Von der Schule in die Arbeitswelt: Bildungspfade im europäischen Vergleich
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Von der Schule in die Arbeitswelt - Verlag Bertelsmann Stiftung
Wieland
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit - Beschäftigungsfähigkeit und berufliche Orientierung Jugendlicher im Spiegel empirischer Untersuchungen
Jens U. Prager, Clemens Wieland
²
Beunruhigende Entwicklung
Kaum ein Thema treibt Deutschland derzeit mehr um als die kritische Lage auf dem Arbeitsmarkt. Es vergeht kein Monat, in dem nicht die Bekanntgabe der Arbeitslosenzahlen durch die Bundesagentur für Arbeit für neue Schreckensmeldungen sorgt. »Sichere Arbeitsplätze« gibt es kaum noch, selbst eine gute Ausbildung scheint heute kein Garant mehr für eine Arbeitsstelle zu sein. Mehr und mehr zeichnet sich eine Entwicklung ab, die ein Konfliktpotenzial in sich birgt, das in den nächsten Jahren zu dramatischen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und damit auch - und dort besonders - bei der jungen Generation führen wird.
Akuter Handlungsbedarf
Dies zeigt: Gerade im Übergang zur Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist die Entwicklung und kontinuierliche Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit mehr denn je gefordert und setzt nicht nur bei jedem Einzelnen ein höheres Maß an Eigeninitiative und Eigenverantwortung in der Lebensplanung voraus. Die Grundlagen für die individuelle Beschäftigungsfähigkeit in der Jugend zu legen und zu fördern wird zu einer der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft - insbesondere dort, wo die Heranführung und Integration junger Menschen in sich verändernde Arbeitsmärkte bzw. in das Erwerbsleben aus eigenen Anstrengungen nicht gelingen will.
Die Integration Jugendlicher in das Erwerbsleben und den Arbeitsmarkt steht ganz oben auf der Agenda fast aller gesellschaftspolitischen Institutionen: Europäische Kommission, Bund, Länder, Kommunen, Arbeitsmarktund Bildungspolitik, Arbeitgeber und Gewerkschaften, Verbände und Kammern - alle versuchen, sich gegenseitig mit umfangreichen Programmen, Initiativen und Fördermaßnahmen zu übertreffen, mit denen Jugendliche an das Erwerbsleben herangeführt und beim Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt unterstützt werden sollen.
Sicht der Betroffenen
Den Diskussionen darüber, mit welchen Maßnahmen, Strategien oder Initiativen hier wirksam Abhilfe geschaffen werden kann, liegen primär zwei Blickwinkel zugrunde: die vehementen Klagen der Wirtschaft über die mangelnde Ausbildungsfähigkeit junger Menschen sowie die PISA-Ergebnisse, die den Schülern diesen Mangel in Bezug auf ihre formalen Kompetenzen attestieren. Zu wenig beleuchtet erscheint uns in diesem Zusammenhang die Sichtweise der Jugendlichen selbst, die ja für eine differenzierte Einschätzung der Problemlage und möglicher Lösungsstrategien maßgebliche Bedeutung haben sollte.
Aus diesem Grund hat die Bertelsmann Stiftung eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben, die über die Selbstwahrnehmung der Jugendlichen sowie ihre Vorstellungen und Wünsche Aufschluss gibt. Dieses Stimmungsbild zeigt ferner, welche beruflichen Zukunftsperspektiven die jungen Menschen sehen, welche Grundhaltungen, Sorgen und Hoffnungen sie damit verbinden und von welchen Akteuren sie sich (mehr) Unterstützung im Übergangsprozess von der Schule in die Arbeitswelt wünschen.
Schritte der Untersuchung
Im Folgenden wird zunächst die aktuelle Situation von Jugendlichen an der Schwelle zu Ausbildung und Beruf mittels Zahlen und Fakten sowie Einschätzungen aus Sicht der Wirtschaft skizziert. Dem werden in einem zweiten Schritt die Ergebnisse der von der Bertelsmann Stiftung initiierten Umfrage gegenübergestellt. Hieraus werden dann Schlussfolgerungen für eine Erfolg versprechende Verbesserung von Strategien zur Integration junger Menschen in die Arbeitswelt abgeleitet.
