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Der Honigsammler: Waldemar Bonsels, Vater der Biene Maja
Der Honigsammler: Waldemar Bonsels, Vater der Biene Maja
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Der Honigsammler: Waldemar Bonsels, Vater der Biene Maja

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In einem wohlbekannten Land, vor gar nicht allzu langer Zeit ... Noch immer schwirrt seine Biene Maja durch jedes Kinderzimmer, in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war er einer der meistgelesenen Schriftsteller überhaupt, seine Bücher fanden sich im Tornister eines jeden Soldaten: Waldemar Bonsels, der Schöpfer der vorwitzigen Biene, ist heute der wohl unbekannteste deutsche Bestsellerautor. Diese erste Biografi e folgt Bonsels auf seiner Suche nach dem süßen Leben in den letzten Jahren des Kaiserreichs ins Zentrum der Münchner Boheme. Sie erzählt, wie er, inspiriert von Heinrich Mann, an der Seite von Frank Wedekind und Lion Feuchtwanger gegen die bürgerlichen Konventionen aufbegehrte und seine abenteuerlustige Maja erschuf. Und sie zeigt, wie sich der Erfolgsschriftsteller schließlich dem Regime der Nazis andiente und nach dem Krieg mit einem Publikationsverbot belegt wurde. So rückt auch seine "Biene Maja" in ein neues, düsteres Licht: Entpuppt sich das Buch am Ende als Lehrstück der Naziparole "Gemeinnutz geht vor Eigennutz"? Bernhard Viel liefert nicht nur eine Antwort auf diese Frage, ihm gelingt dabei auch ein großartig ausgepinseltes Epochenpanorama mit dem zeittypischen Portrait eines radikalen Opportunisten sowie die Klärung des anhaltenden Erfolgs der "Biene Maja".
LanguageDeutsch
Release dateJan 26, 2016
ISBN9783957571991
Der Honigsammler: Waldemar Bonsels, Vater der Biene Maja

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    Book preview

    Der Honigsammler - Bernhard Viel

    Danksagung

    I

    Vorspiel am Bahnhof

    War er wirklich ihretwegen zurückgekommen?

    Sicher, er freute sich, sie wiederzusehen.

    Er hatte oft an sie gedacht in diesen Monaten. Und als er durch die Fieberträume seiner Malariaanfälle schauderte, hatte ihn Sehnsucht nach ihr, nach zu Hause erfasst. Teta jedenfalls wird er die Sache so erzählen, dass sie glauben musste, es habe ihn nicht vor allem die Malaria und der Streit mit den Vorgesetzten aus Cannanore fortgetrieben. Er hätte ja, nachdem er sich von der Mission verabschiedet hatte, noch wochenlang, monatelang auf eigene Faust den Dschungel durchstreifen können. Er tat es nicht. Er kehrte zurück, in Tetas Arme.

    So wird er Teta, wie sie Kläre alle nannten, die Sache schildern. Er wird liebenswürdig sein, zärtlich, begeistert, herrisch. Er wird sie mit Liebesschwüren überschütten, ihr stürmisch seine Leidenschaft offenbaren, er wird seinen Charme entfalten, diesen mit einem Hauch von Herablassung untermischten Charme, mit dem er mühelos auch Tetas Freundinnen gewonnen hatte.

    Und war nicht auch Indien ein Siegeszug gewesen? Hatte er sich dort nicht bewährt und gezeigt, dass er sich durchsetzen, seinen eigenen Weg gehen konnte? Er war ein Mann, ein Abenteurer, weitgereist, welterfahren. Die anderen kannten nur Barmen, das Städtchen im Rheinland, Insel des Pietismus, Zentrum der Inneren Mission. Allerdings, das musste er ihnen zugestehen, sie kannten jetzt auch München, die Stadt der Boheme, der jungen Kunst. Doch über die Grenzen des Reichs waren sie nie hinausgedrungen. Er aber hatte, wahrhaftig, unglaubliche Geschichten zu erzählen, märchenhafte Geschichten!

    Er sah aus dem Fenster. Der Zug hatte seine Fahrt verlangsamt. Gemächlich zogen langgestreckte, aus Klinkern aufgemauerte Speicher vorbei, Verladerampen der Brauereien, Schuppen, die sich zu beiden Seiten des breiter werdenden Gleisbetts hinzogen. Schon glitten die Waggons unter der Brücke mit ihrer stählernen Wellenkonstruktion hindurch, an deren Streben sich die Dampfschwaden brachen. Gleich wird er am Ziel sein.

    Nein, er war nicht nur Tetas wegen zurückgekommen. Gewiss, er begehrte sie. Und sie war ihm ergeben, seinem sanften Dichterblick aus wasserblauen Augen.

    Und den anderen, den Feind, den Konkurrenten, hatte er ausgestochen, eine Genugtuung, und umso tiefer, als, das musste er sich insgeheim eingestehen, der andere Talent hatte. Frech, eitel, durchglüht von seiner Sendung, maßlos hatte der andere Teta ungeniert umgarnt, obwohl längst alle wussten, dass Teta ihm versprochen war, ihm, dem dichtenden Kaufmann. Gleich war ihm dieser Kerl zuwider gewesen, und doch beneidete er ihn für seinen frühen Erfolg, aber das lässt er sich nicht anmerken. Gleich mit den ersten Gedichten hatte der andere als Prophet eines neuen Stils gegolten, jung, voller Pathos, flammend: »Im Mittag stand, als Julian fiel, Apostata, die Sonne« – das war neu, das war unerhört, und daraus klingt, es ist nicht leugnen, daraus klingt eine leidenschaftliche, zergrübelte Inbrunst. Bei allem Überschwang pulst in diesen Versen helle, gebändigte Kraft: »Das war mein Traum: daß / Jauchzend sich die Jugend zu mir stellte, / Daß in den Augen ein Leuchten sei wie / Von Schwertertanz im Licht.« Auch in München hatte er, der Konkurrent, sogleich einen Kreis junger Verehrer um sich geschart. Tetas Bruder, sein ihm innig verbundener Freund, sein Bruder im Geiste, gehörte zu seinem Leidwesen auch dazu. Aber er würde dem Verhassten seine Künste abschauen, die Wortverstellungen, die gebrochenen Verse, würde sich nehmen, was er brauchen kann. Und irgendwann würde er ihn, diesen Schickele, überflügeln.

