Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Vogelheu: Roman
Vogelheu: Roman
Vogelheu: Roman
Ebook362 pages4 hours

Vogelheu: Roman

Rating: 3 out of 5 stars

3/5

()

Read preview

About this ebook

Jahrelang war der Rebberg neben dem elterlichen Wellness-Hotel das private Paradies von Flo. Hier, an der Seite von Großvater Schneck, dem geerdeten Weinbauern, Erfinder, Fabulierer, Charmeur, in der geborgenen Welt ihrer Kindheit, fühlt sich das Leben für das junge Mädchen richtig an - Wellness pur. Doch auch der Großvater kann die Zeit nicht anhalten: Als ein Brand sein Haus am Fuß des Rebbergs zerstört, ahnt Flo erstmals, was Abschiednehmen heißt - und dass für sie nun der Moment gekommen ist, in ihr eigenes Leben hinauszutreten.
Beeindruckend gelassen, mit liebevollem Blick für die vielen zauberhaften Details rund um uns und mit feiner Ironie erzählt Markus Ramseier Flos Geschichte: eine Geschichte von der Sehnsucht nach der vertrauten Welt der Kindheit und von der Suche nach dem eigenen Weg durch das Leben.
LanguageDeutsch
PublisherHaymon Verlag
Release dateJun 18, 2013
ISBN9783709976654
Vogelheu: Roman

Related to Vogelheu

Related ebooks

Literary Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Vogelheu

Rating: 3 out of 5 stars
3/5

1 rating0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Vogelheu - Markus Ramseier

    Verlag

    Zitat

    Hätten Sie den Mut, jenen wiederzusehen,

    der selbst so gern noch gelebt hätte –

    und Sie hätten ihm nichts zu erzählen?

    Peter Bichsel

    Prolog

    Zwischen den Rebstöcken steht eine Hütte – hoch über dem Fluss.

    Sie gehört meinem Großvater und heißt Paradies.

    Dort haben wir Geschichten erfunden

    und die Köpfe draußen in den Brunnen getaucht.

    Fang mich doch, hat Großvater Schneck gesagt,

    dann erzähl ich weiter.

    Was ich übers Leben weiß,

    habe ich von ihm.

    I

    Großvater steht im ersten Stock am offenen Fenster und rudert mit den Armen. Er wehrt sich gegen die beiden Feuerwehrmänner, die ihn packen. Es kann nichts Erns­tes sein. Keine lodernden Flammen. Keine stürzenden Balken. Eine Drehleiter ist aufs Badehaus gerichtet. Die Digitalanzeige meines Weckers blinkt. 5.33. Großvaters Fest liegt erst wenige Stunden zurück. Ich habe sein Lachen noch in den Ohren. Ein spitzbübisches Lachen für einen Siebzigjährigen. Zusammen haben wir das Fest­essen gekocht – geschnitten, gerührt, gewendet. Nein, nichts kann passieren.

    Im Trainingsanzug laufe ich durch den Park. Blaues Licht kreist. Männer in Schutzmasken geistern durch das Durcheinander der Schatten und Rauchschwaden. Ich spüre ein Kitzeln. Der Klang der Sirene verstärkt sich mit dem Wind.

    „Siehst du, was passiert ist?", die schrille Stimme einer Frau.

    „Es ist der Ostflügel. Ich gehe näher ran", ein Männer­bass.

    Großvater liegt jetzt festgeschnallt auf der Bahre, schmal und sehnig. Er trägt einzig eine Unterhose und ein weißes Leibchen und riecht nach verbranntem Haar. Am Ohrläppchen glitzert der goldene Stecker mit den Trauben, den Jana ihm geschenkt hat. „Nein, Sauerstoff brauche ich nicht", antwortet er einem Sanitäter.

    „Gehts, Großvater?"

    „Schön, bist du da, Flo, hab dich lang nicht mehr gesehen. Bist ja früh gegangen. Stell dir vor, ich hab nichts be­merkt und mitten im Qualm vom Fuchs geträumt."

    „Tuts weh?"

    „Ich bin ein bisschen verkohlt, Hundertsackzement, das Schicksal hat mir ein kleines Geburtstagsfeuerwerk beschert. In meinem alten Badehaus sieht es aus wie nach einem Luftangriff. Ausgerechnet jetzt, die Trauben sind fruchtig, fest, aber der Jahrgang könnte etwas nervig werden, ich hab gedacht …"

    Er hustet. Eine Fliege stochert im Blutrinnsal auf seiner Stirn.

