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Schwarze Wasser: Roman
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Schwarze Wasser: Roman

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About this ebook

»Hör zu, Bruder, ich habe ein mulmiges Gefühl. Wir sind fünf - und kein Spitzel! Hältst du das für möglich? Und wenn dem so ist, welche Überraschung bereiten sie uns vor, die Drecksäcke, mit ihren zigtausend Akten? Schließlich versammeln sie uns nicht ohne Hintergedanken aus Wohlgefallen am Ufer der Schwarzen Wasser. Bestimmt nur, um uns durch einen Trick mit einem Stein um den Hals baden gehen zu lassen.«

Victor Serges ergreifender Roman über Revolution, Liebe und Verbannung, geschrieben 1936-38, liegt nun in der Übersetzung von Eva Moldenhauer erstmals auf Deutsch vor.
LanguageDeutsch
Release dateSep 19, 2014
ISBN9783858696380
Schwarze Wasser: Roman

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    Schwarze Wasser - Victor Serge

    Victor Serge

    Schwarze Wasser

    Victor Serge

    Schwarze Wasser

    Roman

    Aus dem Französischen

    von Eva Moldenhauer

    Die Originalausgabe ist 1939 unter dem Titel

    S’il est minuit dans le siècle bei den

    Éditions Grasset & Fasquelle erschienen.

    © 1939/2009 Éditions Grasset, Paris

    © 2014 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)

    www.rotpunktverlag.ch

    Umschlagbild: Éditions du Chêne

    ISBN: 978-3-85869-638-0

    1. Auflage 2014

    Inhalt

    Über dieses Buch

    Vorwort

    I Das Chaos

    II Die Schwarzen Wasser

    III Die Botschaften

    IV Die Direktiven

    V Der Anfang

    Über dieses Buch

    Michail Iwanowitsch Kostrow, Professor für »historischen Materialismus« in Moskau, wird wegen falscher Gesinnung verhaftet. Er durchläuft die verschiedenen Stationen des stalinistischen Repressionsapparats und landet schließlich in dem entlegenen Ort Schwarze Wasser im Ural in der Verbannung. Hier stößt Kostrow auf eine Gruppe von Oppositionellen, die wie er an die Revolution geglaubt haben.

    Wie Rodion, Jolkin, Galja, Warwara, Aveli, Ryschik sich unter trostlosesten Bedingungen eine menschliche Würde bewahren, wie sie gegen den Machtapparat und die Bürokratie Stalins opponieren, für ihre Überzeugungen kämpfen und einstehen, das hat Serge in diesem wunderbaren, atemlos geschriebenen Roman nachgezeichnet: eine Fiktion, aber genährt durch fürchterliche Realitäten, aus dichten Erfahrungs- und Erinnerungsbruchstücken der deportierten linken Opposition. Trotz der Hoffnungslosigkeit der Situation überdauern die Protagonisten dank einer menschlichen Wärme im Grauen der Denunziationen, dem Sternenhimmel, der Weite der Landschaft und der kurzen Liebe.

    Victor Serge gelingt eine ungeheuerliche Authentizität, er beschreibt in einer kraftvollen Sprache ein Kapitel finsterster Menschheitsgeschichte und erfindet einen Schluss, der dem Leben eine letzte Chance eröffnet.

    Vorwort

    Victor Serge, bürgerlich Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch, wurde am 30. Dezember 1890 in Brüssel geboren. Er hätte auch in London oder Paris zur Welt kommen können, je nach den Reisen seiner Eltern, die politische Emigranten waren. Sein Vater, ein russischer Offizier, der sich im Exil zum Arzt ausbilden ließ, war Sympathisant der anarchistischen Bewegung Narodnaja Wolja (»Volkes Wille« – die sogenannten Volkstümler). Seine Mutter stammte aus einer Familie des polnischen Kleinadels.

    Serge hat eine schwere, vom Elend geprägte Kindheit. Er kennt alle Entbehrungen. Mit fünfzehn Jahren wird er Fotografenlehrling, dann Bürogehilfe. Er ist bereits Mitglied der belgischen sozialistischen Jugendorganisation Jeunes Gardes. Zusammen mit einigen Genossen redigiert er ein Bulletin, Communiste. In Paris, wo er sich der anarchistischen Szene anschließt, wird er Mitarbeiter bei diversen Publikationen: beim Libertaire, bei der Guerre sociale. Für seinen Lebensunterhalt arbeitet er als Korrektor und Übersetzer.