    Er wusste, weshalb er zurückgekommen war. Er war gekommen, um sich zu rächen.

    Der Zug rollte jetzt im Schritttempo, schlingerte ächzend über Weichen. Er drehte sich vom Fenster weg, setzte den Tropenhut auf, der ihm auch hier, an der Isar, verteufelt gut stand. Auch passte der Hut vortrefflich zu der khakifarbenen Jacke, dem linnenen Hemd und den englischen Breeches, deren weitgeschnittene Beine lässig aus den Stiefelschäften pluderten. Er würde jetzt ohnehin der Mittelpunkt im Kreis der Freunde sein, die nach München gekommen waren, um sich vom Geist der jungen Kunststadt erheben zu lassen. München war Aufbruch, Neugierde, Erregung, und es ließ sich gut leben in seiner legeren, behäbigen, feierfreudigen Atmosphäre, die die Künstler mit gutmütiger, spöttischer Bewunderung aufnahm.

    Sein schmaler, weicher Mund verzog sich zu einem maliziösen Lächeln. Er hob den Koffer aus dem Netz der Gepäckablage, trat auf den Gang hinaus und reihte sich ein in die Schlange der Wartenden.

    Jawohl, er war zurückgekommen, sich zu rächen. Von Anfang an hatte er die Arbeit der Mission mit Unmut und Spott, ja mit Widerwillen beäugt. Es hatte ihn im Innersten erzürnt, ansehen zu müssen, mit welcher Selbstgerechtigkeit die Brüder die Eingeborenen erpressten, zum Christentum überzutreten, indem sie mittellose Hindus, arme, zerlumpte Gestalten, mit der Aussicht auf Unterhalt in ihre Webereien, ihre Ziegeleien lockten, um sie von dem Moment an, da sie getauft waren, auf Gedeih und Verderb den gewinnsüchtigen Seelenhirten preisgegeben zu wissen.

    War es nicht ein Missbrauch der Botschaft Christi, himmelschreiend, im Tempel zu dulden den Krämer, schlimmer noch: über den gekrümmten Rücken der Heiden zu reichen dem Krämer die beschmutzte Hand? Dabei, es war zum Lachen, die Direktoren waren unfähig, wirklich unfähig, zu wirtschaften, gut zu wirtschaften. Und die Brüder fälschten die Bilanzen, auf dass sie in Basel gut dastünden. Sie predigten Wasser und soffen Champagner, den sie sich aus Frankreich kommen ließen.¹

    Anni, der lieben Schwester, hatte er geschrieben, er liebe Indien täglich mehr, es sei ein Paradies an Schönheiten, und köstlich seien ihm dessen Gefahren. Schwärmerisch hatte die Schwester »die großen, herrlichen Aufgaben der Missionen« beschworen, er hatte ihr geantwortet, dies Volk von Brüdern, mit dem und unter dem er hier arbeiten solle, sei ihm so zuwider, dass er beim besten Willen auch zu ihr nicht über sie sprechen könne. Klein und armselig sei es, über sie zu schelten, und er habe längst gelernt, an seine Umgebung geringere Ansprüche zu stellen als an sich.² Es war unvermeidllich, dass er sich unbeliebt machte. Und bald war es zum Eklat gekommen.

    Schon während seiner Lehrzeit im geschäftigen Basel hatte er die Missionsbrüder für ihre puritanische Frömmelei, ihren Sendungseifer, verachtet. Aber es war eine Möglichkeit, fortzukommen, nach Indien, wo er noch den Geist echten Glaubens zu spüren hoffte, wo er noch Söhne eines natürlichen Lebens finden könne, die allein der Achtung wert waren. Hier wollte er unerhörte Gefahren bestehen, dem Wunderbaren an jeder Wegkreuzung begegnen und in Dschungeln die bunten Blüten eines unverfälschten Lebens genießen.

    Stattdessen hatte er sich die Malaria geholt. Er musste für Wochen auf die Krankenstation. Auch in München sollte er sich noch davon erholen müssen. Er wird mit Teta in die Voralpen fahren.

    Als Erstes würde er die Missionsbrüder bloßstellen vor der Welt. Und das wäre nur der Anfang. Er würde über Indien schreiben, seine Armut, seine märchenhaften Paläste. Und er würde sich selbst als Abenteurer vorstellen, überlegen, europäisch und doch mit Neugierde und Respekt dem Fremden begegnend. Er würde schreiben, würde Erfolg haben. Deshalb war er zurückgekommen in die kunstfrohe Stadt, deren ländliche Ruhe noch nicht aufgezehrt war von der nervösen Überspanntheit der Zivilisation, mit der das lärmende Berlin auftrumpfte.

    Hier aber galt, auch unter den Jungen, Modernen, der Wahlspruch: Los von Berlin! Das zog ihn an, der selbst, Sohn einer dänischstämmigen Mutter, aufgewachsen unter den schwerblütigen Menschen des Nordens, geformt von der Engbrüstigkeit pietistischer Gottesbilder, sich der Scholle näher glaubte als dem Asphalt und doch die feineren Reize weltmännischer Haltung, die erregend parfürmierte Luft der Künste so dringend begehrte. »Die Stadt«, schwärmte Hans, der Freund, »ist wie ein gemächlicher Traum«.³ Und der Tropenhut, der Khaki-Anzug, wirklich, sie kleideten ihn gut!

    Eisen kreischte auf Eisen. Mit einem Ruck stand der Zug. Dampfschwaden kochten über dem Perron, auf dem diensteifrige Gepäckträger hin- und herliefen.

    Als er, gelassen das von gewaltigen eisernen Bogen getragene Tonnengewölbe der Halle betrachtend, den Koffer vor sich herbugsierend, seinen Fuß auf den Bahnsteig setzte, hörte er eine helle Stimme seinen Namen rufen. Überrascht sah er hoch. Tatsächlich, es war Teta. Lächelnd, winkend, seinen Blick zwischen den vielen Menschen hindurch suchend, die dem Kopfende des Perrons zustrebten, stand sie neben ihrem Bruder.