    Du erinnerst mich. An mich, Großvater. Einst waren wir wie Zwillinge. Wenn wir pinkeln mussten, haben wir die Beine breitgemacht. Jetzt schieben sich meine Gedanken zwischen uns. Was ich nicht frage: Weißt du noch? Nur ein Wort und ich bin dort.

    Gaffer drängen sich auf die Eingangstreppe. Polizei und Feuerwehr blockieren die Zufahrtsstraße zum Hotel.

    „Bitte keine Panik!" Schneider, der Brandermittler und Kumpel vom Sportverein, stapft mit einem Kollegen im Schlepptau an mir vorbei, das Funkgerät an der Wange. Ein Fotograf blitzt in den Flammenbogen. Von der Fluh her ist ein Helikopter im Anflug. Scheinwerfer weisen ihn auf den Tennisplatz am Parkrand. Mutter kommt mit Vater im Schlepptau angelaufen. Sie wirkt gekränkt, weil man sie aus dem Schlaf gerissen hat, und weint wohl vor allem deswegen. Im Garten bezieht das Spurensicherungsteam Stellung. Mit Plastikband wird eine Absperrung ge­spannt.

    „Wie alt ist er?", fragt die schrille Frauenstimme.

    „Älter als die Alpenfaltung, antwortet Großvater und fasst sich an die Stirn. „Ein Urhelvetier. Ich habe Hunger. Eine große Schnitte, bitte. Mit Pflaumenkonfitüre.

    „Na dann, guten Appetit", sagt Schneider.

    Auf der Brücke taucht ein zweites Feuerwehrauto auf. Großvater antwortet mit einem heiseren Ta-tü-ta-tü und erfindet eine Art zweite Stimme, To-tu-to-tu, während der Fotograf ihn von allen Seiten ablichtet und der Helikopter zur Landung ansetzt. Ich spüre das Gras zwischen den Zehen, taunass, das Metall der Bahre am Schienbein. Der Wind schiebt Rauchballen über den Fluss.

    „Es stinkt höllisch", sagt ein junger Feuerwehrmann, Manuel, der Sohn des Kommandanten. Vor zwei Jahren habe ich von ihm meinen ersten Kuss erhalten – beim Herbsten, zuoberst im Rebberg.

    Eine Kellerscheibe zerspringt. Sternschnuppen stieben in alle Himmelsrichtungen. Ich höre Schussgeräusche.

    „Vielleicht bin ich ja bis Mittag wieder auf den Beinen, sagt Großvater, als ihn zwei Sanitäter hochheben, „sicher bin ich auf den Beinen. Ich brauche keinen Helikopter. Ei­nen Totenschein lass ich mir noch lange nicht ausstellen.

    „Eine reine Vorsichtsmaßnahme, sagt der vordere Sanitäter. „Entspannen Sie sich, genießen Sie den Flug.

    Großvater faltet resigniert die Hände. „Du fliegst doch mit, Flo?, fragt er. „So billig kommst du nie mehr in den Himmel. Und zum dickeren, gesprächigeren der beiden Sanitäter gewandt: „Sie ist meine Enkelin – und mein Stellvertreter. Sollte es mein Himmelsflug sein, wird sie mir eine kleine Abschiedsrede halten, oder? Das Leben eines kleinen Mannes ist ja schnell erzählt. Drei Minuten genügen für die Jahrzehnte zwischen dem Umspringen der Ampel von Grün auf Rot. Aber dem Pfarrer darf man das nicht überlassen. Sonst landet man nach dem dritten Satz beim Leiden und Auferstehen."

    Die Augen hält er jetzt geschlossen. Ich spüre seine Hand an meinem Knie, sehe einen Drachen vor mir auf­steigen – einen gelben Papierdrachen mit Großvaters Ge­sicht. Er sticht senkrecht in den Himmel und zieht einen flatternden Schwanz hinter sich her. Der Druck der Hand wird stärker. Ich fühle mich weder alt noch jung, weder weiblich noch männlich – undefinierbar und nicht ge­rüstet, für was auch immer.

    „Ich habe Schule, sage ich. „Übermorgen feiern wir das Abschlussfest.

    „Schule, schnaubt er. „Du bist noch nie geflogen, Flo, Fliegen ist reinste Physik! Richte dem Rektor einen Gruß aus von Großvater Schneck, wenn du zurück bist.

