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Gottgesegnet: Lebendige Veränderung eines Geistes
Gottgesegnet: Lebendige Veränderung eines Geistes
Gottgesegnet: Lebendige Veränderung eines Geistes
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Gottgesegnet: Lebendige Veränderung eines Geistes

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About this ebook

Der Autor Wolfgang Gerhold lässt uns in dieser Autobiografie, die als Fortsetzung seines Erstlingswerkes „Schweißgebadet“ zu verstehen ist, an seinem bis dahin bereits ziemlich inhaltsreichen Leben teilhaben: nachdem ihm im Dezember 1989, durch außerordentlich harten Kampf, vornehmlich aber durch umsichtiges, ja weises Handeln gegenüber der mächtigen STASI die Ausreise aus der DDR gelungen ist, beschreibt er nun die in der neuen Heimat, der Bundesrepublik Deutschland, auf ihn in dieser Form und Heftigkeit nicht zu erwarten gewesenen Herausforderungen und Widrigkeiten seines Neubeginns.
Alles Wissen und alle bisher gemachten Erfahrungen sind nichts wert, da sich die etablierten Strukturen und Gegebenheiten der zwei bestehenden Systeme, dem Sozialismus in der DDR und dem Kapitalismus in der BRD antagonistisch gegenüberstehen. Sich zurechtzufinden und sich an die nunmehr angetroffenen unumstößlichen Fakten der Gesetzgebung zu gewöhnen ist nicht leicht für ihn, zumal dem Autor ein Geist der Analyse, der Bewertung und der Gerechtigkeit, ja der Rebellion innewohnt.
Detailgenau beschreibt Wolfgang Gerhold seine neuen Eindrücke und die lebensverändernden Erkenntnisse der neuen Lebensumstände.
Die einfühlsamen Schilderungen als Neuankömmling, als neuer Mitarbeiter und später als junger Christ fesseln den Leser und ziehen ihn in den Bann der Erzählung. Spannungssteigernd erfährt der Leser, wie der Weg ins neue Leben trotz all der Widerwärtigkeiten der neuen, von den Idealvorstellungen des Autors so sehr abweichenden Tatsächlichkeiten, gelungen ist.
Die authentischen Schilderungen der Gegebenheiten und das sich Auseinandersetzen mit all den neuen, den Autor umgebenden schönen, aber auch so traurigen Dinge, versetzt den Leser in die Position eines Neutralbetrachters, der die Dinge noch immer nur aus seiner Sicht, nie aber aus der Sicht eines Neuankömmlings gesehen hat. Diese Sicht öffnet Augen.
LanguageDeutsch
Release dateOct 1, 2015
ISBN9783739254128
Gottgesegnet: Lebendige Veränderung eines Geistes
Author

Wolfgang Gerhold

Wolfgang Gerhold stammt aus der Gemeinde Schwenda, einem kleinen Dorf am südlichen Rand des Harzes, einer idyllischen Gegend, die von den Auswirkungen des 2. Weltkrieges verschont geblieben war. Scheinbar geborgen wächst er mit seinen drei Schwestern in der Familie auf, wären da nicht die sich offen, oft aber auch im Verborgenen abspielenden Szenarien von Verzweiflung, Wut, Gewalt, Demütigung und anderen Einflüssen auf die sensible Familie durch den Vater. Bis zur Trennung der Eltern erlebt der einzige Bub in der Familie massive Gewalt und Psychoterror des Vaters gegenüber allen Familienmitgliedern. Ein völlig überforderter Mann, der als Kriegsinvalide der Situation seiner Unzufriedenheit, einer schnell wachsenden Familie und der Enttäuschung über den verlorenen Krieg nicht anders zu begegnen weiß. Nach der Lehre der Großen Krankenpflege und im Beruf des Krankenpflegers erwächst in dem jungen Mann die große Sehnsucht, als Arzt und Chirurg durch unmittelbare Hilfeleistung an den Menschen den wertvollsten gesellschaftlichen Dienst leisten zu können. Dieser Traum platzt aber bald sehr schmerzhaft durch die Kollision mit dem vorherrschenden politischen System, dem Sozialismus. Als Maschinenbauingenieur mit Diplomabschluß findet er trotz größter Enttäuschung eine spätere große Erfüllung im Beruf. Noch vor der „Wende“ im Herbst 1989 siedelt er, knapp 40-jährig, nach nur 15 Monaten „Wartezeit“ im Dezember 1988 legal von Leipzig nach München über. Sehr schnell fand er qualifizierte und herausfordernde Tätigkeiten und arbeitet durchgehend erfolgreich bis 2012 in verschiedenen Firmen und Branchen. Dieses Buch beschreibt den Weg eines Neuankömmlings, wie es ihm im Westen erging und ob sein Traum einer „besseren Welt“ wahr wurde.