    Natürlich, sie musste ja wissen, dass er früher als erwartet zurückkommen würde, er hatte Anni und Hans lange Briefe über sein indisches Abenteuer geschrieben. Teta musste einen Vorwand gefunden haben, nach München zu kommen. Schon als Hans, ermuntert von seinem Förderer Konrad, der unter den modernen Dichtern in München noch immer ein Wort mitzureden hatte, in die Residenzstadt gezogen war, hätte sie am liebsten die eigenen Koffer gepackt, war sie doch selbst nicht ohne Ehrgeiz. Sie spielte Klavier. Alle Mädchen aus bürgerlichem Hause spielten Klavier. Aber Teta hatte zweifellos Talent, mehr als seine Schwester Anni, die, er lächelte, an Weihnachten bei »O Tan...« immer einen Moment der Besinnung einlegte, ehe sie »...nebaum« folgen ließ.

    Teta aber, dachte er – hatte sie am Ende den Eltern erzählt, nur in der Nachbarschaft des königlichen Hoftheaters könne sie den ihrem Talent förderlichen Klavierlehrer zu finden? Oder ihnen eingeredet, sie müsse schließlich, dort unten im lockeren katholischen Süden, ein Auge auf ihren Bruder haben, der in der berauschenden Luft der bayerischen Metropole zwei Gedichtbände verfasst und auf eigene Kosten von einem Buchhändler hatte verlegen lassen – sehr zum Missvergnügen der besorgten Eltern im braven Pietistenstädtchen Barmen? Bedauerlicherweise hatte gerade in München kaum jemand von diesen Lobgesängen auf die Stadt und die kernige Schönheit ihrer Töchter Notiz genommen. Eine einzige, immerhin wohlwollende Rezension war in einer neuen Kunstzeitschrift mit dem prunkenden Namen Propyläen erschienen. Aber in Barmen lagen die beiden Bändchen, Lieder vom Weibe und Münchener Blätter, in der Auslage einer Buchhandlung und hatten für moralische Entrüstung gesorgt. Der Vater schickte trotzdem weiterhin den monatlichen Wechsel.

    Ob Hans seine Bude noch in der Türkenstraße hatte, genau gegenüber dem »Simplicissimus«, wo die jungen Dichter anschreiben lassen konnten und manchmal auch Tabak und sogar ein Essen gratis bekamen?

    Teta stand vor ihm und sah ihn an, erwartungsvoll, streng, ein wenig bitter und doch voller Sanftmut. Der Freund umarmte ihn stürmisch, griff nach dem Koffer. Doch er, der Weltmann, rief einen Gepäckträger herbei.

    Es war gut, in München zu sein.

    II

    Tage der Kindheit

    1. Aufstieg

    Dichtung und Wahrheit

    »Glücklich« war die Konstellation seiner Geburt; »die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.«

    Mit dieser kosmischen Choreografie, günstiges Vorzeichen der Götter, beginnt Goethe seinen Lebensroman Dichtung und Wahrheit.

    Waldemar Bonsels hat kein derartiges Bekenntnis seiner Erwähltheit hinterlassen, kein Horoskop, keine Aufzeichnung über die Stunde seiner Geburt. Gleichwohl wähnte auch er sich unter Goethes Stern zur Welt gekommen, so wie auch Thomas Mann, dessen Weg er in München kreuzen wird und der in seinem Horoskop, das er sich 1926 stellen ließ, verlautbarte: »Der Planetenstand war günstig, wie Adepten der Astrologie mir später oft versicherten, indem sie mir aufgrund meines Horoskops ein langes und glückliches Leben sowie einen sanften Tod verhießen.« Das lange Leben, der sanfte Tod indessen waren ebenso hinzugedichtet wie die Mitteilung, er sei »mittags zwölf Uhr geboren«.¹ Doch hatte nicht vielleicht sogar schon Goethe ein wenig gedichtet, als er behauptete, er habe an jenem 28. August 1749 »mit dem Glockenschlage zwölf« das Licht der Welt erblickt?

    Auch Bonsels mag also zu Goethe hinaufgeblinzelt haben, als er auf den Gedanken verfiel, den Zeitpunkt seiner Geburt zu retuschieren. Er sei, behauptete er mehrmals, am 21. Februar 1881 geboren. In der Ahnenliste, in der Bonsels’ Archivar in akribischem Bemühen dessen Vorfahren bis ins 17. Jahrhundert nachwies, ist dieser Tag als Geburtsdatum verzeichnet.² Ein im Nachlass sich findender Ausweis benennt gleichfalls den 21. Februar 1881, während das Killy Literaturlexikon wiederum den 21. Februar 1880 angibt, ebenso Kindlers Neues Literaturlexikon und das Lexikon Autoren und Autorinnen in Bayern³. Metzlers Autorenlexikon löst das Problem, indem es von Bonsels’ Existenz keine Notiz nimmt. Eine Geburtsurkunde ist nicht mehr zu finden.

    Bonsels war keineswegs der einzige Autor, der den Beginn seines Lebenszeit verschob.

    Von Annette Kolb zum Beispiel, die in ihrer zwischen 1906 und 1934 entstandenen Romantrilogie Das Exemplar, Daphne Herbst und Die Schaukel ein satirisch-melancholisches Bild der zerfallenden Münchener Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg überliefert hat, hatte es lange geheißen, sie sei »am 2. Februar 1875 […] zur Welt gekommen«. Sie selbst hatte nicht widersprochen – bis zu ihrem vermeintlich 90. Geburtstag, an dem sie verriet, am 3. Februar 1870, also fast auf den Tag genau zehn Jahre vor Bonsels, geboren zu sein und an diesem 3. Februar 1965 also tatsächlich ihren 95. Geburtstag zu feiern. Es ist begreiflich, dass es der Grande Dame der Münchner Literatur, die ein Schriftstellerkollege mit »elegantem Schafsgesicht« und »mondäner Häßlichkeit«⁴ auszeichnete, an diesem Tage diebische Freude bereitete, ihren 95. Geburtstag zu verkünden.

    Aber weshalb sollte sich Bonsels ein Jahr jünger gemacht haben, ein einziges Jahr nur? Vielleicht dachte er wirklich an Goethe und daran, dass ein wenig Dichtung dem Leben eine eigene, poetische Wahrheit verleihe. Oder dass es einem Dichter, der eigene Welten erschafft, angemessen sei, bei der Erschaffung seiner selbst als Künstler mit der bewussten Setzung seines Geburtsdatums zu beginnen.