    Er bläst die Backen auf und intoniert perfekte Alphorntöne. Seine Augen werden feucht. Er dreht den Kopf von mir weg. „Ich habe vom Fuchs geträumt und nichts gesehen und gehört. Oder besser: Ich war zu spät. Ich ging in den Keller und hatte das Gefühl, ich sei blind."

    Die Sanitäter heben die Bahre hoch, stelzen mit Großvater durch den Park und schieben ihn in den Helikopter. Mutter zwängt sich daneben, doch Großvater winkt ab. „Flo kommt mit, sagt er. „Ich gehe nur, wenn mein Stellvertreter dabei ist.

    „Na dann, los!" Der dicke Sanitäter schubst mich auf einen Klappsitz und zieht die Schiebetür, während der Motor immer heller und höher dröhnt. Eine Erdfontäne spritzt auf. Der Hotelrasen ist überbelichtet. Zu Säulen erstarrt stehen die Gäste auf der Treppe oder gaffen in den Schlafanzügen aus den Fenstern. Zwei Frauen umarmen sich. Vater gestikuliert mit dem Polizeikommandanten. Das Badehaus sieht aus wie ein verrauchter Lehmhaufen. Auf dem Rebberg liegt ein Nebelstreifen. Für einen Moment steht der Helikopter über dem Hotel. Dann dreht er ab zur Fluh.

    Die Bahre quietscht. Es tönt wie das Kreischen von Katzen, die sich paaren. Großvater öffnet die Augen wieder. „Ich stand auf der Kellertreppe über den Flammen, Flo, ich hörte die Gläser explodieren, spürte, wie Rochus den Kopf zur Seite drehte. Das Feuer war nicht mehr aufzu­halten. Es wäre sinnlos gewesen, auf den Flammen herumzutrampeln. Der Rauch kam in schwarzen Wolken und verschlug mir die Stimme. Dem Papst erging es nicht besser vor Jahren. Er ließ sich ans Fenster schieben und brachte nicht einmal mehr ein Krächzen zustande für die Menge auf dem Petersplatz. Auf meinen Segen wartet zum Glück niemand draußen."

    Ein Hustenanfall stoppt ihn.

    „Schonen Sie Ihre Stimme, entspannen Sie sich, sagt der dicke Sanitäter, „seien Sie ganz still.

    Ein paar Rotorumdrehungen lang hält Großvater sich an den Appell. Der Helikopter zittert, als wäre er vom Fieber geschüttelt. Langsam füllt sich der Himmel mit Morgenblau. Ich möchte Großvater eine einzige Frage stellen. Sie hat nichts mit dem Brand zu tun. Am Fest dachte ich, der Moment sei gekommen, in der Küche, beim Rüsten. Ich wartete und wartete. Dann wars auf einmal zu spät. Zum ersten Mal spürte ich eine Art Heimweh nach früher. Ich bin froh, dass ich meinen alten Flohmarktschal um den Hals habe. In ihm halte ich mich am besten aus. Ich sehe die Kellertreppe vor mir, sehe Großvater Stufe um Stufe hinuntergehen, auf die Gläser zu, die in den Flammen explodieren. Wenige Stunden zuvor bin ich auch dort ge­standen mit dem Glas, das er mir geschenkt hat.

    „Was wünschst du dir zum Schulabschluss?, fragt er. „Einen Traktor? Wäre das nicht was für meinen Stellvertreter?

    „Aber nur ein roter."

    Unter meinen Füßen rumort es. Die Tannen an den Hängen sehen aus wie Teerpappe. Großvaters Stimme rattert mit den Rotorblättern um die Wette.

    „Ein großes Gehirn ist eine tolle Sache, Flo, aber man muss auch etwas damit anfangen können. Große Gehirne sind teuer. Jedes Gramm Gehirn verbraucht zehnmal so viel Energie wie ein Gramm vom Arm oder vom Oberschenkel. Starke Menschen benutzen das Gehirn vor allem, um ihre Feinde aufzukaufen oder um heimlich Abfall zu entsorgen. Man muss sich in sie hineinversetzen, um sie zu verstehen. Dazu musst du nicht die Pistole zücken. Du musst dir vorstellen, wo sie durchgelaufen sind und welche Gegenstände sie berührt haben. Die Spurensuche beginnt am Boden. Dort darfst du nie etwas verwischen. Das habe ich von Renée gelernt – und von den Schnecken." Wieder hustet er los, diesmal stärker.