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    Book preview

    Gottgesegnet - Wolfgang Gerhold

    Dieses Buch widme ich all denen, die damals (1989) schon Ihren Weg in die Bundesrepublik Deutschland gefunden hatten, als der „Eiserne Vorhang fiel, als die Mauer einstürzte, so wie es US Präsident Ronald Reagan am 12. Juni 1987 gefordert hatte: „Come here to this gate! Mr. Gorbatchow, open this gate! Mr. Gorbatchow, tear down this wall! Ein Neuanfang ist schwer und braucht Glaube in die eigene Kraft, Hoffnung an ein gutes Gelingen und Liebe denen, die den Neuanfang begleiten und unterstützen.

    Viele kamen danach, aber sie waren alle zu spät. Eine offene Tür oder eine niedergerissene Mauer kann man nicht mehr öffnen, weil sie schon offen ist. Geöffnet von denen, die den MUT des Aufbegehrens hatten in Zeiten der Verfolgung und ANGST.

    Denen gilt meine höchste Anerkennung und ihnen gebührt meine ganze Ehre.

    Denen, die keine ANGST hatten vor den Maschinenpistolen der Verfolger.

    Danke auch dem, der dies alles möglich werden ließ: Michael Sergejewitsch Gorbatchow.

    Der Autor

    (Mai 2015)

    Inhaltsverzeichnis

    Ankunft

    31.12.1988

    Wohnungssituation

    1974-1988 (Rückblende)

    Leistungszuwachs durch kürzere Überleitungszeit

    1974 (Rückblende)

    1986: (Rückblende)

    1982: (Rückblende)

    18.08.1984 / Ausland Zementwerk Tartous ging voll in Betrieb

    Unfall im Januar 1987

    Nationalhymne der DDR (Liedtext, damit sie nicht vergessen wird.)

    Das Ergebnis des Übergabegebetes

    Ankunft

    31.12.1988:

    Die Reise war bis zu diesem Zeitpunkt ganz gut verlaufen. Die Grenzkontrolle lag hinter mir und das ungeheuerliche Glücksgefühl, welches sich unmittelbar nach dem Durchfahren der innerdeutschen Grenze und der unglaublich freundlichen Begrüßung durch die Bürger Herleshausens eingestellt hatte, hielt noch immer an.

    Der Puls noch immer beschleunigt, die Gefühle noch immer aufgewühlt, die Gedanken sich noch immer schnell drehend saß ich auf meinem Platz. Die Augen geschlossen und angestrengt darüber nachdenkend, was mich wohl in meiner neuen Heimat, der Bundesrepublik Deutschland erwarten würde.

    Ich hatte es geschafft. Legal und ohne das lebensbedrohliche Risiko „abzuhauen, so nannten die Leute in der DDR die „Republikflucht.

    Wohl hatte ich eine von zwei Adressen in der Tasche, die mir zunächst einmal einen ersten Anlaufpunkt im neuen Land sicherte. Die Mutter meines Postzustellers in Leipzig, von dem ich mir seinerzeit den hochmodernen Workman mit Aufnahmefunktion ausborgte, hatte einige Jahre zurückliegend einen Mann aus der Bundesrepublik kennengelernt und diesen geehelicht. Daraus ergab sich für sie die Möglichkeit eines Ersuchens, im Zuge einer Familienzusammenführung die DDR zu verlassen und zu ihrem Ehemann in die neue Heimat zu ziehen. Diesem Ersuchen war dann auch stattgegeben worden und so lebte diese Frau jetzt schon geraume Zeit zusammen mit ihrem Ehemann im Bundesland Hessen. Mein Postzusteller, der, noch allein in Leipzig lebend, ebenfalls einen Ausreiseantrag und einen Antrag auf Familienzusammenführung zu seiner Mutter gestellt hatte, war so entgegenkommend gewesen, mir nach Absprache mit dieser die Adresse auszuhändigen und diese trug ich nun in meiner Tasche.