    Stilisiert hat sich Bonsels von Anfang an: als Weltmann, als Dandy, als einsamkeitsliebender Gottsucher, als Denker mit nach innen und ins Unendliche gerichtetem Blick, was insbesondere bei den Frauen gut ankam – wohl wissend, dass wer sich in einer Zeit der fragilen kleinbürgerlichen Aufsteiger-Identitäten stilisiert, noch nicht verloren ist. Auch das hat er mit Thomas Mann gemeinsam, der ein »in sich geschlossenes Lebenskunstwerk« aus sich machte;⁵ es verbindet ihn mit vielen Künstlern, die, im Streben nach ästhetischer Einheit von Ich und Welt, Autoren ihrer selbst zu sein versuchten, wie Stefan George, in dessen Nähe sich der angehende Schriftsteller bewegen wird, wie Peter Altenberg, der, wie Rilke sagte, der jungen Wiener Kunst »ihre Sprache« gab und die Inszenierung des Selbst zum dichterischen Programm erhob.⁶

    Das Lächeln der Mutter

    Zu welcher Stunde die von dänischen Vorfahren abstammende Nicoline Bonsels mit ihrem Sohn niederkam, steht also wohl für immer in den Sternen. Wie damals üblich, wird sie ihren Sohn in der intimen Sphäre ihres Zuhauses zur Welt gebracht haben, das sich an diesem 21. Februar 1880 oder 1881 in Ahrensburg befand, einem Städtchen im Holsteinischen, wenige Kilometer nordöstlich von Hamburg. Dort hatte Reinhold Bonsels vor Kurzem die Apotheke gekauft, nachdem er sechs Jahre zuvor, 1874, die Garnison-Apotheke in Rendsburg geführt hatte. In Kiel vermutlich hatte er Pharmazie studiert und in dieser Zeit Nicoline Iversen kennengelernt.⁷ Im Dezember 1872 war er zum Apotheker approbiert worden, zweieinhalb Jahre später, im April 1875, als er genügend Geld verdiente, um eine Familie zu ernähren, heiratete er die 20-jährige, aus Apenrade gebürtige Tochter des Amtsverwalters Peter Iversen. Zu diesem Zeitpunkt war Nicoline längst Waise, ihr Vater war 1857 an Typhus gestorben, zwei Jahre nach ihrer Geburt. Die Mutter, sie hieß ebenfalls Nicoline, war 1864 an Auszehrung gestorben. Nicoline Iversen wuchs mit ihrer Schwester bei einer Kieler Familie auf.⁸

    »Sehnsucht nach Freiheit, Weite und heldischem Dasein« – der Knabe Waldemar, vermutlich irgendwo am Gestade der Nordsee

    »Meine Kindheit«, teilt Bonsels in seinen Biographischen Notizen mit, »brachte ich auf dem Lande zu.«⁹ Ahrensburg hatte seit seiner ersten urkundlichen Erwähnung 1314 den Namen Woldenhorn getragen. Erst 1867, nachdem auch der Bahnhof in Betrieb genommen worden war, der ein wenig außerhalb an dem barocken Schlösschen Ahrensburg lag, wurde das in der südholsteinischen Landschaft gelegene Dorf umbenannt. Ahrensburg gehörte nunmehr zu Preußen, das 1864 im Deutsch-Dänischen Krieg gesiegt hatte, und war an die Bahnlinie zwischen Hamburg und Lübeck angeschlossen. Das lockte am Wochenende Ausflügler aus Hamburg in den abgelegenen Ort. Doch noch immer war zur Zeit, da der Knabe Waldemar die ersten Schritte in die Heide tappte, die Armut so groß, dass Bettler, Landstreicher durch Ahrensburg zogen – wohl einer der frühen Eindrücke des jungen Waldemar. Später wird er behaupten, selbst zwei Jahre lang »auf Wanderschaft« gewesen zu sein, die ihm den Stoff für seine Erzählsammlung Menschenwege. Aus den Notizen eines Vagabunden lieferte.

    Bonsels wird sich, bei allem weltmännischen Gebaren, immer wieder in ländliche Einsamkeit zurückziehen und sollte, obwohl er in den Zwanzigerjahren auch eine Wohnung in Berlin besaß und für Lesungen von Stadt zu Stadt unterwegs war, am Ende seiner Tage die meiste Zeit auf dem Land verbracht haben.

    »Keine Lehre oder Ermahnung, kein Trostwort hat mehr Licht in meine Kindheit geworfen als dieses Lächeln meiner Mutter in jenem Augenblick, als ich ihren Zorn erwartete«, bekennt Bonsels in seinem Erinnerungsbuch Tage der Kindheit.¹⁰ Er erwähnt sie immer wieder, ihre Güte, ihre Fürsorge. Seiner Mutter hat Bonsels vertraut, und die Liebe, die sie ihm entgegenbrachte, gab ihm dieses unerschütterliche, seinem Jugendfreund und Kollegen Hans Brandenburg oft unheimliche, schrankenlos narzisstisch erscheinende Selbstvertrauen, das ihn bis an sein Lebensende immer dort sein ließ, wo er seit seinem vorzeitigen Abgang vom Gymnasium, spätestens aber seit seiner Ankunft in München, sein wollte: oben.¹¹ Zumindest im Sinne des Erfolgs.

    »Nur dein lieber Mund hat gewußt, wer ich bin«, schrieb Bonsels 1918 in einem unveröffentlichten, nicht gerade großartigen, aber wohl aufrichtigen Gedicht drei Jahre vor dem Tod seiner Mutter: »Nur dein lieber Mund hat gewußt, wer ich bin / kannte meinen Namen und meinen Sinn.«¹²

    Schwieriger war Waldemars Verhältnis zu seinem Vater.

    Bildung, Barmherzigkeit und Bodelschwinghs Botschaft

    Reinhold Bonsels war, wie seine Frau, in der Tradition des protestantischen Pfarrhauses aufgewachsen. Er schien ein strenger, von pietistischer Gottesvorstellung geleiteter Mann gewesen zu sein. Dass er sich literarisch bildete und für philosophische Fragen offen zeigte, verdankte sich dem Erbe der von protestantischen Pastoren getragenen Aufklärung und ihrem Ethos der Volksbildung, das die Einheit von christlicher Lehre und Bildung betonte.¹³

    Vor allem aber bekundet Reinhold Bonsels’ Freundschaft mit dem konservativen protestantischen Theologen Friedrich von Bodelschwingh seine starke Neigung zu jener Art allgemeiner Bildung, die die Theologen, Philosophen und Dichter der Spätaufklärung und des anbrechenden 19. Jahrhunderts entworfen hatten. Bodelschwingh war einer der herausragenden Männer des Kaiserreichs, die aus diesem Bildungsmilieu hervorgegangen sind.