    „Viele kriegen einen Wutanfall, wenn sie deinen Namen hören", sage ich. Wutanfall ist vielleicht übertrieben, wenn ich an mich denke. Ich empfinde schlicht nichts mehr für ihn. Fast nichts.

    „Ich weiß. Für die bin ich ein verbohrter Sektenbruder, ein Charakterlump. Ich bin zu wild im Geist, so ungestüm wie die Säure und das Tannin in meinem Wein. Schroffheit ist im Paradieswein gespeichert, Kälte und Hitze. Schade, dass Martin nicht ans Fest gekommen ist. Ich hätte deinem Vater einen guten Vorschlag gemacht. Es war auch so ein schöner Abend. Danke, dass du mir in der Küche geholfen hast. Ich wusste, dass du kommst. Und jetzt stehe ich mit abgeschnittenen Hosen da, besser, ich liege, im dümmsten Moment. Der Wein hält sich nicht an Arztvisiten. Es wird trotz alledem ein schöner Tropfen werden. Er wird seinem Namen Ehre antun und in den Kehlen versickern – der Pass ins Paradies. Ich lebe vom gleichen Boden wie die Trauben."

    Er fuchtelt mit den Händen. Der Wind schlägt an den Helikopter. Der Motor wirkt altersschwach. Wenn der Heli jetzt abstürzt? Ich kneife die Augen zusammen und meine ein Lächeln auf dem Gesicht des dicken Sanitäters zu erkennen.

    „Beim Wein gibt es nur einen Philosophen, Flo, den Kirchturm: So weit du den Kirchturm siehst, so weit darf der Tropfen her sein, den du am Abend trinkst. Wenn du im Piemont bist oder im Tessin, dann zählt der Kirchturm dort. Auf einem Flusskilometer kannst du hier Welten erschmecken."

    Ach, Großvater Schneck, deine Gedanken tanzen um­her wie Delphine im Meer. Die Anziehungskraft der Erde ist machtlos gegen dich. Ein Wimpernzucken genügt und der dicke Sanitäter verstummt.

    „Achtzig Prozent des Weins macht der Rebberg aus. Dort oben bin ich der erste Zöllner. Ich beschränke mich auf die Konzentration am Stock, das weißt du. Die vierzigjährigen Stöcke sind meine besten. Das weißt du auch. Zwei Wochen vor der Lese durchschneide ich die Fruchtrute. Jedem Jahrgang wohnt ein eigenes Gesetz inne. Wir liegen fünfzig Meter höher als die andern und reifen ein paar Tage später. Also haben wir noch etwas Zeit, nicht?"

    Der dicke Sanitäter hält Großvater die Hand auf den Mund. Er stößt sie kopfschüttelnd weg.

    „Das Paradies liegt auf einem mächtigen Schuttkegel. Der Berg gleicht einem nach Süden gerichteten Hohl­spiegel. Geschützt von der Fluh wird der Kessel zum Brutofen, wenn die Sonne einheizt. Trotzdem sind die Nächte kühl. Die Traube schrumpft nachts und pumpt sich tags wieder auf."

    Eine nasse Strähne rutscht ihm in die Stirn. Rußpartikel schwimmen seine Wangen hinunter.

    Ich sehe auf seinen Handrücken, auf die Sehnen, die den Handrücken durchziehen. Er hat keinen Ring an der Hand wie Mutter und Vater, er trägt eine Kette am Hals mit einer Muschel. Die Tröpfchen auf der Muschel sind so fein, dass sie schweben.

    „Wenn die Narbe an meinem kleinen Finger schmerzt, wechselt das Wetter", sagt er.

    „Schmerzt sie?"

    „Ja."

    Also hat Petrus keine Wahl. Morgen wird es regnen. Ich bohre meinen Daumennagel in die Haut. Ein kleiner Graben entsteht. Zwischen Großvater und mir gab es früher keinen Unterschied. Keiner verließ den andern. Keiner blieb zurück. Nur im Schlaf waren wir manchmal woanders. Der Schlaf kam bei mir von nirgendwoher. Er konnte hässlich sein.

    Großvater hat keine schlechten Träume. Er träumt von Füchsen. Einzig vor der Traubenlese bekommt er ver­quollene rote Augen. Zwei, drei Wochen lang findet er keine Bettruhe, nimmt die Angst ihn in den Schwitzkasten.