    Es ist die Zeit der von Ravachol beeinflussten anarchistischen Banditen. Die Bonnot-Bande lässt die Bourgeois erzittern. Mit seiner Lebensgefährtin Rirette Maîtrejean gibt Serge die Zeitschrift L’Anarchie heraus. Er wird angeklagt und, obwohl unschuldig, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe, einer schmerzhaften Erfahrung, siedelt er 1917 nach Barcelona über, wo er den Namen Serge annimmt. An der Seite der Syndikalisten beteiligt er sich am Generalstreik im August.

    Als die russische Revolution ausbricht, kehrt er, im Wunsch, nach Russland zu gelangen, nach Frankreich zurück, muss jedoch, als »unliebsamer Ausländer«, noch zwei Jahre in einem französischen Konzentrationslager verbringen. Im Februar 1919 trifft er endlich in Petrograd ein. Er tritt den Bolschewiki bei, trotz seiner Vorbehalte gegenüber deren Vorgehen, und wird Mitglied der Exekutive der Kommunistischen Internationale. 1920 heiratet er Ljuba Russakowa, die aus einer jüdischen Familie stammt. Man betraut ihn mit der Herausgabe der Zeitschrift Die kommunistische Internationale. 1921 ist er in Berlin, um heimlich eine Edition der Internationalen Korrespondenz zu veröffentlichen. Die Bewegung wird zerschlagen. Serge begibt sich nach Wien. Er kritisiert das Vorgehen der Roten Armee gegen den Aufstand der Kronstädter Matrosen im Jahre 1921, bleibt aber bei den Bolschewiki, weil die Alternative dazu die Konterrevolution gewesen wäre. Die Haltung zu Kronstadt ist mit ein Grund seines Zerwürfnisses mit Trotzki.

    Nach Lenins Tod im Jahre 1924 beginnt er über seine Besorgnis angesichts der Politik des Regimes zu schreiben. Er kritisiert den Dirigismus, die Bürokratie, die polizeiliche Repression. 1927 wird er aus der Partei ausgeschlossen. Er wird festgenommen und nach vierzig Tagen Haft freigelassen, ohne die Möglichkeit zu arbeiten. Er darf das Land nicht verlassen und kann nur mit Mühe überleben. 1933 wird er ein zweites Mal verhaftet und deportiert. In Frankreich organisieren Romain Rolland, André Gide und André Malraux eine Kampagne für seine Befreiung. Nach einer Intervention Romain Rollands bei Stalin wird er freigelassen und kehrt mitten in der Euphorie der Volksfront nach Paris zurück. Er veröffentlicht Schicksal einer Revolution. Von Lenin zu Stalin (Destin d’une révolution – De Lénine à Staline) sowie einen Roman, Schwarze Wasser (S’il est minuit dans le siècle), den er zwischen 1936 und 1938 verfasst hat.

    Auf der Flucht vor der Gestapo und der GPU geht Serge 1940 nach Marseille, wo es ihm mit der Hilfe von Varian Fry gelingt, ein Einreisevisum nach Mexiko zu bekommen. Am 25. März 1941 besteigt er mit rund 350 weiteren Passagieren – unter ihnen André Breton, Wifredo Lam, Alfred Kantorowicz, Anna Seghers und Claude Levy-Strauss – die »Capitaine Paul Lemerle«, einen schäbigen, hoffnungslos überbelegten Frachter.

    In Mexiko gründet er die Zeitschrift Mundo, an der Anarchosyndikalisten und kommunistische Flüchtlinge mitarbeiten. Er schreibt Essays, Leo Trotzki. Leben und Tod (Vie et mort de Léon Trotsky), Portrait de Staline sowie Romane, unter anderem Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew (L’Affaire Toulaév), Les Derniers Temps. Er stirbt am 17. November 1947 an einem Herzanfall; Gerüchte, er sei vergiftet worden, konnten allerdings nie vollständig ausgeräumt werden.

