Venezuela: Roman
By Jochen Jung
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Es stellen sich dem Ich-Erzähler, der von seinem Vater und dessen Vater erzählt, entscheidende Fragen: Was tun in einer Zeit, die Haltung verlangt, wenn man wenig hat, dafür aber Sehnsucht und die Begabung, ganz im Augenblick aufzugehen? Was geschieht, wenn man sich der Welt nicht mit Prinzipien nähert, sondern sich einfach überwältigen, davontreiben lässt? Die Reise, auf die Jochen Jung seinen Protagonisten in einer kühnen Mischung aus Dichtung und Wahrheit schickt, ist voller überraschender Wendungen (und Einsichten), sie führt um die halbe Welt - und mitten ins Zentrum der eigenen Existenz.
Jochen Jung
Geboren 1942 in Frankfurt am Main, lebt seit 1975 in Salzburg.
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Venezuela - Jochen Jung
www.haymonverlag.at.
1
Mein Vater war ein Nazi, kein Zweifel. Er stand immer daneben.
Kein Zweifel, auch wenn ich keine Beweise habe, aber es gibt hier ja auch nichts zu beweisen. Denn die Briefe, die er meiner Mutter schrieb und die ich kenne, sind Briefe eines Familienvaters an seine Frau, die mit ihren beiden Kindern den Mut nicht verlieren sollte. Und Mut, fand mein Vater, konnte unter den gegebenen Umständen nicht er machen, sondern nur der Führer. Also schrieb er, was er in seinen Briefen schrieb, und fügte am Ende, knapp vor dem Heil Hitler, etwas in der Art hinzu, daß der Führer es schon richten werde. Es und die Feinde.
Meine Mutter war jedesmal ein wenig beleidigt, daß er ihr zumutete, so etwas in seinen Briefen zu lesen. Erst war sie beleidigt, zuletzt war sie nur noch enttäuscht, und vielleicht wußte damals selbst sie eine Zeitlang nicht mehr, ob von ihrem Mann oder vom Führer.
Sie hatte in den drei Jahren ihrer Ehe sehr rasch das Gefühl gehabt, ihren Mann so gut zu kennen wie er sie. Und mußte schließlich, ungern, feststellen, daß sie ihn weitaus besser kannte. Sie behauptete jedenfalls immer, alles längst geahnt zu haben. Und da mein Vater damals, wie sie annahm, auf dem Fliegerhorst saß und sie mittlerweile im Dorf ihres Vaters, ließ sich das auch nicht mehr nachprüfen. Sie sah es so, seit sie ihn kaum noch sah, und sie glaubte es, vielleicht weil es sonst für sie kaum noch etwas widerspruchslos zu glauben gab.
Im übrigen habe ich das Verhältnis meiner Eltern zueinander nie ganz verstanden, geschweige denn durchschaut. Es hat zwischen beiden vermutlich nicht mehr Mißhelligkeiten und Streit gegeben als eheüblich, und sowohl mein Vater als auch meine Mutter schienen ebenso froh zu sein, wenn sie sich eine Weile nicht sahen, wie wenn sie sich nach einer weiteren Weile wiedersahen. Trennung und Wiedersehen waren offenbar gleichermaßen angenehm und der Grund dafür beiden nicht wichtig.
Meine Mutter war übrigens – irgend jemand hatte einmal gesagt: aus Paritätsgründen – eine wirklich schöne Frau, dafür allerdings weniger begabt für das, was man damals ein trautes Heim nannte. Wie auch immer, als mein Vater seinen Einberufungsbefehl erhielt, machten die beiden, gleichsam unter dem Siegel des Patriotismus, die beste Flasche auf, die sie in ihrem kleinen Keller hatten, und tranken auf ein baldiges, also siegreiches Ende des Krieges und, da sich der Führer damit noch ein wenig Zeit zu lassen schien, auch auf den ersten Heimaturlaub des jungen Ehemanns.
Mein Vater war ein Nazi und Gynäkologe. Er hat seinen Beruf etliche Jahre und noch über Kriegsbeginn hinaus in Hamburg ausgeübt. Dann kam er nach Brandenburg, auf den Fliegerhorst, 1941. Dort gab es sozusagen keine Frauen. Eine einzige Patientin hatte mein Vater allerdings: die Frau des Generals, die einzige Offiziersfrau, die auf dem Horst wohnte. Die angestellten Frauen, Reinigungspersonal, Helferinnen, Sekretärinnen, waren dem Frauenarzt in der Stadt zugewiesen. Die Frauen der Piloten und anderen Offiziere kamen nur besuchsweise, und das zunehmend selten. Die Frau des Generals aber war immer da, wohnte im Horst und hatte dort ihre Tage. Und ihre Beschwerden. Dafür wiederum – aber nicht nur dafür – war mein Vater da.
