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Viceversa 8: Jahrbuch der Schweizer Literaturen »Berlin - mein Ding«
Viceversa 8: Jahrbuch der Schweizer Literaturen »Berlin - mein Ding«
Viceversa 8: Jahrbuch der Schweizer Literaturen »Berlin - mein Ding«
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Viceversa 8: Jahrbuch der Schweizer Literaturen »Berlin - mein Ding«

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»Berlin - mein Ding«: Ursula Fricker, Christoph Geiser, Roman Graf, Silvio Huonder, Thomas Hürlimann, Stefanie Sourlier und Matthias Zschokke erzählen.
»Berlin - zu Gast«: Robert Walser, den es vor hundert Jahren schon nach Berlin zog, gilt eine Hommage; der Lausanner Fotograf Pierre-Yves Massot zeigt seine Berlin-Impressionen.
»Berlin - Inédit«: Frisch aus Berlin kommen die unveröffentlichten Texte des rätoromanischen Autors Leo Tuor, der Westschweizerin Dominique de Rivaz, des Tessiners Pietro Montorfani und der Walliserin Christine Pfammatter.
Porträts: Der in Paris lebende Jurassier Bernard Comment spricht über seine verschiedenen Aktivitäten als Schriftsteller, Übersetzer (von Antonio Tabucchi), Herausgeber und Szenarist (mit Alain Tanner); Giovanni Orelli aus dem Bedrettotal lässt sich im Monopoly-Spiel auf Fragen, Antworten und Gedankensprünge ein; die in Zürich geborene Genferin Anne Brécart webt an ihren Stoffen aus Vergangenheit, Schmerz und Traum.
Übersetzen, Carte blanche: Dorothea Trottenberg, Nathalie Sinagra und Vanni Bianconi übertragen einen Text ihrer Wahl aus dem Russischen, dem Italienischen und dem Englischen.
Das literarische Jahr 2013: Literaturchronik und Besprechungen
ausgewählter Neuerscheinungen geben einen Überblick über das
literarische Schaffen in allen Schweizer Landesteilen.
LanguageDeutsch
Release dateJun 16, 2014
ISBN9783858696298
Viceversa 8: Jahrbuch der Schweizer Literaturen »Berlin - mein Ding«

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    Viceversa 8 - Rotpunktverlag

    viceversa literatur 8

    viceversa literatur 8

    Jahrbuch der Schweizer Literaturen

    »Berlin – mein Ding«: Schweizer Autorinnen und Autoren in Berlin Ursula Fricker, Christoph Geiser, Roman Graf, Thomas Hürlimann, Silvio Huonder, Stefanie Sourlier und Matthias Zschokke

    Porträts von Anne Brécart, Bernard Comment und Giovanni Orelli

    Zu Gast: Berlin (Fotos von Pierre-Yves Massot) und Robert Walser (von Claudio Piersanti und Matthias Zschokke)

    Übersetzen: Carte blanche für Vanni Bianconi, Nathalie Sinagra und Dorothea Trottenberg

    Inédits von Dominique de Rivaz, Pietro Montorfani, Christine Pfammatter und Leo Tuor

    Herausgeber Service de Presse Suisse

    Herausgeber und Verlag danken folgenden Institutionen

    für die großzügige finanzielle Unterstützung:

    Bundesamt für Kultur

    Fondation de Famille Sandoz

    Fondation Jan Michalski

    Lia Rumantscha

    Loterie Romande

    Migros-Kulturprozent

    Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung

    Stadt Pruntrut

    Kanton Jura

    Kanton Schaffhausen

    Kanton Zug

    Stadt Zug

    Kanton Genf

    Stadt Genf

    Die Redaktion bedankt sich bei folgenden Personen für ihre Unterstützung und ihre wertvollen Hinweise:

    Yvonne Böhler, Patrick Bornoz, Christophe Farquet, Nicole Pfister Fetz (AdS), Camille Luscher, Reto Sorg (Robert Walser-Zentrum, Bern), Gabriela Stöckli (Looren), Peter Utz, Mathilde Vischer, Alexandra von Arx, Gabriela Zehnder

    Agnès Szydlowski sei herzlich gedankt für die Erlaubnis, eine Geschichte der Autorin Nadežda Teffi, und Christian Bourgois Editeur für die Erlaubnis, eine Erzählung aus Tout passe von Bernard Comment in der deutschen Übersetzung zu publizieren.