Zur Lage auf dem Ausbildungsmarkt
Bedrohliche Lage
Heute sind mehr als eine halbe Million junge Menschen unter 25 Jahren arbeitslos. Beinahe jeder Zweite von ihnen (44,7 Prozent) hat keine abgeschlossene Berufsausbildung (BMWA 2005: 6). Schlimmer noch: Jeder zehnte Schüler verlässt die Schule ohne einen Abschluss und damit auch ohne Aussicht auf einen Ausbildungsplatz. Die Arbeitsnachfrage gibt ebenfalls keinen Anlass zu großer Hoffnung, dass sich die Lage auf dem Ausbildungsmarkt kurzfristig verbessern könnte. Vielmehr ziehen sich die Unternehmen in Deutschland verstärkt aus der Ausbildung zurück: Allein zwischen Oktober 2004 und Mai 2005 verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit einen zehnprozentigen Rückgang bei den gemeldeten Ausbildungsplätzen (Bundesagentur für Arbeit 2005).
Jugendarbeitslosigkeit verfestigt sich
Angesichts dieser bedrohlichen Lage ist die Verminderung und Verhinderung von Jugendarbeitslosigkeit eine der drängendsten Herausforderungen für unsere Gesellschaft und wird dies in den kommenden Jahren bleiben: Das Internationale Standort-Ranking der Bertelsmann Stiftung, das die wirtschaftliche Entwicklung der 21 wichtigsten Industrienationen im Hinblick auf Wachstum und Beschäftigung vergleicht (Bertelsmann Stiftung 2005), zeigt, dass sich das Problem der Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland verschärft.
So ist die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen im vergangenen Jahr um 1,5 Prozentpunkte gestiegen. Sie weist eine hohe Persistenz auf, die auch durch verschiedene Sonderprogramme (wie zuletzt »Jump« oder »Jump plus«) nicht aufgebrochen werden konnte. In der Folge ist das Heer der jugendlichen Arbeitslosen mittlerweile mehr als doppelt so groß wie die Bundeswehr. Faktisch sind sogar deutlich mehr junge Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen, da Jugendliche, die sich in Fördermaßnahmen der Arbeitsagentur befinden, in der Statistik nicht als arbeitslos ausgewiesen werden.
Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage
Wenngleich die Entwicklung des Ausbildungsplatzangebotes kaum vorhersehbar ist, da sie sowohl von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als auch von individuellen Entscheidungen der Unternehmen, des Staates und der Arbeitsverwaltung abhängt, lässt sich sagen, dass sich die Bewerber-Stellen-Relation im Vergleich zum Vorjahr ebenfalls deutlich verschlechtert hat. Nach Angaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung steigt die Ausbildungsplatznachfrage im Jahr 2005 um rund 6000 bis 8000 Plätze (BMBF 2005: 71).
Ausbildende Betriebe
Rund 615 000 Betriebe (58 Prozent) in Deutschland verfügten im Jahr 2003 über eine Ausbildungsberechtigung. Bundesweit beschäftigen diese Betriebe 1,6 Mio. Auszubildende. Dennoch ist nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die Zahl der Ausbildungsbetriebe im Vergleich zum Jahr 2002 um 28 000 zurückgegangen (IAB 2003). Die Anzahl der unvermittelten Bewerber ist 2004 auch deshalb gestiegen, weil die Zahl der Schulabgänger und die der Jugendlichen, die sich 2003 für Alternativen (allgemein bildende Schulen, Berufsfachschulen, Hochschulen, Berufsgrundbildungsjahr, berufsvorbereitende Maßnahmen, Erwerbsarbeit, Wehr- oder Zivildienst) entschieden hatten und sich 2004 erneut um einen Ausbildungsplatz bewarben, angestiegen ist.