    Ich musste also, nachdem ich in Frankfurt/ Main angekommen sein würde, noch ein Stück mit der Bahn in diesen Ort fahren. Alles in allem keine große Angelegenheit, aber es war immerhin Silvesterabend und dieser Abend ist immer etwas ganz besonderes. Die Leute bereiteten sich meist darauf vor, in großer oder kleiner Runde, zu Hause oder in Lokalitäten, mit Freunden und Bekannten oder auch ganz allein den Jahreswechsel zu begehen. Es ist ein besonderer Tag und Abend für alle Menschen dieser Welt, denn die Freude des einen, in der Familie und mit Freunden den nächtlichen Wechsel des Jahres ausgiebig zu feiern, wird zum Alptraum des anderen, der unter schlimmsten Bedingungen, allein und von Not und Elend erfasst, dem Jahreswechsel entgegensieht. Die Wünsche, die Vorsätze und die Hoffnungen sind bei beiden genannten Personengruppen gleich. Immer soll es eine Verbesserung der Lebenssituation im Neuen Jahr geben und diese soll möglichst üppig ausfallen. Während der eine seine Gedanken auf den Erhalt des Arbeitsplatzes, auf das Gedeihen der Familie, die finanzielle Stabilität und das Erreichen teilweise sehr hoch gesteckter Ziele fokussiert, konzentriert sich der andere auf den Erhalt der täglichen Nahrung, das Vorhandensein eines Schlafplatzes für die kommende Nacht oder auf eine, der bitteren Kälte der Winternächte trotzenden Kleidung und vielleicht ein liebevolles Wort an unwirtlichen Tagen.

    Nur die Bitte um Frieden und Gesundheit, die fast schon monoton und routinemäßig über die Lippen formuliert wird, mochte beide Gruppen am innigsten verbinden, denn das sind Wünsche und Hoffnungen, die in beiden Parteien gleichwohl aus der Zuversicht heraus erwachsen.

    Die Historie der Gesellschaft hat es so mit sich gebracht, dass sich die Menschen an solchen Tagen aus ganz unterschiedlichen Lebenslagen heraus, wohl aber eher gedanklich, immer eine Verbesserung der Lebensumstände wünschen, auf das sich das gefühlte Elend verflüchtigen, sich das Wohlergehen aber stetig und zunehmend etablieren möge.

    Die Vorsätze, die an diesem besonderen Tag des Jahreswechsels in Gedanken und still, mit geschlossenen Augen getroffen werden, sind voll dieser Hoffnungen und der Zuversicht, dass sich das Gewünschte auch wirklich erfüllen würde und sind doch meist illusionär.

    Die Ankunft in Frankfurt/Main war eine derart außergewöhnliche Angelegenheit, dass ich mich noch gut daran erinnere. Am stärksten sind mir die Helligkeit und die Farbenvielfalt in Erinnerung geblieben. Jemand wie ich, der aus einem Land nicht nur lichttechnischer Unterversorgung, vor allem aber auch aus einem bestehenden Mangel an Angebotsvielfalt, kultureller Freiheit, Zeitschriftenvielfalt, Reklameeffekten und vielen anderen schönen Dingen kam und dessen Blick nun dieses Gesamtkunstwerk Hauptbahnhof erfasste, musste zwangsläufig überwältigt sein und das war ich in der Tat. Der „Eiserne Vorhang" zwischen den beiden Ländern hatte die Nacht getrennt vom Tag, die Finsternis getrennt vom Licht, die Dunkelheit getrennt vom Strahlen, ja die Blinden getrennt von den Sehenden. Leider hatte ich für die Komplexität dieses grandiosen Bildes überhaupt keine Zeit, denn mein Regionalzug zur Zieladresse würde nicht auf mich warten und von der sprichwörtlichen Pünktlichkeit des Zugverkehrs hatte ich schon gehört. Ich konnte also nicht, einem längeren entzückten Verweilen geschuldet, mit einer Verspätung des Zuges spekulieren und machte mich sogleich auf den Weg zum angegebenen Bahnsteig. Zuvor jedoch war es dringend geboten, noch eine Fahrkarte zu lösen. Dies tat ich auch und es stellte zu diesem Zeitpunkt auch noch kein Hindernis dar, konnte ich doch die Bestellung im Klaren, wenn auch durch meinen 12–jährigen Aufenthalt in Leipzig sicher etwas sächsisch eingefärbtem Deutsch am Schalter aufgeben. Aus dem Verkauf meines Eigentums, welches ich nach der Scheidung noch mein Eigen nennen durfte, hatte ich nicht nur DDR- Geld erhalten, sondern einige Bekannte, die mir die hochwertigen Dinge (z.B. eine japanische Stereoanlage, ein Farbfernsehgerät, einen echten handgeknüpften Teppich) abkauften, hatten einen zu erübrigenden Teil ihres Westgeldes an mich abgetreten. So war ich am Schalter nicht völlig mittellos, sondern hatte einige wertvolle D-Mark in der Tasche, von denen ich die Fahrkarte bezahlen konnte.