    „Die Schnecken sind im Vormarsch, Flo – die nackten natürlich, die roten Fresssäcke. Ihr Tempo ist mörderisch. Sie kommen bataillonsweise. In zehn, zwanzig Jahren sind sie überall. Diesen Sommer habe ich über dreißig Kilogramm aus den Reben genommen. Hinter dem Badehaus standen die Dahlien fast einen Meter hoch, doch nach ein paar warmen Regentagen sah es aus, als sei der Rasenmäher darüber gefahren. Alois’ Frau rückte ihnen mit der Langstielschere zu Leibe. Die Pfarrköchin kreuzigte und pfählte sie zur Abschreckung für ihre Artgenossen. Der Pfarrgarten war Kriegsgebiet. Ich setze auf die guten Lösungen, auf die Liebe, kündige mich mit Klopfgeräuschen an und versichere ihnen, dass ich in guter Absicht komme. Aber wenn ein einziges Nacktschneckenpaar bar jeder natürlichen Feinde 650.000 Nachkommen schafft, hat das seine Grenzen. Jetzt rasen sie bereits die Hauswände hinauf, wie vor zwei Jahren, als das Hochwasser kam. Die merken das. – Mein Grabstein ist auch bald bestellt, wenn das so weiterschüttelt und -schüttet. Du wirst …"

    „… Großvater, ich kann …"

    Ich rieche seinen Atem. Vergeblich versucht er sich aufzurichten. Die Gurten halten ihn zurück. Alles um mich herum vibriert. Ich bin dem Erbrechen nahe. „Ich vermisse die Reben, habe nicht gedacht, dass das so schnell geht, so rücksichtslos, sagt er, als der Heli endlich aufs Spitaldach schaukelt. „Vielleicht ist es das Alter – oder der Rauch. Ich muss mich erst gewöhnen. Es ist doch ein Irrsinn, so festgeschnallt zu werden, um nicht aus der Welt zu fallen. Ich bin ein einfacher Mensch, ich mache Wein, um glücklich zu sein.

    Der feste Boden unter den Füßen tut gut. Die beiden Sanitäter schieben Großvater zum Fahrstuhl. Im Liegen versucht er Haltung zu bewahren. „Du hast immer gesagt, jedes Mal, wenn du aus dem Haus gehst, ist das eine Reise, Großvater. Also ist das auch eine Reise."

    Lange Stille.

    „Ich dachte stets, man erfahre am meisten, wenn man dieselben Wege geht, Flo. Ich bin ein Jäger, ein Sammler, ich bringe all die Dinge, die ich erlege, mit nach Hause. Nun bin ich gespannt, wie sich das alles weiterentwickelt. Eigentlich bereue ich, dass ich gar nie etwas Schlimmes getan habe. Ich bin ja nicht halb so wild, wie viele meinen, bin doch zufrieden mit dem, was es hier auf der Erde gibt. Die Frage, was wäre, wenn, hat mich nie interessiert. Ich glaube an das irdische Paradies. Einer wie ich ist ja gerade­zu verpflichtet. Das himmlische Paradies, wie es andere schildern, scheint mir der langweiligere Ort – Harfenzupfen, öde Nachthemden-Mode. Vielleicht werden Männlein und Weiblein sogar auf verschiedene Wolken verbannt. Da ist die Hölle, wenn schon, spannender, etwas heiß, doch herrscht dort sicher eine tolle Stimmung."

    Er gibt mir die Hand. Der alte Klammergriff. „Wenn es mich dann mal wirklich über den Jordan jagt, dann komm ich nicht runter auf den Friedhof. Bei mir wird es heißen: Der Schneck hat sich für immer auf den Berg zurückgezogen. Bums, fertig, das ist die Todesanzeige. Und die Urne, die muss mein Stellvertreter im Krematorium in Empfang nehmen, ins Glas umschütten und unter der Bank an der Hüttenwand vergraben. Und dann ist Feier­abend."

    Links und rechts an seiner Nase entspringen die Falten wie Bächlein. So ist ständig ein leichtes Lächeln in seinem Gesicht.