    Schwarze Wasser wurde bei seinem Erscheinen mit Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus verglichen. Noch vor Koestler und Solschenizyn und noch bevor der Begriff des »Gulag« geprägt wurde, beschreibt Serge hier eine Maschinerie, die die Menschen physisch und seelisch zerstört. Noch nie hatte Stalins Russland einen inspirierteren, schonungsloseren Denunzianten gesehen.

    In diesem Flecken im Norden, den Schwarzen Wassern, leben und leiden die Gegner des Regimes, zusammengedrängt und schlecht behandelt, und sterben in der Anonymität. Serge, der einer von ihnen war, hat ihnen wieder Namen gegeben: Ryschik, Rodion, Jolkin, Galja, Warwara, Aveli und viele andere.

    In der Übersetzung von Eva Moldenhauer liegt Victor Serges Roman über Revolution, Liebe und Denunziation, mehr als siebzig Jahre nach seinem Erscheinen, nun erstmals auf Deutsch vor.

    Rotpunktverlag, im August 2014

    Foto: Corbis

    Victor Serge, 1890–1947

    Dieses Buch widme ich

    Kurt Landau, Andrés Nin, Erwin Wolf,

    die in Barcelona verschwunden sind

    und deren Tod uns sogar geraubt wurde,

    Joaquín Maurín,

    in einem spanischen Gefängnis,

    Juan Andrade, Julian Gorkin,

    Katia Landau, Olga Nin

    und mit ihnen all jenen,

    deren Tapferkeit sie verkörpern.

    I

    Das Chaos

    Michail Iwanowitsch Kostrow, in keiner Weise abergläubisch, spürte in seinem Leben die Dinge auf sich zukommen; sie kündigten sich durch kaum wahrnehmbare Zeichen an. Zum Beispiel seine Verhaftung. Da hatte es den eigenartigen Tonfall des Rektors gegeben, als er zu ihm sagte:

    »Michail Iwanowitsch, ich habe beschlossen, Ihre Vorlesung vorübergehend auszusetzen … Sie sind gerade beim Direktorium, nicht wahr?« Angst, natürlich, vor den Anspielungen auf die neue politische Wende. »Bereiten Sie mir doch«, fuhr der Rektor fort, »eine ganz kurze Vorlesung über Griechenland vor …«

    Eine Zeitverschiebung von etwa zweitausend Jahren. Hier spürte Kostrow, dass er einen Fehler machte, aber er beging ihn fröhlich, um des Vergnügens willen, den Rektor ein wenig zu beunruhigen, diesen fest im Sattel sitzenden Hasenfuß, der immer eine besondere Stimme bekam, wenn er mit dem Sekretariat des Komitees telefonierte.

    »Ausgezeichnete Idee«, antwortete er. »Schon seit Langem habe ich eine Reihe von Vorträgen über die Klassenkämpfe in der antiken Polis im Kopf … Da ist Raum für eine ganz neue Theorie der Tyrannei.«

    Der Rektor mied seinen Blick, den Kopf über seine Papiere gebeugt. Sein kahler Scheitel glich einer Tonsur.

    »Aber nicht allzu viele neue Theorien«, murmelte er zwischen seinen dicken Lippen. »Auf Wiedersehen.«

    Und in dem Moment, als Michail Iwanowitsch die Tonsur bemerkte, spürte er, wie er Ereignissen entgegensteuerte …