    Was, so fuhr es mir durch den Kopf, würden eigentlich die Leute machen, die überhaupt gar keinen Pfennig dieser Währung besaßen und wohin würden sie sich in einer solchen Situation wohl wenden können?

    Pünktlich fuhr der Regionalzug ab und ich kam nach etwa 2-stündiger Fahrt in Rimbach /Odenwald an. Gut erinnere ich mich an den so fröhlichen und vollkommen entspannten Bediensteten, der die Fahrkarten kontrollierte. Schon die ulkige Mütze ließ ihn irgendwie nett aussehen, denn der Stahlring, der die Schirmmützen meist mit einer sehr hohen Vorderfront erscheinen lässt, war entfernt worden und so „waberte die Mütze ohne feste Ordnung um seine Ohren. Heute würde man es „cool nennen. Seine Art und Weise, der freundliche Ton der Ankündigung der Fahrkartenkontrolle und die Durchführung dieser sind mir in allerbester und positiver Erinnerung geblieben. Die Minen der Beamten der Deutschen Reichsbahn in der DDR hingegen waren vergleichsweise eisig und unfreundlich. Hier aber erlebte ich gleich einen Sonnenschein, der die Freude seines Tuns und die damit verbundene Freiheit nach außen transportierte.

    Hoffentlich würde sich dieser Eindruck fortsetzen.

    Schirmmütze der Deutschen Reichsbahn mit eingelegtem Stahlring

    Schirmmütze der Deutschen Bundesbahn ohne eingelegten Stahlring; sog. Läke

    Schon in der DDR hatte es eine unterschiedliche Tragekultur von Kopfbedeckungen, vor allem aber von Schirmmützen gegeben. Alles war natürlich in irgendwelchen Dienstvorschriften geregelt, aber wer genau hinsah und das tat ich, konnte kleine aber feine Unterschiede erkennen und diese waren nicht etwa zufällig. Das Herausnehmen eben dieses Stahlringes aus Schirmmützen war nicht der Dienstvorschrift entsprechend und somit „gegen die bestehenden Regeln. Wir nannten diese Trageform: „Läke. Es wurde vom Träger als klarer Regelverstoß und damit als Rebellion gegen bestehende Vorschriften interpretiert und hieß im Klartext: „Ich begehre auf gegen die Regeln und die, die sie verfasst haben". Oft hatte ich gesehen, dass Polizisten, Unteroffiziere der Armee und auch junge Offiziere der NVA ihre Schirmmützen nicht regelgerecht oder gerade noch so an der Grenze der Regelrechtigkeit trugen und von diensthabenden Offizieren entweder im Kasernengelände oder gar auf offener Strasse zur Korrektur der Trageform oder der Tragekultur der Mützen aufgefordert wurden.

    Die versteckten Rebellen mussten sich dann ganz flugs etwas einfallen lassen und manche trugen den Stahlring sogar in einer der zahlreichen Uniformtaschen. Oft aber trabten die Ertappten und zur Korrektur Genötigten im Laufschritt zurück in ihre Kammer, setzten dort den Stahlring in die Mütze ein, um sich dann wieder beim Beanstander zu melden. Man ließ es darauf ankommen, sich mal mit den Vorgesetzten oder der Obrigkeit anzulegen, zogen doch solch kleine Vergehen keine Bestrafung oder ein „in den negativen Fokus geraten" nach sich. Es gab natürlich auch noch den Unterschied in den verschiedenen Arbeitsbereichen, in denen Schirmmützen getragen wurden, wie z. B. die Armee, die Marine, die Polizei, die Bahnbeamten oder die Postbeamten und diese kleinen Vergehen wurden auch in jedem dieser Bereiche unterschiedlich gehandhabt.

    Ich hatte noch immer sehr umfangreiches Gepäck zu schleppen, welches aus meinen 2 großen Koffern, einem Rucksack, einer kleineren Umhängtasche und dem Paar Abfahrtsski bestand, welches ich in der Ukraine gekauft hatte.

    Nach der Ankunft machte ich mich sogleich auf die Suche nach dem Haus, in dem, der Adresse entsprechend, mein erster Anlaufpunkt sein sollte. Nach dem Befragen von Passanten, wo denn dieses Haus lokalisiert sein könne, machte ich mich auf den Weg. Auf die Idee ein Taxi zu ordern kam ich gar nicht, denn das Fahren mit einem solchen war für mich ziemlich ungewohnt und außerdem wollte ich meine knapp bemessene Barschaft an Westgeld nicht für einen solchen Luxus verschwenden.