    Ein großer Dank gebührt auch den Autorinnen und Autoren, die einen unpublizierten Text zur Verfügung gestellt haben:

    Anne Brécart, Bernard Comment, Dominique de Rivaz, Ursula Fricker, Christoph Geiser, Roman Graf, Silvio Huonder, Thomas Hürlimann, Pietro Montorfani, Giovanni Orelli, Christine Pfammatter, Claudio Piersanti, Stefanie Sourlier, Leo Tuor, Matthias Zschokke

    Der Service de Presse Suisse betreibt eine dreisprachige Website zu den

    Literaturen der Schweiz: www.viceversaliteratur.ch

    Kontakt: ruth.gantert@viceversaliteratur.ch

    © 2014 Rotpunktverlag, Zürich

    www.rotpunktverlag.ch

    Umschlagbild: Rudi Fränkle, Mannheim

    ISSN 1662-0380

    ISBN 978-3-85869-629-8

    1. Auflage

    »Berlin – mein Ding«

    Schweizer Autorinnen und Autoren in Berlin | von Christa Baumberger

    Matthias Zschokke, Christoph Geiser, Ursula Fricker, Silvio Huonder, Stefanie Sourlier, Roman Graf, Thomas Hürlimann

    Porträts

    Bernard Comment | von Ruth Gantert

    Anne Brécart | von Elisabeth Jobin

    Giovanni Orelli | von Francesca Puddu

    Zu Gast

    Berlin | Fotografien von Pierre-Yves Massot

    Robert Walser | von Matthias Zschokke und Claudio Piersanti

    Übersetzen

    Carte blanche für Dorothea Trottenberg

    Carte blanche für Nathalie Sinagra

    Carte blanche für Vanni Bianconi

    Inédits

    Leo Tuor

    Christine Pfammatter

    Dominique de Rivaz

    Pietro Montorfani

    Das Literaturjahr 2013

    Chronik des Literaturjahrs 2013

    Kurzkritiken, Deutschschweiz | von Ruth Gantert, Beat Mazenauer, Liliane Studer und Alexandra von Arx

    Kurzkritiken, französische Schweiz | von Christian Ciocca, Françoise Delorme, Ruth Gantert, Gaia Grandin, Elisabeth Jobin, Pierre Lepori, Anne Pitteloud, Marion Rosselet und Elisabeth Vust

    Kurzkritiken, italienische Schweiz | von Yari Bernasconi, Matteo Ferrari und Andrea Grassi

    Kurzkritiken, Romanischbünden | von Valeria Martina Badilatti

    Übersetzungen von Schweizer Literatur in andere Landessprachen

    Redaktion Viceversa

    Überblick Viceversa (2007–2013)

    Editorial

    »Zürich als geteilte Stadt beschreiben.«, notiert Max Frisch am 18. März 1973 in sein Berliner Journal, das auszugsweise postum erschienen ist (Berlin: Suhrkamp, 2014). Später kommt er auf diese Idee zurück und entwirft den Bericht eines West-Zürchers, der einem Besucher die Mauer zeigt, hinter der das unerreichbare Gebiet Ost-Zürichs liegt. Max Frisch ließ sich offensichtlich von Berlin inspirieren. Trotz der Zerstörung, trotz der Zweiteilung liebte er diese Stadt. Viele Schriftstellerkollegen vor und nach ihm taten und tun es ihm gleich.