    Er verließ den Raum in der festen Überzeugung: »Jemand hat mich denunziert. Wer?« Dann tauchte in seinem Gedächtnis das Bild einer gedrungenen kleinen Frau mit etwas starkem Busen auf, in ihren Regenmantel aus den Armeeläden gezwängt. Niedrige Stirn, breiter Mund, kalter Blick, im ganzen Gesicht etwas von einem Nagetier – er mochte sie nicht. In ihrer Hand die Aktentasche der Aktivistin, ganz bestimmt bereits mit wichtigen Papieren vollgestopft. Thesen vom Rayonskomitee für die Agitatoren, Liste der Aktivisten und so weiter … »Genosse Professor, was die linken Thermidorianer betrifft, waren Sie nicht sehr klar … oder ich habe Ihren Gedankengang nicht verstanden … Es waren, sagten Sie, ich habe es notiert, schlechte Thermidorianer, die, indem sie Barras und Tallien unterstützten, auf ihren eigenen Untergang hinarbeiteten … Ich begreife den Unterschied nicht ganz, den Sie zwischen guten und schlechten Thermidorianern machen …« Du kleine Kanaille, du überwachst mich, du bist es, die mich denunziert … In diesem Augenblick kam sie aus dem Büro des Diamat – des dialektischen Materialismus –, die Aktentasche vor sich hertragend und diesen schauderhaften Busen, während sie sehr laut redete mit ihrer leicht rauen Stimme, die wie geschaffen war für die Tribünen aus schlecht gehobelten Brettern mit den roten Transparenten … Natürlich sprach sie von der Wandzeitung.

    »Das ist nicht erlaubt«, sagte sie gebieterisch, »es ist sogar inakzeptabel! Das Redaktionskomitee …« Beim Wort inakzeptabel bestand für Kostrow kein Zweifel mehr. Denunziantin. Er ging schneller, um sie nicht grüßen zu müssen, sie aber grüßte ihn beschwingt, und hinter ihr zeigte sich der Lockenkopf von Irina, einer kleinen Syrjanin aus dem Hochland der Kama, die er reizend fand mit ihrem glatten Gesicht, ihren großen Augen, ihren hervortretenden Wangenknochen und ihren schmalen Lippen, wie von einem Miniaturmaler aus dem Zeitalter des Rentiers gezeichnet … »Na«, fragte er sie, »klappt es mit Ihrer Dissertation, Genossin?« Sie nickte mehrmals, ernsthaft und munter: munter nur in der Tiefe ihrer Augen: jene winzigen Goldkörner in der Ferne wie auf dem Grund des Wassers. Sie sprachen einen kurzen Moment, dann wurden sie von einer Flut Studenten getrennt, denn es schlug elf.

    Am Abend bei Tisch, Ganna saß gegenüber, zwischen ihnen Tamarotschka hoch auf ihrem Stuhl mit der bemalten Rückenlehne, fragte er:

    »Und was würdest du sagen, Ganna, wenn man mich verhaftete?«

    Ganna hörte nicht auf, der Kleinen den Teller zu füllen. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen, ihre Schildpattbrille schien ein wenig verrutscht zu sein, als sie schlicht sagte:

    »Glaubst du wirklich?«

    Die Kleine lauschte, eine Maus auf der Lauer. Heutzutage ist es unerlässlich, dass die Kinder verstehen. Dass die Kinder wissen. Sie vorzubereiten, ist besser, als sie endlos zu belügen. Vor vierzehn Tagen erst hat man Wanil Wanilitsch von unten verhaftet, und seine Swetlana, der man gesagt hatte: »Weißt du, Papa ist nach Leningrad gefahren, in die Akademie der Wissenschaften«, hat sich schließlich beklagt, dass sie getäuscht werde. »Aber ich weiß, dass Papa im Gefängnis ist, ich weiß es, ich weiß es! Und ich bin traurig, dass Papa im Gefängnis ist, aber warum lügt ihr alle?« Der Jude aus dem dritten Stock war im Gefängnis. Der Schwager von Marussia ebenfalls. Swetlana, sieben Jahre, sagte zu Tamarotschka, sechs Jahre: »Und ich habe gesehen, wie man einen Mann erschossen hat: er kam immer zu meiner Tante, er hatte eine große Nase, er war hässlich, ich bin froh, dass man ihn erschossen hat.« Ihr Großvater schimpfte mit ihr: »Swetlana, so redet man nicht, man muss an den Schmerz der andern denken.« (Ein alter Schwätzer, dieser Großvater, der insgeheim mit der Sekte der Tschurikowzy sympathisierte). Die schmollende Swetlana blieb dabei, schaute von unten auf seine große gewölbte Stirn: »Und ich, Großvater, ich sage, er ist hässlich, und es geschieht ihm recht, dass man ihn erschossen hat …« Sie hüpfte auf einem Fuß und wiederholte: »Es geschieht ihm recht.« Erst als sie sah, dass Großvaters Augen feucht wurden und seine Lippen leicht zu zittern begannen, merkte sie, dass er sie liebte und dass er schwach war. Tamarotschka beobachtete dieses Treiben, lauschte allem. Wie er sie liebt, der Großvater, und wie sie ihn quält! Wie böse du bist, Swetlana!, dachte sie. Und sie hüpfte zur Seite, klopfte Swetlana auf die Schulter und flüchtete hinter die Bank, damit sie ihr nachlief … Und dann betrachtete Großvater die kerzengerade, sich aus grauem Stein vom bleichen Himmel abhebende ausgemergelte Gestalt eines hageren, strengen Mannes. So gerade. So hart. So schön. Der Inquisitor. Großvater seufzte. Dabei war es nur der Naturforscher Timirjasew, denn die Kinder gingen frische Luft schnappen auf dem Twerskoi-Boulevard an der Kreuzung der Malaja Nikitskaja. Dort, in dieser ruhigen Straße, eine banale weiße Kirche: Hier hatte vor hundert Jahren Puschkin geheiratet:

    Kein Glück hienieden, doch Ruhe und freier Wille.

    Großvater liebte diesen Vers, er, der weder Ruhe noch freien Willen gekannt hatte. Wie Puschkin selbst. Wie fast alle Menschen hienieden. Aber dieser Vers barg eine Harmonie, eine wunderbare Lüge. Nein: eine jenseitige Wahrheit. Wahrer als die Wahrheit, höher. Ruhe und freier Wille existieren nicht; sie beherrschen alles; unerreichbar und erhaben, real und irreal. Niemand kann es verstehen, niemand … Der Kirche gegenüber eine niedrige kleine Villa, umgeben von einem Gitter und einem Bretterzaun gegen die Indiskretion. Hier lebte Maxim Gorki. Der brauchte nichts. Weder Ruhe noch Glück noch freien Willen! Unerbittlich schrieb er süßliche und empörende, fast seelenlose Dinge … Vielleicht litt er darunter, denn man muss doch leiden, wenn man an der Schwelle des Todes so wenig Seele in sich spürt. »Ich würde ja für dich beten, Alexei Maximowitsch«, dachte Großvater, »aber deine Schriften nehmen mir die Lust dazu …« Das ganze Universum, noch sehr viel größer, viel komplizierter, lag in diesem Augenblick in der Seele von Tamarotschka, sechs Jahre, einer kleinen Maus auf der Lauer, die mit weit offenen Augen bei Tisch etwas knabberte. Über ihren Kopf hinweg erforschten der Mann und die Frau ihre Zukunft.

    »Glaubst du wirklich?«, wiederholte Ganna.

    Kostrow merkte, dass er es wusste. Vorahnung, Vorgefühl sind Wörter von Unwissenden, die genau besagen, was sie sagen. Man addiert eine Fülle unterbewusster Beobachtungen und Berechnungen, und heraus kommt plötzlich eine sicherlich nicht ganz rationale, jedoch völlig zutreffende Gewissheit.

    »Natürlich. In den letzten sechs Wochen hatten wir in Moskau immerhin dreihundert Festnahmen, denk daran. Lauter Männer meiner Generation, Aktive des Bürgerkriegs, Oppositionelle von 26–27, die sich alle arrangiert hatten, um Ruhe zu haben …«

    Ganna dachte nach, Ganna, die erstaunlicherweise einem fleißigen kleinen Mädchen glich mit ihren rosigen Wangen, einer leichten Stupsnase, straff zurückgekämmtem Haar. Sogar im Bett zur Stunde der Zärtlichkeit wollte er, dass sie ihre Schildpattbrille aufbehielt, weil das ihrem Kindergesicht einen amüsanten Ernst verlieh. Dann errötete sie reizend. »Nein, erlaube mir, sie abzunehmen, sie stört mich …« Das Lachen des Mannes schockierte sie, sie wurde puterrot, und Michail wiederholte: »Ich verbiete es dir, Liebste, Liebste …«, während er sich nackt über sie beugte. Er mochte sie, er wusste nicht genau, ob er sie liebte. So lebt man, unwissend.