    Ich hatte schon früh im Leben gelernt, dass die vorhandenen Möglichkeiten und Recourcen nicht immer auch allen zur Verfügung standen. Nur wer Geld hatte, sich solch außergewöhnlichen Luxus wie z.B. ein Taxi leisten zu können, konnte an diesem auch teilhaben. So erinnerte ich mich sofort daran, dass ich während meiner Lehre täglich zu Fuß zum Krankenhaus Stolberg/Harz laufen musste, in dem ich während der Berufsschulferien arbeitete. Wenn ich Frühdienst hatte und den hatte ich meistens, begann der Dienst 06:00 Uhr. Ich musste 04:30 Uhr loslaufen, um 05:45 im Haus zu sein und um nach dem raschen Umziehen auch pünktlich 06:00 mit der Arbeit beginnen zu können. Ein Bus fuhr um diese Uhrzeit noch nicht, so dass mir nur der ca. 4 km lange Fußmarsch durch den Wald blieb (wir nannten diesen Weg den „Stadtweg", weil er von Schwenda, meinem Heimatdorf, in die kleine Stadt Stolberg führte). Im Sommer ging es ja noch, aber im Winter, wenn der Schnee reichlich bis überreichlich lag, war es wahrlich eine Tortur. Niemand fragte mich jemals, ob mir das gefiel, sondern es war ganz normal und ich musste mich den vorliegenden Anforderungen beugen.

    Rückbesinnend erinnerte mich auch an meinen Vater, der während der Zeit des gemeinsamen Arbeitens zusammen mit meinem Onkel auf der Grube „Luise jeden Tag die ca. 4 km lange Strecke von zu Hause zu eben diesem Schacht zurücklegen musste (wir nannten diesen Weg den „Schiefergraben, der später ins „Krummschlachttal" überging).

    Auch sie waren nicht gefragt worden, ob ihnen das gefiel, sondern sie ordneten sich den Erfordernissen zum Zwecke des Überlebens der Familien unter.

    Schließlich fand ich das Haus und klingelte an der Gartentür. Niemand öffnete und es schien mir so, als wäre auch gar niemand zu Hause.

    Das unbeleuchtete Haus lag in einem ziemlich ausgedehnten Gartenbereich. Immerhin war es schon so gegen 19:30 Uhr und die Dunkelheit hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon lange über den Ort gelegt. Ich vermutete, dass meine Gastgeber schon zu einer Silvesterparty gegangen waren. Da ich meine Ausreisepapiere erst am 29.12.1988 ausgehändigt bekam, hatte sich die Möglichkeit einer telefonischen Ankündigung nicht ergeben. Eine solche hätte auch nicht viel genützt, wie ich etwas später erfuhr. In meiner Hilflosigkeit überlegte ich, was ich tun könnte, um doch noch zu meinem wohlersehnten Nachtlager zu kommen. Die praktische Lösung bestand darin, vielleicht durch eine Nachbarfamilie eine Auskunft über den Aufenthalt meiner Gastgeber zu bekommen. So ließ ich mein Gepäck vor der Gartentür stehen und ging zum Nachbargebäude. Nach dem Läuten öffnete sich die Tür und ich fragte, ob über den Verbleib der Nachbarfamilie Kenntnis bestünde. Ein durchaus überraschter Gesichtsausdruck der vor mir stehenden Person verriet mir, dass hier etwas nicht stimmen konnte und sogleich erhielt ich auch eine sehr klare Ansage etwa so: „Eine Familie dieses Namens kennen wir nicht und bitte belästigen sie uns nicht noch einmal mit so etwas. Die Tür schloss sich vehement und ich war so schlau wie schon zuvor. Ich vermutete, dass zwischen diesen Nachbarn und meiner Ansprechfamilie irgendetwas vorgefallen sein musste, denn normalerweise kennt man sich ja untereinander und gibt Auskunft. Die Antwort aber Wir kennen diese Familie nicht", ließ ein tieferes Zerwürfnis erahnen.

    Da ich gezwungen war, irgendetwas zu unternehmen, gab ich nicht auf und ging zum Nachbargebäude auf der anderen Seite. Nach meinem Läuten öffnete ein Herr, der sich gerade eine Fliege um den Hals band. Erstaunt über mein Anliegen erkundigte er sich lautstark in die Wohnräume hineinrufend bei seiner Frau, ob ihr der Verbleib der Nachbarfamilie bekannt sei. Nach kurzem Dialog mit ihrem Mann erschien diese selbst an der Haustür und erklärte mir, dass die vermeintliche Familie wohl zum Skiurlaub nach Bayern gefahren sei. Dies täten sie schon ziemlich regelmäßig in den letzten Jahren über den Jahreswechsel.