    25 Jahre nach dem Mauerfall widmet Viceversa der deutschen Hauptstadt einen Schwerpunkt und stellt Schweizerinnen und Schweizer vor, die vorübergehend oder für immer in Berlin leb(t)en: Matthias Zschokke, Christoph Geiser, Ursula Fricker, Silvio Huonder, Stefanie Sourlier, Roman Graf und Thomas Hürlimann präsentieren ihr »Berliner Ding«. Aus Berlin kommen und von Berlin handeln auch die bisher unveröffentlichten Texte von Leo Tuor, Christine Pfammatter, Dominique de Rivaz und Pietro Montorfani. »Zu Gast« in Viceversa sind schließlich zwei besondere Besucher: die Stadt Berlin selbst, gesehen durch die Linse des Freiburger Fotografen Pierre-Yves Massot, und der Autor Robert Walser, der acht Jahre in Berlin wohnte und dort seine bekanntesten Romane, Geschwister Tanner (1907), Der Gehülfe (1908) und Jakob von Gunten (1909), schrieb.

    Doch nicht alle der hier porträtierten Autorinnen und Autoren sind oder waren »Berliner«: Den Jurassier Bernard Comment prägten die Städte Genf und Florenz, bevor er sich für Paris entschied. Giovanni Orelli verließ das heimatliche Bedretto, um in Mailand zu studieren, und ließ sich danach in Lugano nieder. Die in Zürich aufgewachsene Anne Brécart zog mit fünfzehn Jahren nach Genf, wo sie heute lebt. Alle drei bewegen sich zwischen den Sprachen: Bernard Comment übersetzt aus dem Italienischen, Anne Brécart aus dem Deutschen, und Giovanni Orelli schreibt nicht nur Romane auf Italienisch, sondern auch Gedichte im Dialekt der Leventina. Sprachliche Grenzgänger par excellence sind die drei Übersetzer Dorothea Trottenberg, Nathalie Sinagra und Vanni Bianconi, diesjährige Empfänger unserer Carte blanche, die jede/r auf ganz spezielle Weise nutzt.

    Kehren wir zum Schluss zurück zu Frischs Fantasie über das geteilte Zürich: »Die Mundart hat sich erhalten, aber es wird gesagt, dass wir hüben und drüben nicht mehr die gleiche Sprache sprechen. [...] Vielleicht gehört man doch weniger zusammen, als man früher immer gemeint hat.« Frischs Distopie ist natürlich ein Spiel, doch der eben zitierte Satz bekommt einen bedrohlichen Unterton in Bezug auf die Schweiz. Wir sprechen – zum Glück – nicht alle die gleiche Sprache, und dies nicht einfach in linguistischem Sinn. Dass wir uns trotzdem verstehen und zusammengehörig fühlen, ist heute wichtiger denn je und nur einem regen, lustvollen Austausch zu verdanken – Viceversa lebt diesen Austausch und lässt ihn erleben.

    Ruth Gantert

    »Berlin – mein Ding«

    Unveröffentlichte Texte und Gespräche von und mit Matthias Zschokke, Christoph Geiser, Ursula Fricker, Silvio Huonder, Stefanie Sourlier, Roman Graf und Thomas Hürlimann

    Berlin ... – »ditt is’n Ding!«, wie Matthias Zschokke sagt, der schon seit fast 35 Jahren in der deutschen Metropole lebt. Zürcher, Berner und Basler, Bündnerinnen, Aargauerinnen und Schaffhauserinnen, Walliser, Innerschweizerinnen, St. Galler und Thurgauerinnen haben vor oder nach ihm ihre Sachen gepackt und sind nach Berlin gezogen – magisch angezogen von ... ja, wovon eigentlich? Sieben Autorinnen und Autoren haben wir gebeten, uns ihr »Berliner Ding« zu zeigen und einen Text darüber zu schreiben. Im Gespräch mit Christa Baumberger erzählen sie von ihrem Entschluss, sich – vorübergehend oder für immer – in Berlin niederzulassen, sprechen von ihrer Arbeit und von ihrer Situation als deutsch schreibende Schweizerinnen und Schweizer in der preußischen Hauptstadt.