    Friedrich von Bodelschwingh kam aus westfälischem, in preußischem Staatsdienst stehendem Adel. Geprägt von seiner bibelgläubigen Mutter und einem nicht weniger religiösen Vater, den der preußische König Friedrich Wilhelm IV. 1844 zum Kabinettsminister erhoben hatte, war er in jener pietistischen Weltfrömmigkeit verankert, die Christi Forderung der Nächstenliebe in karitativen Werken umzusetzen suchte. Nachdem seine Familie nach Berlin übergesiedelt war, wurde Bodelschwingh zum Spielgefährten des späteren Kronprinzen Friedrich Wilhelm erkoren, der im dramatischen »Dreikaiserjahr«, 1888, nach dem Tode seines Vaters, Kaiser Wilhelms I., als Friedrich III. den Thron besteigen und, seit Jahren an Kehlkopfkrebs leidend, bereits am 99. Tage seiner Herrschaft sterben sollte – ihm, Friedrich III., an den sich berechtigte Hoffnungen auf eine liberale Verfassung und politische Annäherung an England geknüpft hatten, folgte Wilhelm II.

    Bodelschwingh hatte also als junger Gymnasiast Zugang zu den höchsten Kreisen des Hohenzollernhofes gewonnen. Ein junger Hauslehrer allerdings zeigte dem Schüler auch die andere Seite Berlins, indem er ihn durch die Armenviertel führte und den bestürzten Spielkameraden des Kronprinzen mit »Hunger, Blöße und Elend« bekannt machte.¹⁴ Der Eindruck prägte die Empfindungswelt des religiösen Jugendlichen nachhaltig: Bis an sein Lebensende wird Bodelschwingh sein Tun in den Dienst derer stellen, die sich nicht selbst helfen können. Und zu ihrem Nutzen wird er sich souverän auf dem Parkett der politischen Elite bewegen.

    Daher auch studierte Bodelschwingh nach einer landwirtschaftlichen Ausbildung auf einem Mustergut in der Mark Brandenburg in Basel Theologie und bildete sich in der dortigen Missionsbrüderschaft weiter, bei der auch Waldemar Bonsels in die Lehre gehen wird. Nachdem Bodelschwingh in der deutschen Gemeinde in Paris die Kinder der Ärmsten betreut und danach in Westfalen als Landpfarrer gewirkt hatte, begleitete er 1866 und 1870/71 als Feldprediger preußische Truppen in den Einigungskriegen gegen Österreich und Frankreich.

    Ein Jahr nach der Reichsgründung übernahm Bodelschwingh die 1867 gegründete Anstalt für epileptische Jugendliche in Bethel bei Bielefeld. Angetrieben von diakonischem Ethos und mit glänzendem Organisationstalent begabt, baute er sie zur »Stadt der Barmherzigkeit« aus, in der später auch geistig Behinderte, »Gemütskranke« und die »Brüder von der Landstraße«, umherziehende Arbeitslose, unterkamen und moralischen Halt fanden. Seinem Programm »Arbeit statt Almosen« folgend, wusste der rastlose Pastor seine Verbindungen zu den maßgebenden Kreisen seinem Lebensprojekt dienstbar zu machen und ließ sich dafür 1902 noch mit 70 Jahren in den preußischen Landtag wählen. Bethel war zu einer Siedlung mit 4000 Einwohnern angewachsen, in der in mehreren Dutzend Pflege- und Krankenanstalten um die 1700 Diakonissen und Diakone beschäftigt waren.¹⁵

    Als charismatischer Redner, »geschickter Lobbyist« und professioneller Publizist¹⁶ hatte Bodelschwingh in vier Jahrzehnten einen effektiv organisierten Pflege- und Therapiebetrieb geschaffen, der mit seinen zahlreichen Außenstationen um Bielefeld, Berlin und in Ostafrika Konzerngröße hatte und bis heute die Diakonie prägt. Ein Unternehmen dieses Ausmaßes war erst in der Gründerzeit möglich geworden, in der sich Großindustrie, Management und Massenpresse entwickelten. Ähnlich seinem Standesgenossen Bismarck war Bodelschwingh ein »weißer Revolutionär«, ein Mann, der mit modernen Mitteln die Moderne bekämpfte, indem er ihr traditionelle Werte entgegensetzte: Gottesfurcht, Ehrfurcht vor der Schöpfung, väterliche Autorität, Familienbindung, Gemeinschaft, Enthaltsamkeit, Handwerk, ständische Gliederung, Monarchie. Bis an sein Lebensende – er starb 1910 – hielt er den Hohenzollern die Treue.

    So bezeugt Bodelschwingh als beispielhafte Figur der fortschreitenden Moderne, dass der konservative Widerstand gegen diese Moderne die Moderne selbst nicht weniger beeinflusst als deren eigentliche Schrittmacher. Damit wandeln sich unausweichlich auch die konservativen Weltbilder: Sie erneuern sich, bis sie selbst genuiner Teil der Entwicklung geworden sind. Auch in dieser Hinsicht war Bismarck eine geschichtsmächtige Figur: Indem er den modernen, aus der Französischen Revolution stammenden Begriff des nationalen Staates in sein politisches Programm aufnahm, entzog er ihn dem liberalen Bürgertum, das als Erstes und gegen Adel und Klerus nach Nationalbewusstsein und Nationalstaat gerufen hatte – erst seither bilden nationales und konservatives Denken eine Einheit.

    Bodelschwingh war bereits in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts ein bekannter Mann. Reinhold Bonsels muss ihm in seiner Heimatstadt Köln begegnet sein, da Bodelschwingh bereits dessen Vetter kannte. Zweifellos aber hat Bodelschwingh das Klima im konservativen, gemäßigt liberalen Hause Bonsels beeinflusst. Für den jungen Waldemar dürfte der umtriebige und zielstrebig die Grundforderung der Moderne – ausbauen, expandieren, optimieren, übertreffen – erfüllende Bodelschwingh eine Leitfigur gewesen sein, auch seine Verbindungen zum Berliner Hof werden ihm noch zugutekommen.