Ausbildungspakt: kleiner Hoffnungsschimmer
Einen kleinen Hoffnungsschimmer in die insgesamt düstere Lage bringen die ersten Ergebnisse des zwischen Bundesregierung und Wirtschaft im Juni 2004 geschlossenen Ausbildungspaktes: Bis Ende September 2004 war im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von 2,8 Prozent bei den Abschlüssen von Ausbildungsverträgen zu verzeichnen. Damit hat der Pakt dazu beigetragen, den Negativtrend zu stoppen - eine Trendwende ist allerdings nicht in Sicht.
Mit dem Ausbildungspakt hat sich die Wirtschaft dazu verpflichtet, jährlich 30 000 neue Ausbildungsplätze zu schaffen und 25 000 Plätze für Einstiegsqualifizierungen bereitzustellen. Die Bundesregierung hat zugesichert, diese Maßnahmen finanziell zu unterstützen. Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft haben durch vielfältige Mobilisierungsaktivitäten ebenso ihren Teil dazu beigetragen wie die Gewerkschaften. So wurde beispielsweise in dem ausbildungsfördernden Tarifvertrag zwischen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) und dem Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) vereinbart, von 2004 bis 2007 die Zahl der Ausbildungsplätze um sieben Prozent zu steigern.
Darüber hinaus ist auch die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Bedeutung der Ausbildung des Fachkräftenachwuchses von einer breiteren Öffentlichkeit, vor allem von mittelständischen Unternehmern und den in größeren Unternehmen für Qualifizierung Verantwortlichen, wieder stärker wahrgenommen worden (BMBF 2005: 13).
Demographische Entwicklung
Bei sinkenden Geburtenraten und steigender Lebenserwartung überaltert unsere Gesellschaft zusehends. Bevölkerungswachstum findet nur noch da statt, wo Menschen in größerer Zahl sesshaft werden. Nach heutigen Prognosen geht man davon aus, dass es in Deutschland zwischen 2000 und 2020 zu einer Verringerung der Bevölkerung um 620 000 Menschen kommen wird (Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2004). Adenauers Ausspruch »Kinder kriegen die Leute immer« hat sich somit in den letzten 60 Jahren fast in sein Gegenteil verkehrt und müsste heute lauten: »Kinder kriegen die Leute immer weniger«.
In den kommenden Jahren wird ein hoher Anteil älterer Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben ausscheiden; gleichzeitig werden sich die Schulabgängerjahrgänge verringern (ab 2006 in den neuen Bundesländern, ab 2010 in den alten Bundesländern). Nach Schätzungen von Experten (Brosi und Troltsch 2004: 29 f.) wird es bis 2015 so zu einem Fachkräftemangel in Deutschland kommen, der in der Altersgruppe von 30 bis 45 die Drei-Millionen-Marke sprengen wird.
PISA-Ergebnisse
Das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei der PISA-Studie wird von Unternehmerseite bestätigt. Es besteht eine große Unzufriedenheit bei den Betrieben, welche die fehlenden Qualifikationen schon lange bemängeln. Unternehmen scheuen sich mehr und mehr, Schulabgänger auszubilden, da elementare Kenntnisse fehlen, besonders im Bereich der Allgemeinbildung. Fast 85 Prozent der Betriebe beklagen schlechte Rechtschreib- und Grammatikkenntnisse, und mehr als zwei Drittel sind mit den mathematischen Fähigkeiten der Jugendlichen unzufrieden; Ähnliches gilt für Ausdrucksfähigkeit, Texterstellung und Texterfassung (BDA 2003: 8).
Reaktionen der Unternehmen
Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK 2004) unter 7000 Unternehmern ist die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger das Haupthindernis für den Abschluss von Ausbildungsverträgen. Laut BDA haben mehr als 73 Prozent der Unternehmen Probleme, für ihre Ausbildungsstellen qualifizierte Bewerber zu finden. Gravierende Schwächen in der mündlichen und schriftlichen Ausdrucksweise, mangelnde mathematische Kompetenz und fehlende Leistungsbereitschaft disqualifizieren viele Jugendliche im Wettlauf um eine Ausbildungsstelle.