    »Berlin – mein Ding«

    Schweizer Autorinnen und Autoren in Berlin

    Von Christa Baumberger

    »Los, nach Berlin!«, so klingt es durchs ganze 20. Jahrhundert. Die deutsche Metropole zog Schweizer Autorinnen und Autoren seit jeher magnetisch an: um 1900 wie in den Goldenen Zwanzigern, als geteilte Stadt im Kalten Krieg ebenso wie in den wilden Jahren nach dem Mauerfall oder als neue Hauptstadt des vereinigten Deutschland um die Jahrtausendwende.

    Gottfried Keller, Robert Walser, Meinrad Inglin, Annemarie Schwarzenbach, Max Frisch, Jürg Amann, Gertrud Leutenegger, Reto Hänny, Thomas Hürlimann, Matthias Zschokke, Ursula Fricker, Pascal Mercier, Armin Senser, Alain Claude Sulzer ..., sie alle und viele weitere haben kurze oder längere Zeit ihren Platz in der Metropole gefunden. Und Berlin ist so weitläufig, dass sie ihrer Wege gehen konnten, ohne sich auf die Füße zu treten. Der feste Wille, Autor zu werden, trieb die einen nach Norden. Andere hatten bereits ein fertiges Manuskript im Gepäck und waren auf der Suche nach einem Verlag. Oder sie kamen bereits als arrivierte Autoren an. Einige begehrten die Öffentlichkeit, andere die Anonymität in der Masse. Viele kehrten irgendwann in die Schweiz zurück, doch nicht wenige blieben und wurden heimisch. Die Stadt mit ihren vielen geschichtsträchtigen Schauplätzen bildet einen günstigen Nährboden für erste, zweite, dritte Romane, für Gedichte und Essays, für Haupt- und Nebenwerke.

    Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall sind wir den Spuren ausgewählter Autoren gefolgt. Längst ist das epochale Ereignis vom 9. November 1989 Geschichte, die geteilte Stadt und auch der Staat sind wiedervereinigt. Ruhig ist das Leben in der Metropole dennoch bis heute nicht. Viceversa nimmt das Jubiläum zum Anlass, Schweizer Schriftsteller zu befragen: Hat Berlin immer noch eine magische Anziehungskraft? Sieben Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Generationen beschreiben in einem Text ihr persönliches »Berlin-Ding«: eine inspirierende Ecke in dieser an Ecken und Kiezen so reichen Stadt, ein (Lebens-)Gefühl, eine Ansicht/Aussicht/Übersicht, einen persönlichen Kunstschatz, ein Monument oder ein verstecktes Kleinod ...

    Entstanden sind sieben literarische Ansichten, einige fiktional, andere essayistisch und in der eigenen Lebensgeschichte verankert: Thomas Hürlimann entführt die Leserin, den Leser auf einen Wachtturm der Berliner Mauer, wo er zusammen mit seinem Protagonisten in den weiten Osten blickt. Stefanie Sourlier und Roman Graf durchstreifen Stadtlandschaften mit Kanälen und Parks und lassen sich von urbanen Eindrücken inspirieren. Überhaupt scheint das Element Wasser, das beständige formlose Fließen dem Grundpuls von Berlin zu entsprechen. So folgt auch Silvio Huonder den vielen Wasserwegen. Ursula Fricker beschreibt, wie die Stadt sie kurz nach der Wende »mit gesträubtem Fell« empfing und nicht mehr losließ. Christoph Geiser dagegen hält seine Flucht in den Kunstraum fest. Und Matthias Zschokke verweigert sich ganz einfach der Aufgabe. Er tut dies aber derart sprachverspielt und mit feiner Ironie, dass die Absage eine kleine Hommage auf Berlin ergibt.

    Auf die Texte folgt ein Gespräch über literarische und biografische Berlin-Bezüge, über prägende Erfahrungen, Berlin-Spuren und literarische Schauplätze im jeweiligen Werk. Auch der unsichere Begriff der Heimat kommt zur Sprache.