    Sein Leben lang wird sich Bonsels an seinem religiösen Erbe abarbeiten, und er wird eine ähnliche Grundhaltung entwickeln: Gegen moderne Strömungen setzt er ein konservatives Weltbild, die Mittel dafür aber sind modern. Bonsels’ Begriff des Konservativen allerdings sollte sich, seiner Generation entsprechend, dann merklich gewandelt haben: Seine Auslegung der christlichen Überlieferung wird teilweise schroff gegen die Auffassungen seines Elternhauses gerichtet sein. Sie wird moderner sein, manchmal so modern sogar, dass sie, einem halb verstandenen Nietzsche folgend, die christliche Kernforderung des Mitleids gegen eine vitalistische, instinktgeschärfte und kampfbereite Haltung ausspielt.

    Dass Reinhold Bonsels seit 1897, in jedem Fall 1898, in Bethel als Zahnarzt arbeitete, lässt vermuten, ihm sei praktizierte Barmherzigkeit wichtiger erschienen als sein Einkommen. Gerade in dieser Hinsicht wird sein Sohn Waldemar ganz andere Wege gehen.

    Verfolgt man die vom Vater gelebte Traditionslinie des Protestantismus weiter, so ist es so gut wie unmöglich, dass der am 14. Januar 1848 in der Hochstraße 53 in Köln geborene Reinhold Bonsels nicht mit Luthers »Kleinem Katechismus« groß geworden ist. Generationen von Handwerkern, Bauern, Handelsleuten und Gelehrten hatten mit dem »Kleinen Katechismus« Lesen, Schreiben und das Einmaleins der Glaubenssätze gelernt. Und man darf annehmen, dass auch Waldemar mit dem lutherischen Glaubensbrevier erzogen und wohl auch traktiert worden ist.

    Reinhold Bonsels’ Vorfahren waren Bauern, Landarbeiter, Handwerker, kleine Kaufleute im Holsteinischen. Einige besaßen Höfe oder stiegen zu Meistern auf, andere wurden Gerichtssekretär, Ratsherr, Rentmeister, Amtmann oder Advokat und gehörten dem niederen bis mittleren Beamtentum an. Sie waren, blieben sie nicht Bauern, Angehörige des unteren und mittleren Mittelstands, der Schicht, die die gut verdienenden Industriellen und Manager der Gründerzeit später »herablassend« kleinbürgerlich nannten.¹⁷

    Damit gehörten Reinhold Bonsels’ männliche Altvorderen jenem Bevölkerungsmilieu an, das sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, ursprünglich kleinen Verhältnissen entstammend, zu einer anerkannten Bürgerschicht gewandelt hatte. Dieses Bürgertum, oft protestantisch geprägt, fleißig, sparsam, eingeübt in seine religiös begründete, gegen den »frivolen« Lebensstil des Adels gerichtete Selbstdisziplin, hatte sich aus dem alten patrizischen Stadtbürgertum entwickelt. Es war geprägt von Händlern, Kaufleuten, Manufakturgründern, kleinen und mittleren Beamten. Sie bildeten, von gemeinsamen politischen Ideen, einem gemeinsamen Zukunftsglauben geeint, eine »bürgerliche Front gegen die bestehende Ordnung«.¹⁸ Zu dieser Schicht, der die meist theologisch gebildeten Denker des 18. Jahrhunderts wie Lessing, Schiller, Winckelmann, Herder, Hegel, Schleiermacher weltanschaulich den Weg geebnet hatten, zählten auch »die akademisch gebildeten Pfarrer, Gymnasiallehrer, Ärzte, die Angehörigen der ›freien‹ Berufe‹« – die Gruppe der späteren »Bildungsbürger«.¹⁹ Aus diesen bürgerlichen Kreisen hatten sich die Ideen entwickelt, die 1848 zum Parlament der Paulskirche führten, das mit der konstitutionellen Monarchie auch die Bildung von Parteien, Versammlungsfreiheit, freie Meinungsäußerung und Freizügigkeit forderte.²⁰

    Jacob Heinrich Bonsels, Waldemars Großvater, hatte in Köln eine Konditorlehre absolviert. Nachdem ihn sein Weg als Gehilfe über Aachen und Karlsruhe nach Wien geführt hatte, übernahm er in Bonn eine Konditorei, heiratete und eröffnete ein Jahr später in Köln seinen eigenen Betrieb. Er war katholisch getauft, trat jedoch mit zwanzig Jahren zum Protestantismus über. Weshalb, ist in den Familienannalen nicht vermerkt. Es werden aber vor allem soziale Gründe gewesen sein – die Konversion zum protestantischen Glaubensbekenntnis erleichterte in Deutschland bekanntlich das Fortkommen. Es könnten auch familiäre Traditionen eine Rolle gespielt haben, in der Familie gab es calvinistische und pietistische Pastoren. Jacob Heinrich Bonsels muss sich einen gewissen Wohlstand erarbeitet haben. Andernfalls hätte sein Sohn Reinhold, der nach dem Umzug in die Domstadt geboren wurde, kaum studieren können.

    2. Ein Zimmer für sich

    Von Berlin nach Kiel

    »Die rastlose Natur meines Vaters ließ uns nirgends seßhaft werden, noch als ich schon Schüler war, trieb es ihn erneut auf die Universität«, berichtet Bonsels in seiner Biographischen Notiz. Das »unruhige Leben« seines Vaters habe ihn und die Familie »von Großstadt zu Großstadt« geführt.²¹

    Von Großstadt zu Großstadt – da hat der Sohn ein wenig gedichtet, wohl um dem Vater einen Schimmer des Abenteuerlichen, Künstlerischen zu geben. Tatsächlich ist Reinhold Bonsels einige Male umgezogen: von Ahrensburg nach Berlin, von Berlin nach Kiel, das nicht wirklich eine Großstadt war, von Kiel nach Lübeck, das eine altehrwürdige Handelsstadt, aber keine Großstadt war, von Lübeck nach Bielefeld, das auch keine Großstadt war. Berlin, Kiel, Lübeck, Bielefeld – das zeigt eher die Rückkehr aus der Großstadt in die Provinz an. Und durch die sozialgeschichtliche Brille betrachtet, ist der viermalige Wohnungswechsel nicht schlechthin ein Zeichen ungewöhnlicher unternehmerischer Unruhe, sondern – auch – eines gewöhnlichen bürgerlichen Lebenslaufs.