    Nach meinen Erläuterungen, wer ich sei und was ich wolle, erfassten sie den Sinn meines Ansuchens und begannen nun sehr freundlich und kreativ, mir zu helfen, obwohl sie unmittelbar vor einer Silvesterparty standen und sicher schon längst hätten dort sein sollen. Gemeinsam suchten sie eine Nummer im Telefonbuch, die der „Putzfrau" gehören sollte und hofften, dass diese über ein mögliches Auftauchen meiner Person informiert worden sei. Anruf und Bingo! Die Dame war die Hausgehilfin im Haushalt meiner Gastgeber und versprach, in wenigen Minuten und mit dem Hausschlüssel ausgestattet, vorstellig zu werden. Welch ein Glück!

    Ich hatte die ersten freundlichen und ehrlich hilfsbereiten Menschen in meiner neuen Heimat kennengelernt. Das Wort „Putzfrau kam mir nicht nur fremd vor, sondern ich hatte dieses Wort in meinem bisherigen Sprachgebrauch weder gehört noch benutzt. Es hörte sich für mich so minderwertig oder deutlicher noch erniedrigend an und vermittelte automatisch eine Einteilung in verschieden Klassen, in die Klasse der Wertvollen und in die Klasse der minderwertigen Menschen. Diese Einteilung konnte und wollte ich nicht vornehmen und so benutzte ich dieses Wort weder zu diesem Zeitpunkt, noch bis heute. Schon wenige Minuten später stand mir eine Frau mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen gegenüber. Sie ging voraus, öffnete zunächst die Haustür, hernach die Korridortür und schließlich die Stubentür und bat mich herein „in die gute Stube. Ich erinnere mich weder an die Wohnungsausstattung, noch an irgendwelche Details, aber an eines erinnere ich mich ganz klar: die vor mir sitzende Frau stammte aus Halberstadt, einer mittelgroßen Stadt am Nordrand des Harzes und war auch, legal oder illegal, dem Terrorsystem der DDR entronnen. So trafen sich am Silvesterabend 1988 zwei Harzer zum ersten Mal. Später kam auch noch ihr Ehemann dazu und wir feierten zusammen die kleine Party zum Jahreswechsel. Wir hatten unglaublich viel zu erzählen, denn immerhin verband uns historisch unsere gemeinsame Heimatscholle: der Harz. Zuvor hatte sie mir eine Brotzeit gereicht, von der ich nicht nur satt wurde, sondern die einer edlen Gastfreundschaft alle Ehre machte. Nach Mitternacht versuchten wir, die Gastgeberfamilie in Bayern anzurufen und obwohl ich das nicht für möglich gehalten hatte, klappte diese Konversation. Nun wusste auch diese Familie, dass der lang ersehnte Besuch eingetroffen war. Der erste Anlauf war geschafft und ich fühlte mich, wenn auch noch etwas benebelt von den vielen Ereignissen in kürzester Zeit, wie neu beseelt, voller Zuversicht und voller Gewissheit, den richtigen Schritt vollzogen zu haben. Ich musste abwarten, was die nächsten Tage bringen würden und ob sich die Euphorie nicht als trügerisch erweisen sollte. Aber ich war guter Dinge und schlief nun die erste Nacht in der neuen Welt.

    Am nächsten Morgen, dem Neujahrsmorgen des Jahres 1989, stand ich ausgeruht und ruhig auf, denn wir hatten beim Auseinandergehen so gegen 02.00 Uhr ausgemacht, das Frühstück gemeinsam einzunehmen. Dies taten wir dann auch lange und ausgiebig. Meine Bekannten hatten, ob der Tatsache meiner Ankunft, die vorzeitige Heimreise aus ihrem bayerischen Urlaubsort angetreten und wurden am Nachmittag des 01.01.1989 erwartet. Eine unvergleichliche Ehre, die mir sehr schmeichelte, denn meine Ankunft befand ich selbst nicht als würdig, dass andere Leute vorzeitig ihren Urlaub abbrachen. Aber sie hatten es so entschieden und ich war sehr dankbar für diese Ehrerweisung. Ich kannte ja keine dieser Personen, sondern war ja nur durch die Vermittlung meines Leipziger Postzustellers zu dieser Adresse gelangt.