    Und die Quintessenz der hier versammelten unterschiedlichen Stadt-Bilder? Berlin empfängt einen nicht mit offenen Armen, in auffallend vielen Texten ist es kalt, nass, dunkel. Der endlose Winter, der Wind, das pickelharte Eis auf schiefen Gehwegen – davon ist mehrfach die Rede. Diese Stadt ist eine Geduldsprobe, sie biedert sich nicht an, sondern man muss sie sich erschließen. Doch gerade im Rauen, Widerborstigen, Abweisenden, ja gar Hässlichen scheint ihr literarisches Potenzial zu liegen. Berlin regt auf, regt an – deshalb ist die Stadt wohl für jede Autorengeneration von neuem so attraktiv.

    Matthias Zschokke

    Liebe Christa Baumberger,

    Viceversa Literatur ist mir selbstverständlich ein Begriff. Es freut mich, dass Sie mich in die Berlinnummer mit aufnehmen wollen. Und es gibt keinen vernünftigen Grund, Ihre Einladung abzulehnen. Trotzdem kann ich nicht anders und bitte um Ihr Verständnis: Ich habe schon so viel über Berlin gesagt, dass allein die Vorstellung, das Wort ein weiteres Mal in den Mund nehmen zu müssen, mich schaudern macht. Mir fällt nichts mehr ein dazu, weder zur Stadt noch zu mir in der Stadt noch zur Stadt, wie sie vor dem Mauerfall war, noch zu ihr, seitdem sie ausgelaufen ist. Ich kenne kein Lieblingsding in ihr (»ditt is’n Ding!« fällt mir dazu spontan ein, und ich schäme mich, dass es so ist) und werde auch keins entdecken, das weiß ich.

    Wir können gern einen Kaffee trinken zusammen und über die Stadt reden. Sie können auch gern Texte von mir verwenden, wenn Ihnen einer passend vorkommt. Ich lebe hier seit über dreißig Jahren und habe nie weiter darüber nachgedacht, warum das so ist und was es bedeutet. Was ich schreibe, ist bestimmt alles irgendwie berlinisch, doch bin ich Schweizer geblieben durch und durch und berlinere wohl mit stärkstem Schweizer Akzent. Immer hoffte und hoffe ich, das, was ich schreibe, gehe über irgendein Berlin oder eine Schweiz hinaus und sei welthaltig – wie das wahrscheinlich jeder hofft, der schreibt.

    Bevor ich anfange, Ihnen eine halbe Poetologie in Ihren Computer zu kippen, lasse ich’s dabei bewenden: Glauben Sie mir, mir fällt nichts ein zu Berlin, was nicht jedem anderen ebenso gut oder besser einfallen würde.

    Wer möglicherweise etwas dazu zu sagen hätte, das sich abzudrucken lohnt, ist Hélène Besançon (Schreibweise?). Haben Sie sie auf Ihrer Liste? Und vielleicht wäre auch Alain Claude Sulzer von Interesse? Er ist neu in der Stadt, da fällt einem oft mehr ein und auf, als wenn man sich an etwas gewöhnt hat.

    Ab dem 15. Mai bin ich bis Ende August nicht hier (ich wurde von einer Stiftung eingeladen, woanders zu essen und zu schlafen). Falls Sie Lust haben auf einen Kaffee, müssten wir den umgehend bestellen – oder ihn erst im Herbst zusammen trinken.