    Für diesen Lebenslauf wird immer wichtiger, eine eigene Persönlichkeit auszubilden. Das begründet eine Dynamik, die zusehends das Lebensgefühl bestimmt. Der private Raum gewinnt damit an Bedeutung. Ohne private Sphäre lässt sich ein individuelles Selbstgefühl schlecht kultivieren, das jene Selbstdisziplin ausgleichen soll, die einzuüben der Beruf erfordert, dessen arbeitsteiliger Ablauf immer schärfer ins Leben einschneidet. Umso mehr wächst begreiflicherweise das Bedürfnis nach privatem Raum.

    Der Bürger sucht entsprechende Wohnungen. Sie sollen den Wunsch nach Repräsentation erfüllen, auch Wohnzimmer haben und Salon. Die großbürgerliche Wohnung verfügt oftmals noch über ein Billardzimmer und – den Herren vorbehalten – ein Rauchzimmer. Nur die Badezimmer kamen erst allmählich in Mode. »Wie in den meisten, selbst neueren und eleganten Stadtwohnungen fehlte es, zum Beispiel auch in der unseren, so lange an einem Badezimmer, bis wir uns selbst eines einrichten ließen«, erinnert sich Arthur Schnitzler. »Vorher wurde, wie in den meisten Mittelstandfamilien, jede Woche einmal in irgendeinem Nebenraum durch die Diener einer Badeanstalt eine ungefüge Holzwanne geschafft und aus Fässern mit heißem Wasser gefüllt, in der sich’s der Reihe nach Papa, Mama, die Kinder und endlich die Dienstboten, so gut es ging, behagen ließen.«²²

    Je mehr Familienmitglieder also über privaten Raum verfügten, desto größer war der Zuschnitt des Hauses, desto »bürgerlicher« war sozusagen der Status. Die großen Wohnungen der Bourgeoisie hatten daher nicht selten mehrere Schlafzimmer, männliche und weibliche Geschwister zumindest je eigene Räume. Angemessen, standesgemäß zu wohnen, das war ein verbindendes Merkmal der bürgerlichen Kreise, das forderte der Fabrikant ebenso wie der Anwalt, der Chemiker, Arzt oder Ingenieur, der Lagerverwalter wie der Buchhalter im Kontor wie der Verkäufer im Laden, das forderte der Assessor, der Eisenbahner am Billetschalter wie der Bäcker. Das war der Grund, weshalb sich Mietwohnungen steigender Beliebtheit erfreuten: Mit beruflichem Aufstieg und wachsendem Gehalt wuchsen die Wohnungen. Umzüge, Ortswechsel waren nichts Ungewöhnliches.

    Als Waldemar vier Jahre alt war, 1884 (es ist ja doch wahrscheinlicher, dass er 1880 geboren ist), verkaufte der Vater die Adler-Apotheke in Ahrensburg. Er zog nach Berlin, um dort Zahnmedizin zu studieren.

    Berlin strebte nach einem Platz an der Sonne: Es war im Begriff, die modernste Stadt Europas zu werden und einen entscheidenden Beitrag für den Aufstieg des Deutschen Reiches zur führenden europäischen Wirtschaftsmacht zu leisten. In Berlin hatte Werner Siemens 1879 die erste Elektrolok gebaut, und als Reinhold Bonsels ankam, ratterten bereits die ersten elektrischen Straßenbahnen durch die Stadt. Mit AEG, Siemens und den riesigen Fertigungshallen der Borsigwerke befanden sich in Berlin Fabrikanlagen, die ganz Europa mit Schienen und Lokomotiven belieferten – schon Mitte der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts waren allein in Deutschland zehntausend neue Schienenkilometer verlegt worden, und der Bedarf stieg von Jahr zu Jahr. Wer in Berlin zügig von den Borsigwerken in den Westen wollte, konnte zu dieser Zeit schon die Ringbahn benutzen, und kurz bevor sich Reinhold Bonsels an der Universität einschrieb, war auch die Stadtbahn in Betrieb genommen worden, deren nietenstrotzendes Viadukt bis heute von der Museumsinsel durch den Tiergarten bis Charlottenburg führt.²³

    Im Norden der Stadt breiteten sich die Industriegürtel aus, und mit ihnen dehnten sich neue Wohnareale, dicht bebaut, oft bis in den dritten und vierten Hinterhof gestaffelt, denn je mehr Wohnungen auf dem Grundstück, desto höher die Rendite für den Besitzer.²⁴ Die Konstrukteure, Ingenieure, Verwalter, Sekretäre, Facharbeiter und Arbeiter brauchten nicht zuletzt Ärzte. Auch das Bewusstsein für Hygiene und Vorsorge nahm im bürgerlichen Lebensgefühl immer größeren Raum ein.

    Zwei Jahre nach seinem Umzug nach Berlin, 1886, erhielt Reinhold Bonsels seine Approbation und eröffnete im folgenden Jahr eine Praxis in der Berliner Straße in Charlottenburg²⁵, das mit Schöneberg, Friedenau, Wilmersdorf und Dahlem zum »neuen Westen« gehörte, dessen gutbürgerliche und bourgeoise Wohnquartiere, dessen gärtenumstandene Villen über Lichterfelde und Zehlendorf bis zum Schlachtensee, Nikolassee und Wannsee vordrangen. Allein Schöneberg wuchs in diesen Jahren um das Siebzehnfache – die Viertel im neuen Westen zogen gut bezahlte Angestellte, Offiziere, Diplomaten, Unternehmer, Professoren, erfolgreiche Künstler an.²⁶ Allerdings war es in dieser Hochphase der bürgerlichen Epoche noch nicht allein das Einkommen, das das Selbstbewusstsein bestimmte – sosehr es auch das Gefühl der Eigenständigkeit fördern mochte.²⁷

    Und gerade Waldemars Vater lässt vermuten, dass ihn mehr als nur die Erwartung eines größeren Kontos bewogen hatte, Medizin zu studieren – er hätte sonst wohl kaum Charlottenburg mit Bethel getauscht. An mangelhafter zahnärztlicher Kunst wird es schwerlich gelegen haben, Reinhold Bonsels galt als Tüftler, geübt in der Kunst, Ersatzzähne zu fertigen. Bis 1890, drei Jahre lang, betrieb Reinhold Bonsels seine Praxis in der Großstadt Berlin, dann zog er mit der Familie nach Kiel.²⁸