    „Tagesformbedingt kann ich die Aufnahmezettel nicht ganz aus eigener Kraft ausfüllen, seufzt Großvater auf der Notfallstation. „Versicherungen waren nie mein großes Thema, so wenig wie Kreuzworträtsel. Ich helfe ihm, so gut es geht. Zwei, drei Lücken bleiben, wie auf den Prüfungsblättern in der Schule. „Geh rasch und ohne Schmerz, sagt er, „ich versteh, wenn du mich nicht verstehst, Flo, du siehst so verwundert aus. Dein Großvater liegt im Spital. Das ist keine Strafe, ein kleiner Überfall auf die Existenz. Sie sollen mir die Stirn verbinden, dann folg ich dir nach in einer Stunde oder zwei.

    Was mochte ich als Kind am liebsten? Seine Augen? Seine Pranken?

    Die Krankenschwester, die Großvater in Empfang nimmt, ist gut zurechtgemacht, jedes Haar aufgesteckt an seinem Platz, die Lippen mit Akribie gepinselt, die Skulptur des Körpers in reines Weiß verhüllt. „Wie gehts Ihnen denn?", fragt sie fröhlich.

    „Besser als auch schon", sagt er, offenbar entschlossen, seine Zunge zu hüten. Keine Scherze. Das ertragen sie hier nicht in diesen stillen Hallen.

    „Haben Sie Hunger?"

    „In meinem Alter hat man selten Hunger, aber eine Schnitte mit Pflaumenkonfitüre wäre nicht schlecht."

    „Wir melden uns, sobald wir Näheres wissen", sagt die Schwester und drückt mir einen Zettel mit der Telefonnummer des Spitals in die Hand.

    Großvater zwinkert mir zu. „Hoffentlich komm ich nicht in Einzelhaft. Da ich heute morgen nicht in der Lage bin, die Reben zu hüten, werden die Stare sich gnadenlos auf die Trauben stürzen. Recht haben sie natürlich. Sie hocken auf dem Hochspannungsmast und sehen sich an, wo die Hütemoral am schlechtesten ist. Dann fassen sie einen einstimmigen Beschluss und sausen los. Lass sie grüßen und sag ihnen, dass ich bald zurück bin. Die Schreckschusspistole ist geladen."

    „Machs gut, Großvater."

    „Ich bin ein Auslaufmodell, lacht er. „Es bleibt mir nichts übrig, als noch ein bisschen im Diesseits zu bleiben, oder? Ich bin zwar alt, es wird dunkel, doch Licht ist meine Lieblingsfarbe.

    Großvater, der Glücksprophet. Er hat noch immer zu­rückgefunden ins Licht. In Kürze wird er wieder von Stock zu Stock stiefeln. Die Trauben hängen prall und wollen ge­feiert werden. „Bis bald!", sage ich. Früher schlang ich die Arme um seinen Hals und spürte die Stacheln im Gesicht.

    Ich schlottere eine Viertelstunde vor der Haltestelle, bis der Bus kommt. Über Großvater ist etwas hereingebrochen. Hat es mit seinem Geburtstag zu tun? Mit seinen Frauen? Es wäre besser für dich, mit jemandem zusammenzuwohnen, hat Jana am Fest gesagt. Mit euch allen, hat er geantwortet. Ihr seid doch alle die richtigen. Nur zusammen können wir es miteinander aufnehmen. Dann begann ein Gespräch, an das ich mich nicht mehr genau erinnere. Am ehesten noch an die klebrigen Münder, nachdem das Stück Schwarzwäldertorte gegessen war und ich mich als Erste auf den Heimweg machte. Die anderen blieben. Fünf Stunden später brannte es. Das Fest war schön – nichts Unechtes, keine Entlarvungen, keine Haarspaltereien. Erst auf dem Heimweg fiel ich in ein Loch.

    Der Bus hält direkt vor dem Hoteleingang. Im Speisesaal sitzen die ersten Gäste beim Frühstücksbuffet. Die Erinnerung an den Brand ist schon fast aus ihren Gesichtern gelöscht. Nur am Stammtisch setzen zwei pensionierte Gaffer aus dem Dorf Gerüchte in die Welt, genüsslich ihren Kaffee schlürfend. Der Gemeindepräsident habe Großvater am Vortag zu einer Besprechung bestellt. Unbeholfen, schweigsam sei er gewesen, der Schneck. Bei allem Respekt: Den Himmel auf Erden könne auch er nicht haben. Nachher sei er am Engel vorbeigegangen, ohne sich einen Schluck zu gönnen. Das sei noch nie vorgekommen.

    An der Rezeption befragt Schneider Thomas. Der Nachtconcierge behandelt den Brandermittler so zuvorkommend, als erwarte er ein Trinkgeld von ihm.