    Herzliche Grüße

    Matthias Zschokke

    Christoph Geiser

    Ein Haschen nach Wind

    Flucht aus dem Freigehege der eingemauerten Stadt, Seuchengebiet!, in den Kunstraum; das war Anfang der Achtzigerjahre: Amor vincit omnia im Museum. Der splitternackte Knabe, der über alles bedeutsame Gerümpel hinweg aus dem Goldrahmen in den realen Raum zu steigen scheint, die Schwingen ausgebreitet, als wolle er gleich abheben, den Nachtraum des Imaginären aber nie verlässt. Nicht in den darkroom!, dort lauert der Tod. So bliebe uns nur, im Nachttraum selber zu dem Knaben zu steigen. Wie denn? Ein Haschen nach Wind! Mönch am Meer, später, nach dem Einsturz der Mauern: der letzte und einzige am äußersten Rand der Feste, der Auflösung & Nichtigkeit gegenüber, die Entropie reflektierend, diese Gleich-Gültigkeit von allem & jedem. Möwen zählen! Oder ist’s Gischt? Die letzte Herberge schlussendlich, bürgerlich, schlicht, vergleichsweise unauffällig: Das Balkonzimmer, an der Schöneberger Straße 18 gelegen, Vorderhaus, zweites Obergeschoss. Die Flügeltür steht offen, den Stuhl hat die energische Gebärde des Öffnens verrückt, der Wind bauscht den Tüllvorhang, das Sonnenlicht flutet den Parkettboden. Provisorisch geflickt die Tapete, Wasserschaden mutmaßlich, ein Fleck – oder die Spur eines entfernten Möbels? Der Bewohner ist grad mal abwesend. Die kleine Exzellenz, wegen Gnomenhaftigkeit kriegsuntauglich. Vom Stuhl gehüpft? Wo ist er, der unermüdliche Zwerg, alle Zeichenstifte zwischen den Lippen? Ist er dort, auf dem Bild im Spiegel, jenseits des Bildes? Hat er sich eklipsiert in den Kunstraum jenseits des Kunstraumes? Was ist wirklich? Ein Haschen nach Wind – hier zieht’s doch beständig und alles ist Durchzug.

    Berlin als Freigehege und Kunstraum Gespräch mit Christoph Geiser

    Von Christa Baumberger

    Wer nach Wind hascht, versucht etwas zu fassen, was nicht zu fassen ist. Ist das »Haschen nach Wind« ein Sinnbild Ihres literarischen Schaffens?

    Ich verbinde damit vor allem das Vanitas-Motiv, mit dem ich mich seit einigen Jahren stark beschäftige. Wie lässt sich das Vergängliche festhalten? Man muss den Augenblick nutzen und immer wieder versuchen, ihn festzuhalten.

    Den Augenblick festhalten – die Malerei vermag dies noch unmittelbarer als die Literatur. Im Text kommt Ihre große Affinität für die bildende Kunst deutlich zum Ausdruck, gleich drei Werke werden evoziert ...

    Ja, das ist richtig. Meine Mutter war übrigens Malerin, ich hingegen kann auch heute noch nicht einmal zeichnen. Deshalb wuchs in mir wohl der Wunsch, mich den Bildern mittels Sprache anzunähern. Die drei Gemälde von Caravaggio, Caspar David Friedrich und Adolph Menzel enthalten ein ganzes Programm. Sie sind symptomatisch für bestimmte Stationen meiner Biografie, für Themen, die mich umgetrieben haben und mit denen ich mich in der Folge auch literarisch befasste. Sie alle sind untrennbar mit meinen verschiedenen Berlin-Erfahrungen verknüpft. Von den drei Malern ist Caravaggio, von dem das Gemälde Amor vincit omnia (1601/1602) stammt, zweifellos der Meister des dramatischen Augenblicks. Ihm ist es gelungen, den Höhepunkt einer Geschichte in seiner unmittelbaren Lebendigkeit im Bild zu bannen.

    In Wenn der Mann im Mond erwacht (2008), dem dritten Band Ihrer Trilogie des Scheiterns, beschreiben Sie, dass der Amor von Caravaggio Sie bei einem Museumsbesuch gleichsam angesprungen habe. War die Überraschung tatsächlich so groß, war Ihnen das Gemälde nicht bereits von Abbildungen bekannt?