Mein Vater diente also als Stabsarzt auf einem Fliegerhorst der Wehrmacht, weil die Frau seines Generals es so wollte. Sie hatte ihn gleichsam für sich entdeckt, als sie ihn wenige Wochen zuvor auf einem Fliegerabend in Berlin gesehen und zu seiner grenzenlosen Überraschung mit ihm geschlafen hatte. Sie brachte tatsächlich ihren Mann dazu, den offiziellen Antrag für die Versetzung eines Gynäkologen in den militärischen Bereich zu stellen, und ihr Mann oder sie (oder mein Vater) hatten damit auch Erfolg. Zum einen, weil das gelang, obwohl Ärzte in diesen Jahren zunehmend schwerer zu verpflichten waren, nachdem zahlreiche mit der Truppe in Frontnähe gerückt waren und dort einen häßlichen Heldentod gefunden hatten, zum anderen, weil mein Vater, der wenig Lust auf ein ähnliches Schicksal hatte, nach Absprache mit dem General gleichzeitig als stationärer Gynäkologe und Facharzt für männliche Geschlechtskrankheiten ausgegeben wurde (letzteres ein Gebiet, von dem er zunächst wenig genug wußte). Für mich, hatte der General gesagt, sind Sie Facharzt für unten. In der Tat hatte mein Vater alsbald reichlich Besuch von Soldaten, die aufgrund ihres Leidensdrucks die Grenzen medizinischer Fachausbildung kaum erkennen wollten und meinem Vater ihre teilweise recht ramponierten Schwänze ohne besondere Hemmungen vorführten. Was er bisher nicht gewußt, ja nicht einmal geahnt hatte, lernte er auf diese Art sehr rasch.
Noch etwas kam hinzu, und das war der Name meines Vaters: Alfredo Guzman. Sein Vater wiederum, mein Großvater also, stammte aus Puerto Cabello in Venezuela – was man dem kleingewachsenen Mann auf den wenigen Fotos, die die Familie von ihm hatte, auch ansah – und war als ehrgeiziger Händler von Südfrüchten, einem damals gerade aufblühenden Geschäft, nach dreiwöchiger Reise auf einem Apfelsinendampfer frierend in Hamburg angekommen, hatte dort eine junge Frau geehelicht, die die schöne Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten von Saitlingen war und deren sohnloser Vater, glücklich über den tüchtigen Schwiegersohn, diesen dazu brachte, Südfrüchte gegen Wursthäute zu tauschen und sich in Hamburg niederzulassen.
Bereits nach einem Jahr verschwand dieser hoffnungsvolle Nachfolger spurlos, ließ seine hochschwangere Frau in ihrem Blankeneser Eigenheim – einem Hochzeitsgeschenk ihres Vaters – allein zurück, um nicht zu sagen sitzen, und wurde nicht wieder gesehen. Das heißt, in Puerto Cabello vermutlich schon, aber der Saitlingfabrikant gab seine Nachforschungen mangels Ergebnissen, aber auch weil er seine Tochter nicht zwangsweise verehelicht sehen wollte, bald auf, und meine Großmutter beschränkte sich darauf, meinem Vater den Namen des immer noch geliebten Verschollenen zu geben, Alfredo eben, was ihm, der überhaupt ein eher schüchterner Knabe gewesen ist, das Leben nicht unbedingt leichter gemacht hat.
Später hat er übrigens zeitweise und eher halbherzig auf das o des Vornamens zu verzichten versucht, aber irgendwer in seiner Umgebung wußte immer schon von diesem o und hängte es ihm wieder an; Überlegungen, auch den Nachnamen zu ändern, gab er sofort wieder auf, nachdem ihm als allererstes nichts Besseres als Gutsherr eingefallen war. Eines immerhin hatte Guzman senior seinem Sohn hinterlassen: die richtigen Papiere. Für seine Hochzeit und die knapp darauf geplante Einbürgerung hatte er sich und auch seine lieben Eltern und Großeltern als katholisch und spanischen Bluts in wenigstens drei Generationen belegt, womit für meinen Vater der Ariernachweis problemlos wurde. Um so besser, denn schließlich hatten ihm seine Vorfahren Gesichtszüge hinterlassen, die nicht so waren wie die der meisten, die da auf den reichsdeutschen Straßen herumliefen. Auch seine Hautfarbe war nicht von jener Blässe, die man von Ariern erwartete. Und nicht zuletzt war mein Vater schön. Nicht hübsch, nicht gutaussehend, sondern schön, ungeachtet seiner ungewöhnlich abstehenden Ohren. Hieß Alfredo Guzman, Gynäkologe im Dienste des Führers, und war schön.
Schönheit war schließlich auch damals nicht einfach Geschmackssache, mal dies, mal das. Zweimal hatte mein Vater das als junger Mann nachhaltig gemerkt, als jemand in der Straßenbahn zustieg, ihn sah und bis ins Mark zu erschrecken schien. Das erste Mal war es eine Frau, das zweite Mal ein Mann, und beide Male hatte mein Vater so etwas wie ein schlechtes Gewissen.
Ich hatte es da leichter. Ich kannte nur die Hamburger Fotos, und für mich sah mein Vater aus wie mein Vater.
Die Frau des Generals, weder feige noch ängstlich, wie sich gezeigt hatte, konnte sich dieser Schönheit nicht entziehen und hatte zugegriffen. Dazu war sie auch an diesem Tag entschlossen, der in einer offiziellen Feierlichkeit enden würde, wie ihr Mann beschlossen hatte. Nur eine Maschine hatte man in den letzten vierundzwanzig Stunden verloren, der Engländer dagegen vier. Und Ernst Udet war zu Gast, Held mittlerweile zweier Kriege und einer aufgeregten Zwischenkriegszeit – „dem Führer sei Dank!" Schon um drei Uhr hatte es bei leichtem Regen eine kleine Zeremonie gegeben: Eine Ehrenkompanie war angetreten und stand, da Udets Auto, obwohl bereits in Sichtweite, für fünf Minuten (man erfuhr nicht, warum) am Straßenrand gehalten hatte, ohne daß er ausgestiegen wäre, im Nassen. Diese fünf Minuten Nieseln hatten freilich die Stahlhelme um so glänzender gemacht, zumal wegen des Nachmittags-Termins die Hoflampen schon eingeschaltet waren.
Die Feier, die der General am Abend ausrichten ließ – es war der