    Es zeigte sich aber als äußerst hilfreich, wenn ein Neuankömmling schon mal in gute Hände gerät und nicht von Anfang an und ohne jede Unterstützung in ein fremdes Land kommt. Dies sollte ich auch später noch deutlich vor Augen geführt bekommen. So verging der Vormittag mit Warten und Gesprächen. Mir wurde das Haus gezeigt, das sich im abendlichen Schnelldurchgang doch nicht so dargestellt hatte, als ich es jetzt bei hellem Tageslicht verinnerlichen konnte. Die Bauart insgesamt, die Ausstattung der Räume, die Fenster und Türen, die Türklinken und die Schlösserbeschläge, die Tapeten, die Raumdecken, die Lampen, die Fußböden, die Heizkörper, die Präzision der Verarbeitung in Bad und Küche faszinierten mich doch, denn hier wurde schon im ersten Augenblick der immense Unterschied zu den mich bisher umgebenden baulichen Tatsachen ersichtlich.

    Ich hatte in Leipzig in zwei Altbauwohnungen und einer Neubauwohnung gewohnt, aber solch einen „präzisen deutschen Prunk" hatte ich zuvor noch nicht gesehen. Selbst in den Wohnungen im Ausland, in Tartous (Syrische Arabische Republik) oder in Bagdad (Irak) waren diese bei weitem nicht so vollendet ausgeführt, wenngleich wir damals auch schon über die verchromten Bad- und Küchenarmaturen verwundert waren.

    Auf die Frage, wie es den mit einem mittäglichen Bierchen aussähe, sagte ich nicht nein und so wurde ich per Ansage in den Keller geschickt, um mir ein ordentliches Fläschchen Bier auszusuchen. Ich ging also, der Aufforderung folgend, in den Keller und hier erfasste mich schon wieder ein einzigartiges Staunen. Die Stufen der Kellertreppe, die Fliesen an den Wänden, die perfekt verlegten und in Schaumstoff gefassten Heizungsrohre und wieder die Türen und Beschläge, alles wie ein Traum.

    Ich wunderte mich doch sehr, dass mich die Hausdame so ohne Begleitung in den Keller gehen ließ. Es bedurfte ja eines unglaublichen Vertrauens, mich so einfach durchs Haus spazieren zu lassen, war ich doch ein völlig fremder Mensch für sie, aber offenbar war dies überhaupt kein Thema. Schließlich öffnete ich die beschriebene Tür zur Vorratskammer. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, denn so viele Bier- und Getränkekästen auf einem Haufen hatte ich noch niemals zuvor in einem Privathaushalt gesehen. Ich hatte in Leipzig auch mein Bier getrunken, aber der Vorrat wurde moderat und höchstens flaschenweise eingekauft. Ganz selten kaufte ich mal ein Kasten Bier und das auch nur, wenn Besuch kam und die Besucher auch Biertrinker waren. Hier zeigte sich schon mal der Unterschied der Dimensionen bei der täglichen Bevorratung mit Getränken.

    Die einfache Aufgabe, sich ein ordentliches Fläschchen Bier auszusuchen, wurde für mich zur Herausforderung, ja zur nahezu unlösbaren Prüfung. Alles unbekannte Etiketten, alles unbekannte Aufschriften mit tausenderlei Hinweisen und für mich in diesem Moment keine gedanklich einfach erfassbare Aussage. Dunkelbier, Weißbier, Dunkles Weißbier, Urbräu, Hefeweizen, Helles Bier usw. fand ich auf den Etiketten. Helles Bier wollte ich nicht, denn das schien mir der einzige gedanklich verwertbare Ausdruck zu sein, den ich kannte. Also wählte ich eine Flasche mit der Aufschrift „Hefeweizenbier" oder so ähnlich, um mal etwas Unbekanntes zu probieren. Den Öffner hatte ich schon bald entdeckt und so stand mir der schon unzählige Male durchgeführte Akt des Öffnens einer Bierflasche bevor. Hier aber handelte es sich um eine Westflasche und das war neu an der Angelegenheit. Schnell und kräftig hebelte ich den Kronkorken vom Flaschenhals und prüfte den Flascheninhalt auf etwaige Veränderungen. Das Bier schäumte ein wenig und so konnte ich wohl den ersten Schluck genüsslich zu mir nehmen.

    An ein Glas hatte ich nicht gedacht, schmeckt doch ein aus der Flasche getrunkenes, gut gekühltes, weil im Keller lagerndes Bier einfach erfrischend, ein so genanntes „Zischbier". So setzte ich den Flaschenhals an meinen Mund, um einen kräftigen Zug zu nehmen, aber schon passierte das Unfassbare.