    Alle drei Werke sind Zufallsfunde. Denn auch wenn ich ein humanistisches Gymnasium besucht habe, waren meine kunsthistorischen Kenntnisse lange bescheiden. Als junger Autor musste ich mich zuerst von Bildungsgut befreien, um zur Realität zu kommen. Erst 1983 in Berlin erwachte das Bedürfnis, mir wieder Wissen anzueignen, in der Not meiner damaligen Situation. So begann ich eher aus Verzweiflung und Verlegenheit mit Museumsbesuchen, und in der Gemäldegalerie kam es dann zur Begegnung mit dem Amor von Caravaggio. Gleich beim ersten Anblick erschreckte mich, wie Caravaggios splitternackter Knabe den Kunstraum sprengt. Amor scheint direkt aus dem Bild herauszusteigen, dem Betrachter entgegen. Auf der anderen Seite glaubt der Betrachter, er könne sich ins Bild hineinbegeben. Diese Verlebendigung von Kunst und dieser Ausbruch aus dem Kunstraum provozierten mich sofort.

    Ich hatte das Glück, den Restaurator des Gemäldes kennenzulernen. So konnte ich es im Atelier besichtigen und ohne Goldrahmen war die Wirkung noch viel stärker. »Zu dem kannst du nicht hineinsteigen«, sagte der Restaurator. Natürlich bleibt die Verlebendigung eine Illusion, ein Wunschtraum. Und doch fiel ich in diesem Moment vom Realitäts- in den Kunstraum. In den Jahren davor hatte ich der Autobiografie entlanggeschrieben. Die Stoffe kamen aus der eigenen Wirklichkeit. Durch die Ereignisse in Berlin kam mir die Wirklichkeit abhanden. Nach diesem Schlüsselerlebnis begann ich, mich mit Kunst auseinanderzusetzen, mit Kunst als einer anderen Wirklichkeit. Denn auch das gehört zu Berlin. Diese Stadt hat immer etwas Unwirkliches, und ganz besonders in den 1980er-Jahren, als sie noch so abgeschottet war.

    Im Essayband Der Angler des Zufalls (2009) sprechen Sie von 1983 als dem »Stich-Jahr«: »dem Ersten Europäischen Aids-Jahr, meinem ersten Berlin-Jahr, meinem großen Flucht-Jahr«. Berlin 1983 – was ist da geschehen?

    Mit einem DAAD-Stipendium konnte ich 1983 ein Jahr in Westberlin verbringen, und ich blieb aus eigenen Mitteln ein weiteres Jahr. Zum ersten Mal lebte ich längere Zeit im Ausland. Ich wohnte in der Wohnung von Rebecca Horn, ohne zu wissen, wer sie ist. Eine kahle Wohnung mit einem zerschossenen Spiegel, an der Eisenacher Straße Ecke Fugger-/Motzstraße. Berlin hatte familiär immer eine wichtige Rolle gespielt. Mein Großvater, Hans Frölicher, war von 1938 bis 1945 Schweizer Botschafter in Berlin gewesen.

    Hans Frölicher hat doch in Berlin während des Zweiten Weltkriegs eine umstrittene Rolle gespielt, indem er gute Beziehungen zum Naziregime pflegte? Thomas Hürlimann ließ sich von ihm zu seinem Theaterstück Der Gesandte (1991) inspirieren ...

    Ja, doch das geriet für mich jetzt in den Hintergrund.

    Berlin war in den 1980er-Jahren eine Stadt im Ausnahmezustand, andererseits aber auch eine Stadt, in der Homosexualität nicht nur toleriert wurde, sondern etwas ganz Normales war. In diesem Punkt war es für mich eine Extremerfahrung. Es war eine Situation von Freiheit, in dem Augenblick, als sie vom Tod bedroht wurde. Ich erinnere mich genau an den Spiegel-Artikel im Juni 1983, in dem von einer Seuche aus San Francisco berichtet wurde, der Begriff AIDS war ganz neu, den Erreger kannte man noch nicht ... Die Leute starben aber zu diesem Zeitpunkt bereits wie die Fliegen. So wurde mein Coming-out überlagert von einer Todeserfahrung.

    Wie haben Sie das Paradox der eingemauerten Stadt erlebt? Sie erwähnen es in Ihrem Text bereits im ersten Satz.