    Sein Aufstieg ist beachtlich und beispielhaft: vom Bäckersohn zum Akademiker. Es war die Verlängerung des Weges, den die Vorfahren beschritten hatten, als sie sich von Bauern zu Bürgern wandelten. So wird er auch ihre maßvolle Lebensführung fortgeführt haben, zumal sie den Bildungsbürgern als Angehörigen des neuen Mittelstandes als Merkmal diente, sich gegen die ihr Geld großzügig zur Schau stellenden Großbürger abzugrenzen – man erklärte »Bescheidenheit, Sparsamkeit, Mäßigkeit als die eigentlich ›bürgerlichen Tugenden‹«, verzichtete auf »unangemessenen Aufwand« und kleidete sich zurückhaltend: zwar selbstverständlich mit Hemd und Kragen, man wollte sehr wohl gediegener sein als der Arbeiter in seinem Kittel, doch zurückhaltend, grau, seriös – der breitkrempige Hut, die rote Samtweste, die Pepitahosen des Künstlers und Dandys galten als unangemessen. Und mancher Buchhalter, mancher Lehrer tröstete sich über sein geringeres Gehalt mit dem Gedanken, »mehr sein als scheinen« zu wollen.²⁹

    Gleichwohl ist wahrscheinlich, dass der Platz in der Wohnung der Familie Bonsels hinreichte, um Waldemar ein Zimmer zu überlassen. Das eigene Zimmer schaffte Raum für eigene Gedanken. »Die Bürger erhoben ihre Bindung an die Privatheit zum Ideal und behandelten jeden Verstoß als Beleidigung.« Tagebücher oder Briefe wurden »von ihren Verfassern als durchaus sakrosankt angesehen«. Als etwa Arthur Schnitzlers Vater, ein berühmter Kehlkopfspezialist, den Schreibtisch seines Sohnes durchwühlte und in dessen kleinem rotem Tagebuch las, verletzte das den Sohn so nachhaltig, dass jedes »Vertrauen […] zerstört war«³⁰. Nicht ohne Schaudern erinnerte sich Schnitzler an die peinliche Szene, als ihn sein Vater, das »Tagebuch in der Hand«, mit »strenger Miene« zur Rede stellt: »[…] [S]tumm mußte ich eine furchtbare Strafpredigt über mich ergehen lassen und wagte endlich kaum schüchterne Worte des Befremdens über den an mir verübten Vertrauensbruch, der mir durch das patriarchalische Verhältnis zwischen Vater und Sohn keineswegs genügend gerechtfertigt schien« – und um so weniger, als diesem »Büchlein […] nicht nur meine aufkeimende Neigung zu der jugendlichen Tochter unseres Zahnarztes anvertraut« war, sondern sich darin »auch Andeutungen über meine Besuche bei einer gewissen Emilie« befanden, die »mir nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gefährlich zu werden anfing, da ich mich ernstlich in sie verliebt glaubte«.³¹ Hier war eine Grenze überschritten worden, die mit dem Raum auch die werdende, verletzliche Identität schützen sollte. Der Vater hatte den seelischen Innenraum entweiht, ein unverzeihlicher Übergriff.

    Selbst der junge Sigmund Freud, in der Wiener Leopoldstadt in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, bekam, als Ältester und Lieblingskind der Eltern, ein Zimmer für sich. »Seine Schwester Anna bezeugt, daß er immer ein eigenes Zimmer hatte, so beschränkt die Lebensumstände seiner Eltern auch sein mochten.«³²

    Und Bonsels erwähnt mehrmals ein Terrarium in seinem Zimmer, in dem er zwei Ringelnattern hütete.³³

    Wie es indessen um Waldemars vier Geschwister bestellt war, bleibt im Dunkeln. In Tage der Kindheit lässt Bonsels nur seine zwei Jahre jüngere Schwester Agnes auftreten, die er Anni nennt und als anmutig gewitztes Wesen schildert, hinter dessen sinnreichen Streichen sogar seine auch nicht immer harmlose Fantasie zurückbleibt. Anni war Waldemars Liebling: »Sie ist der Sonnenschein und die Heimat meiner Kindheit gewesen, kein Weihnachtsfest, kein Gartengrün, kein Sommerland und kein Gram dieser Zeit sind für mich zu schauen und zu denken ohne ihr liebes Gesicht. Aber sie war ein Aas.«³⁴

    Die anderen Geschwister scheinen für ihn ohne Bedeutung gewesen zu sein, er erwähnt weder seine vier Jahre ältere Schwester Margarethe noch seine 1891 in Kiel geborene Schwester Helene noch seinen Bruder Adelbert, sechs Jahre jünger als er. Nur in dem schwarzen Notizbuch, in dem Bonsels seine Einfälle für Tage der Kindheit festgehalten hat, findet sich ein winziger Hinweis: »Tod des Bruders« hatte Bonsels darin als Kapitelüberschrift notiert, den Satz dann aber gestrichen.³⁵ Der jüngere Bruder soll, sechsjährig, in Kiel von einem Spielkameraden »erschossen« worden sein, unbeabsichtigt.³⁶

    Offenbar hatte Bonsels an das Unglück erinnern wollen, sich dann aber entschieden, zu schweigen.

    Mia Sterns Märchenbuch

    In Kiel besucht Waldemar das Gymnasium. Er freundet sich mit einem Mitschüler an: Benno Stern. Es sollte eine einschneidende Begegnung werden.

    Benno Stern nimmt ihn eines Tages mit zu seinen Eltern – und die Großzügigkeit des Hauses, das der Vater, ein wohlhabender jüdischer Kaufmann, führt, die Belesenheit, der weitgespannte Horizont dieser Familie begeistern und verunsichern ihn zugleich. Dagegen scheint ihm das eigene Elternhaus eng und beschränkt.

    Sogleich nimmt ihn die Gelassenheit gefangen, mit der ihn Bennos Vater begrüßt, »als gäbe es nichts Natürlicheres, als daß sein Sohn mich mitbrachte. […] Das gefiel mir. Auch stellte er nicht die tausend lästigen Fragen an mich, mit denen die Erwachsenen uns sonst quälten. Er tat durchaus nicht so, als ob er es gut meinte, sondern er meinte es gut.

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