    Im Moment des Umdrehens der Flasche bildete sich in meinem Mund ein hochvoluminöses Schaumgemisch, so dass ich dieses in großem Bogen ausspie. Aus der Flasche, deren Öffnung ich nun schräg nach vorne hielt, sprudelte mit unverminderter Intensität ein wahrer Schaumbogen. Ein süßlich- bitterer, hefiger und mir völlig unbekannter Geschmack traf auf die Geschmackssensoren und erzeugte einen Ekel- und Würgevorgang. Ich hielt die Flasche so weit es ging von mir und der Schaum ergoss sich in die vor mir stehenden Getränkekästen und ein ziemlich umfangreiches Terrain des Bodens. Oh mein Gott, was war denn hier geschehen. Ich konnte mir das alles nicht erklären, hatte ich doch mit einem solchen Phänomen nicht nur nicht gerechnet, sondern ich hatte keine Ahnung, dass solches hätte passieren können. Geplättet und beschämt sah ich auf die sich in Windeseile leerende Flasche. Nur ein kleiner Rest des Inhaltes verlor sich noch in dieser. Ich muss sofort die Reinigungskette in Gang setzen, schoss es mir durch den Kopf. Eimer, Wasser, Reinigungsmittel, Schrubber, alles musste ich mir besorgen, um diesen Ort der Schande schnellstens zu beseitigen. Ich ging zur Hausangestellten, um die genannten Utensilien zu erbitten und erzählte ziemlich deprimiert und beschämt die Story. Ein lautes und ungebremstes Lachen erscholl und so war ich zum ersten Mal Opfer mir nicht bekannter Umstände geworden. An anderer Stelle sollte es mir in anderen Dingen noch ähnlich ergehen, aber dazu später mehr. Schnell war der Ort gereinigt und ich konnte einen kleinen Spaziergang in den Ort unternehmen, nachdem ich eine Flasche ganz normales Helles Bier getrunken hatte. Diese Geschichte blieb vor allem den Unbeteiligten, aber auch den in Kenntnis gesetzten Menschen lange in Erinnerung und ich spürte immer den, wenn auch lustig scheinenden Spott, der nun mal in uns Menschen gelegt ist. „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen" kam es mir in den Sinn und so blieb es auch bis heute dabei.

    Ich schaute einerseits sehr neugierig, andererseits aber auch neutral- zurückhaltend im Entzückungsverhalten und natürlich mit großer Anspannung in die umliegenden Gärten und Häuser. Ich wollte auf keinen Fall den Eindruck bei mich möglicherweise beobachtenden Bürgern erwecken, dass die sich mir darstellenden Gegebenheiten etwa ganz neu oder völlig unbekannt seien und ich dadurch völlig „aus dem Häuschen geriet. Immerhin hatte ich schon knapp 40 Lenze auf dem Buckel, war in der Welt umhergekommen und schaute etwa hier wie ein „Kaninchen aus der Wäsche. Nein, dieser Eindruck sollte nicht entstehen.

    Obwohl scheinbar unbeeindruckt, interessierten mich die Dinge doch sehr viel mehr als ich zugeben wollte. Die Akkuratesse der Bauausführung sowohl der Häuser, als auch der Garagen oder Schuppen; die Dächer wie aus dem Bilderbuch; die Zäune gerade und lückenlos; die Dachrinnen vorhanden, vollständig und unbeschädigt; die Haustüren stabil und modern und die Balkone und Terrassen in ordentlichem Zustand.

    Die Farben und die Details in den Gärten; der Beschnitt der Bäume und Sträucher, die um die Häuser herum standen, sowie die tadellos gepflegten Straßen und Wege rundeten das Gesamtbild ab.

    Sogar die Mülltonnen waren unsichtbar in kleinen Häuschen untergebracht.

    Dazu die mich überall umgebende Sauberkeit haute mich schon in den ersten Momenten meiner kleinen Ortsinspektion um.

    So hatte ich es im „Westfernsehen" gesehen und so war es auch, aber noch viel beeindruckender, denn der Bildausschnitt des Fernsehgerätes und die meist kurze Verweildauer des Bildes konnten den Gesamteindruck, der sich mir hier bot bei weitem nicht ersetzen.

    Eine andere Welt sozusagen und für die hier lebenden Menschen doch ganz normal.

    Wohnungssituation

    1974-1988 (Rückblende):

    Nach unglaublichem

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