    »Wenn man dich verhaftet«, fragte sie, »meinst du nicht, dass man mich dann in die Statistik abschiebt?«

    Möglich, in der Tat.

    »Du verkaufst das Sofa … Und meinen braunen Anzug …«

    Sie lachten. Dieses Sofa, dieser braune Anzug als letzte Rettung! Sie waren bereit. Am übernächsten Tag wurde er verhaftet. Ganz einfach auf der Straße, vor der Trambahnhaltestelle. Ein Typ tauchte neben ihm auf dem Trottoir auf, der im selben Schritt ging wie er und schräg auf ihn zukam. Schäbige Mütze und schäbiger Mantel, das junge Gesicht eines ungebildeten Menschen. »Genosse Kostrow, ich bitte Sie, mich zu begleiten …«

    »Ich weiß, ich weiß«, sagte Michail Iwanowitsch, fast erleichtert. Der andere wunderte sich über nichts. »Hier entlang.« Sie betraten einen Hof mit schadhaftem Pflaster. Er war voller Pfützen, und ein über und über mit Schlamm bespritztes Auto parkte vor einer offenen Tür, hinter der ein dunkler Flur lag … Den Kellern entstieg ein fader Fäulnisgeruch. Kostrow watete durch eine Pfütze, ärgerte sich über den Gedanken, dass der Saum seiner Hose dreckig würde, und ärgerte sich noch mehr, als er merkte, dass er an etwas so Törichtes dachte. Der Typ öffnete ihm die Wagentür.

    »Steigen Sie ein, Bürger.«

    Das Komitee der Wohnungsgenossenschaft bittet die Mieter, die mit ihrer Miete in Rückstand sind … unter Strafe eines Vermerks auf dem schwarzen Brett … Wohnungsgenossenschaft Nr. 6767, Lenin lebt ewig. Kostrow las diese auf dem bröckelnden Gips angeschlagenen Zeilen … Ewig! Idiotenbande! Das Auto holperte durch die Pfützen, bog unter dem panischen Bimmeln der Trambahn ab, brauste auf den viereckigen, massiven Turm aus rotem Backstein des Dreifaltigkeitstors zu, raste an den Zinnen des Kremls und der hohen weißen Kolonnade des Bolschoi-Theaters vorbei, wurde langsamer unter einem riesigen Porträt des Chefs, das die gesamte Fassade eines im Bau befindlichen Kaufhauses bedeckte, blieb abrupt auf dem Dserschinski-Platz in Höhe einer Tür stehen, die ebenso wie eine andere von einem Grenadier mit einer Art spitzem Helm aus Stoff bewacht wurde. Über dieser Tür lächelte ein Gesicht aus oxidierter Bronze böse in seinen Bart. »Grüß dich, Marx!«, sagte Kostrow zu sich selbst. »Irritiert dich dieses Bajonett? Du tust gut daran, dich nicht unter uns zu zeigen, sogar du müsstest durch diese Tür gehen, alter Bruder, und wärst schnell bedient …« Nur kindische Gedanken schossen ihm kreuz und quer durch den Kopf, den ein kalter Wind durchpustete. Aber keine Angst: eine Art Erleichterung, eine Art Spottlust …