    Im Treppenhaus und auf der Terrasse herrscht ein Kommen und Gehen.

    „Brandschutz beginnt im Kopf", schließt Schneider seine Befragung.

    Thomas klickt auf der Maus herum und murmelt leise Unverständliches vor sich hin, als ich auf ihn zugehe. Er ist unser Natürlich-sehr-gern, der für alle alles macht.

    „Du solltest längst im Bett sein, sage ich. „Ein Nachtportier schläft am Tag.

    „Man hält mich mit Gewalt davon ab."

    „Hast du drüben etwas gesehen?"

    „Nein."

    „Gehört?"

    „Nichts."

    „Du warst doch wach!"

    „Solche Dinge passieren leise."

    „Aber nicht ein Brand, hier, keine hundert Meter von der Rezeption."

    Er lacht.

    „Was gibt es da zu lachen?"

    „Ich lache ja gar nicht."

    Ich greife nach seinem Handgelenk – und greife ins Leere.

    „Du bist dafür bezahlt, dass du wach bleibst."

    „Außerhalb des Hotels bin ich für nichts verantwortlich."

    „Du kennst Großvater. Er raucht nicht und würde im Haus nie mit offenem Feuer hantieren."

    „Die Zahl der Brände nimmt zu, die Leute werden immer leichtsinniger. Schau dir die Brandflecken in den Hotelzimmern an. Jeder zweite Teppich ist angesengt. Bald brauchen wir auf jedem Stockwerk eine Sprinkleranlage. Wenn ich um mich blicke, glaube ich vor allem an Fahrlässigkeit und an Grobfahrlässigkeit."

    Trotz gespielt unverkrampfter Gesten täuscht Thomas mich nicht über seine Betrunkenheit hinweg. Wenn einer zum Zeitpunkt des Brandausbruchs ein brennendes Haus nicht von einer Adventskerze zu unterscheiden vermochte, dann er. Das hat ihn nicht daran gehindert, Schneiders Fragen rascher zu beantworten als alle andern. Der Nachtportier kennt die Gewohnheiten der Menschen. Er ist ein Meister im Wünscheablesen. Ich mag ihn mehr als sämtliche Gäste zusammen.

    „Hast du wenigstens gut geträumt?", frage ich.

    „Ich träume bei der Arbeit nie."

    „Auch nicht von einem Fuchs?"

    „Schon gar nicht von Füchsen!"

    „Reichst du mir rasch das Telefon?"

    Die Sekretärin auf dem Rektorat ist über den Brand informiert. Ich melde mich vom Unterricht ab und richte Großvaters Gruß aus. An diesem zweitletzten Schultag verpasse ich nichts außer aufgewärmten Anekdoten und Gelächter.

    Die Nacht ist weit weg, der Tag ohne Bedrohung. Im Foyer des Hotels versammeln sich die Sportlichen. Sie sind zappelig und suchen für ihre Erregtheit einen Grund. Das Schummerlicht der Leuchter bringt ihre Haut günstig zur Geltung. Goretex schützt gegen Schweiß und Regen. Die meisten sehen einander zum Verwechseln ähnlich, also kann man sie nicht verwechseln. So viel Verblüffung. So viel Glück.

    Bevor es eng wird, entgehe ich der Meute durch den Privatkorridor. Ich höre Vater und Mutter im Wohn­zimmer miteinander reden. Das Radio läuft. Ich meine das Wort Bau zu hören. Oder blau? Eine verirrte runde Dame in Leggings schnauft mit einem Lächeln an mir vorbei, ein Dampfer, der mich an die Wand drückt und eine süße Parfumwolke zurücklässt. „Zwei Minuten Strafbank", zische ich ihr nach. Das Parfum bleibt an mir hängen und zieht mich nach draußen an die frische Luft. Sofort habe ich Gänsehaut. Die Wolken steigen an den Hängen auf und verdunkeln die Reben, pflastern sie in ein diffuses Grau. Ich sehe Großvaters kleinen Finger vor mir, die Narbe. Es kommt, wie es kommt. Also wird es in Kürze regnen.

    Bald zehn. Zu Ehren der Gäste wehen die Flaggen aus halb Europa im Rondell vor dem Eingang, die Stars and Stripes und die blau-gold-rote Hotelfahne in der Mitte. Ein Konvoi von Motorrädern fährt dröhnend über die Brücke beim Badehaus.