    Westberlin war ein Freigehege oder man könnte es auch als Phänomen des Ausgesparten bezeichnen. Das Westberliner Territorium war auf Ostberliner Karten ein weißer Fleck. Und interessanterweise war es für mich tatsächlich ein weißer Fleck, denn ich kannte vor 1983 nur Ostberlin. Meine Bücher erschienen in Schweizer Verlagen – zunächst bei Lenos, dann bei Benziger – und zeitlich versetzt in der DDR beim Ostberliner Verlag Volk und Welt: Zimmer mit Frühstück (1975/1977), Grünsee (1978/1979), Brachland (1980/1983).

    Interessant waren in diesen zwei Jahren die unterschiedlichen Reaktionen auf Lesungen in West- und Ostberlin sowie Potsdam und Leipzig. In Westberlin war egal, was man sagt, man galt einfach als gutbürgerlicher Schweizer Autor. In Ostberlin hingegen bekam jedes Wort eine eigene Brisanz. So war Homosexualität in der DDR ein heikles Thema. Nach langem Zögern meines DDR-Verlags erschien auch Wüstenfahrt (1984/1986) noch vor der Wende. Der Verleger wollte damit Bahn brechen für die Homosexualität als Thema in der Literatur. Dies war vonseiten eines Schweizer Autors einfacher als von einem DDR- oder gar westdeutschen Autor.

    Bedeutete der Aufenthalt in Berlin 1983 bis 1985 vor allem eine biografische oder auch eine ästhetische Zäsur?

    Es war in jeder Hinsicht ein Bruch. Als ich in Berlin ankam, befand ich mich in einer Schaffenskrise, der Roman Wüstenfahrt konnte aus verlagstechnischen und thematischen Gründen auch in der Schweiz noch nicht erscheinen, es war eine völlig blockierte Situation. Zugleich kam eine erste Schaffensphase zum Abschluss: Meine frühen Bücher waren deutlich autobiografisch geprägt, sie behandeln schweizerisch-bürgerliche Themen. Schon in Wüstenfahrt bahnte sich ein neuer Stil an. Und mit den folgenden Texten erschloss ich mir neue literarische Strategien und Themen: die Kerkerthematik mit ihrer Dialektik von Eingeschlossensein und Ausbruch, sexuelle Obsessionen, Projektion eigener Themen auf historische Figuren. Die autobiografische Realität genügte nicht mehr. Wie der durchgedrehte Speicher eines Computers begann ich ein frivoles Spiel mit unendlich vielen Allusionen, Zitaten und Trümmern von Bildungsgut.

    »Ein Haschen nach Wind« hebt an mit der Flucht aus dem »Seuchengebiet« in den Kunstraum. Erschien Ihnen Caravaggios Amor zu Beginn der 1980er-Jahre als eine Verkörperung der »reinen« und ungefährlichen Liebe?

    Dieses Gemälde ist die pure Provokation. Ich erlebte solche Amor-Knaben in der Realität. Sie boten sich mir auf den Straßen Berlins an. Obszön. Und dieses Gemälde hier war der blanke Hohn: Amor vincit omnia im Museum – zu einem Zeitpunkt, als in den Straßen der Tod allgegenwärtig war. In dieser Zeit begann ich einen Text mit dem Titel »Im Freigehege«. Ein Berlin-Text, der unvollendet geblieben ist und von dem damals nur ein kleines Fragment in der NZZ publiziert wurde. Michael Schläfli hat das Konvolut viel später wieder im Schweizerischen Literaturarchiv ausgegraben. Ein Kondensat des Stoffkomplexes bildete mal den Anfang meines Caravaggio-Romans Das geheime Fieber (1987), fiel dann aber auch wieder raus. Die Begegnung mit dem Gemälde blieb davon übrig, als das für mich letzten Endes Entscheidende. Ich beschloss: Das wird mein neuer Roman. So reiste ich dann auf den Spuren Caravaggios bis nach Neapel.

    Das zweite Gemälde im Text stammt von Caspar David Friedrich: Mönch am Meer (1808–1810). Die sinnliche Präsenz des Amor weicht hier einer ungeheuren Weite, in der der Mensch fast körperlos erscheint.

    Genau. Auch dies ist ein Schlüsselgemälde

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