    Dann versank er in der Langeweile eines sinnlosen langen Wartens in einem leeren Büro; von dort aus wurde er mit einem Aufzug in einen banalen Raum des Chaos hinuntergebracht; vom Chaos stieg er in aller Ruhe wieder an die Oberfläche der Stille; und dann kamen diese Herzschmerzen. So dreht sich auf der andern Seite der Tür ein Schlüssel in einem Schloss, und hinter dieser Tür liegt ein weites unbekanntes Land der Trostlosigkeit. Nachsichtig mit sich selbst hätte Kostrow zu einem anderen gesagt: »Wissen Sie, mir macht es nichts aus, im Loch zu sitzen. Ich habe schon ganz anderes erlebt. Zum Beispiel in Lusów, in Polen, 1920, haben mich die Gendarmen bei einer Razzia von Verdächtigen mitgenommen, also da, mein Freund, da wurde es mir mulmig. Hätten die sich meinen tschechischen Pass ein bisschen näher angesehen, dann wäre ich mindestens gehängt worden. Und 21 eine andere Geschichte in Tiflis, natürlich weniger gefährlich, da die georgischen Sozialdemokraten sehr gut unterrichtet waren. Noah Agaschwili hat mich vorher im Gefängnis von Metek aufgesucht, wir hatten uns in Paris kennengelernt. ›Eure Revolte?‹, sagte er. ›Aber, mein Lieber, ich ziehe doch die Fäden. Ich bringe dich bloß in Sicherheit, in deinem eigenen Interesse. Willst du eine Partie Schach mit mir spielen?‹ Dazu muss ich sagen, dass Agaschwili nie das Matt vergessen hat, das ich ihm nach dem Juliaufstand in Petersburg angetan hatte, wo wir an der Ecke der Millionnaja gegeneinander kämpften. Ich selbst habe ihn kurz nach der Sowjetisierung verhaftet; er muss jetzt nach Usbekistan deportiert worden sein … Dann 24 in Rustschuk, in Bulgarien, ein schlimmer Augenblick … Und 28 in Moskau, aber damals hatte ich gute ideologische Diskussionen mit meinem Untersuchungsrichter. Nicht ohne Folgen, denn es ist ihm schlecht ergangen oder vielmehr gut: Er befindet sich auf den Solowezki-Inseln, fünf Jahre, five years, Sir, wegen Linksabweichung …

    Hier fühle ich mich immerhin im Familienkreis, zu Hause. Man buchtet uns ein, die Politik will es so. Das Einlagern des Getreides rückt näher, natürlich wird es ein Fiasko, die Kontrollzahlen der Plankommission zeigen es zur Genüge. Also hat man Angst vor uns, obwohl wir geschwiegen haben …«

    Das Chaos war eine rechteckige Gemeinschaftszelle mit sechs Liegen und dreißig Gefangenen. Der Atemdunst rann die Wände herab, der Tabakrauch war so dicht, dass man sich in einer erstickenden Wolke bewegte. Es war sehr warm, die Haut war immer feucht, man litt unter Migräne, Übelkeit. Ständig musste sich irgendjemand übergeben, man pisste und schiss in den Kübel, und die Neuankömmlinge, die hier einquartiert wurden, mussten inmitten des Gestanks und der ekligen organischen Geräusche leben. Man schlief auf und unter den Betten; indem alle, kauernd oder stehend, zusammenrückten, hielt man einvernehmlich entlang der hinteren Wand einen schmalen, Boulevard genannten Raum frei. So konnte reihum jeder ein wenig herumgehen. Abends spielte irgendwo, mehrere Stockwerke weiter oben, die übereinanderliegende, abgekapselte Welten waren, eine Blaskapelle mitreißende Melodien, um im Club des 4. Sonderbataillons Burschen in Uniform und Blondinen, Brünette oder Rothaarige, ja, sogar Rothaarige, tanzen zu lassen, viel zu stark gepuderte Mädchen, deren Schultern mit jenen hübschen auffallenden Schals bedeckt waren, die für einundzwanzig Rubel in der Genossenschaft der Politischen Abteilung verkauft wurden. Ein Gespenst mit Spitzbart erzählte, im Nebel des Chaos stehend, er habe solche Schals weiterverkauft, »und da oben wackeln sie mit den Hüften, diese kleinen Huren, und ich bin hier wegen sechs Schals, ah, wenn so das Leben ist, Scheiße«, der Fluch tropfte aus seinem Mund, die Blechinstrumente gerieten in Ekstase. Dreißig Gespenster mit vom Reglement gedämpfter Stimme, die es schafften, zusammengepfercht zu leben, sich zu kratzen, ohne den Nachbarn allzu sehr zu stören, das lauwarme Wasser, das Schwarzbrot und winzige Zuckerstücke gerecht zu teilen, die Zeit totzuschlagen, die Angst totzuschlagen. Man könnte eine ziemlich vollständige Liste möglicher – niederträchtiger und ehrenhafter, eingebildeter, fiktiver, realer und unvorstellbarer – Verbrechen aufstellen, wenn man ihre Geschichten festhalten würde, die sie im Übrigen aus Angst vor Spitzeln nur hauchend erzählten.

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