    „Früher dachte ich immer, Motorräder sind etwas Progressives. Jetzt geht mir erst auf, wie spießig das alles ist, sagt Thomas, der sich von hinten an mich herangeschlichen hat. „Einzeln stelle ich mir die BMW- und Kawasaki-­Typen ja ganz menschlich vor, aber als Versammlung sind mir diese älteren Herren mit grauem Haar, Bauchansatz und schwarzem Leder unheimlich. Ich geh jetzt schlafen, Flo.

    Die Hagebutten am Straßenbord haben sich ins Tiefrote verfärbt. Das Badehaus raucht noch leicht. Der über hundertjährige Formbaukasten sah schon vor dem Brand nicht allzu vertrauenerweckend aus. Vielleicht fällt er im Laufe das Tages einfach in sich zusammen? Ein Schild warnt vor dem Betreten des Grundstücks. Früher gehörten Hotel und Park Großvater. Er hat Vater beides zu einem Spottpreis verkauft. Großvater war nie ein überzeugter Hotelier. Im Herzen war er immer Weinbauer. Das Badehaus am Parkrand gegen den Fluss hin behielt er, gegen Vaters Willen. Wenn der den Brand gelegt hat? Nein, Vater ist kein Brandstifter. Thomas hat Recht: Es braucht wenig, dass ein solches Haus Feuer fängt.

    Die Früchte am Pflaumenbaum beim Briefkasten schimmern in einem Violett, das zu Purpurrot tendiert. An einer Stelle sieht die Fassade aus wie vom Blitz ge­spalten, schwarz, schwer und düster. Sonst erkenne ich kaum Brandspuren. Ich pflücke mir eine Pflaume. Das Fruchtfleisch ist von einem satten Gelb. Die Frucht schmeckt überhaupt nicht nach Brand, sondern wie reife Pflaumen schmecken, doch sie sieht aus, als habe Groß­vater, der Erfinder, ein bisschen nachgeholfen. Wer sonst hat Pflaumen in der Form ausladender Frauengesäße im Garten? Arschpflaumen, wie Großvater mit schiefem, gleichmütigem Lächeln sagt. Der Baum füllt den Waschtrog im Keller jeden Herbst zwei-, dreimal und liefert eine Konfitüre, die dunkel nach Waldboden riecht.

    Um das Gebäude herum gehe ich zum Fluss. Die Schatten des Auenwalds reiben sich auf der schiefrigen Haut des Wassers. Am Ufer die kahlen Steinschädel, dazwischen Grasbüschel im letzten Saft. Den hinteren Kellereingang hat die Feuerwehr mit Brettern verriegelt. Auf dem Vorplatz liegen ein paar wenige geschwärzte Trümmer, wie angeschwemmtes Strandgut. Die Scheune am Rand des Wäldchens ist unversehrt geblieben. Davor thront der Spaltblock, auf dem Großvater stundenlang Holz für den Winter spaltet. Ich öffne das Scheunentor. Eine kindliche Freude durchfährt mich, dass ich nicht in der Schule bin. Wie lange war ich nicht mehr hier drin? Direkt hinter dem Tor lehnen die Fischerruten an der Wand. Die Hacken stehen neben den Rechen, die Rechen neben den Sensen, Schaufeln, Scheren. Im Spalt beim Fenstersims stecken die Messer. Die schlafen nicht gern, sagt Großvater. Daneben lagern die Zwiebeln in den Körben, die Kartoffeln in den Kisten. In einer Wanne liegt Großvaters abgeschabter Trainingsanzug auf einem Haufen Wurzelknollen. Die Scheune riecht, wie sie immer gerochen hat, nach Öl, Farbe und Erde. In den Ledertaschen des Mondia-Dreigangfahrrads hat Großvater den Proviant verstaut und all die Dinge, von denen wir nicht wollten, dass jemand um sie wusste, den Salzstreuer für die Maiskolben etwa. Über allem spannen sich die Schnüre, an denen Groß­vater einmal im Monat Wäsche aufhängt und im Spätsommer die Zwiebeln trocknet.

    Und mittendrin der Hürlimann: Rot steht der alte Traktor da und glänzt – mehr, als viele neue Wagen glänzen. Großvater bearbeitet ihn nach jeder Traubenlese mit seiner Spezialpolitur und einem Lederlappen. Er hat noch ein langes Leben vor sich, Flo, er wird noch in manche Pfütze schlittern. Nur

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1