äußerst selten und somit auffällig. Doch ließen wir diesen Plan fallen. Bei einer eventuellen Straßenkontrolle hätten wir uns dann besser herausreden können.
Nachdem wir meinten, alles besprochen zu haben, beteten wir gemeinsam um das Gelingen unseres Vorhabens. Dann warteten wir auf das Polizeiauto.
Ich war weiterhin ziemlich aufgeregt und lief im Wald hin und her, kaum konnte ich einen klaren Gedanken fassen. Einmal lief ich einige Meter aus dem Wald heraus, um zu schauen, ob man die Grenze sehen konnte, was bei einer Entfernung von 25 Kilometern natürlich unmöglich war.
Nach ungefähr einer halben Stunde kam das Polizeiauto wieder von der Grenze zur BRD. Kaum war es an uns vorüber, schoben wir das Motorrad aus dem Wald und setzten unsere Fahrt, schon etwas aufgeregter, fort. Nun lenkte Rainer wieder das Krad.
In einer kleiner Ortschaft sahen wir einen Tramper, einen Anhalter, der ein Schild, auf dem Nürnberg stand, um den Bauch hängen hatte. In der Hoffnung, dass dieser uns etwas über die Grenzanlagen berichten konnte, hielten wir bei ihm