Für die Unternehmen wird die Suche nach geeigneten Bewerbern zunehmend aufwändiger und kostenintensiver. Die Folge: Viele Lehrstellen werden gar nicht besetzt. Nach Angaben des DIHK konnte im Jahr 2002 ein Fünftel der Betriebe einen Ausbildungsplatz nicht besetzen, weil es an den dazu geeigneten Bewerbern mangelte. Bereits mehr als die Hälfte der Unternehmen führt Maßnahmen zur Kompensation schulischer Bildungsmängel durch, einschließlich Förderkursen für Rechnen und Rechtschreibung.
Mangel an beruflicher Orientierung
Neben der vielfach defizitären Vorbildung bemängeln die Unternehmer auch das unzureichende Wissen der Schulabgänger über die Berufs- und Arbeitswelt. Viele Ausbildungsabbrüche haben berufsbezogene Gründe und führen zu einem Wechsel des Ausbildungsberufes. Eine Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hat ergeben, dass für knapp die Hälfte der Ausbildungsabbrecher der gewählte Beruf nicht ihr Wunschberuf war (BMBF 2003: 95).
Die Brüche in der Ausbildungsbiographie junger Menschen haben deutlich zugenommen. Galt bislang eine Quote von rund zehn Prozent der Jugendlichen als »Risikogruppe«, die ihre Ausbildung entweder nicht antritt oder zu keinem erfolgreichen Abschluss bringt, schätzen die Unternehmen diese Zahl inzwischen auf 25 Prozent (ebd.: 94).
Jugend zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Um die Sichtweisen und Einstellungen der Jugendlichen selbst zu beleuchten, hat die Bertelsmann Stiftung eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben: Knapp 800 junge Menschen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren wurden von dem Münchner Institut iconkids & youth persönlich befragt. Die zentralen Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt.
Skeptische Grundhaltung
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen dieser Altersgruppe blickt bezüglich Ausbildungschancen und Beruf eher skeptisch oder sogar pessimistisch in die Zukunft: 42 Prozent äußern sich dabei eher zurückhaltend und skeptisch, zehn Prozent negativ und pessimistisch. Dies ist umso bedenklicher, als in Umfragen im Allgemeinen die persönliche Zukunft optimistischer bewertet wird als die Zukunft der Gesellschaft generell. Die Stimmung unter den Jugendlichen muss also insgesamt als wenig hoffnungsfroh bezeichnet werden.
Berufliche Zukunftsängste
Mehr als jeder dritte Jugendliche (39 Prozent) macht sich große Sorgen, einen Ausbildungs- bzw. festen Arbeitsplatz zu bekommen. Fast genauso groß ist die Angst, später einmal den Arbeitsplatz zu verlieren (34 Prozent). Ausbildungs- und berufsbezogene Ängste dominieren hier als Zukunftsängste ganz klar vor der Angst vor Krankheit, Unfall oder Tod. Insgesamt zeigt sich: Zweifel hinsichtlich ausreichender Leistungen in der Schule und eines ausreichenden Schulabschlusses sowie Skepsis hinsichtlich des Erreichens der Wunschausbildung und des Wunschberufes plagen die Jugendlichen mehr als alles andere.
Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit
Fragen der Ausbildung und der Berufsentscheidung stehen im Zentrum der Gedanken und sind auch im Freundeskreis ein wichtiges Gesprächsthema. Dabei sind sich 37 Prozent der Jugendlichen nicht so sicher, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, der ihren Vorstellungen und Erwartungen entspricht. Sogar 45 Prozent sind sich nicht sicher, ob sie nach der Ausbildung einen Arbeitsplatz nach ihren Wünschen finden werden. Die Arbeitsplatzunsicherheit ist also noch größer als die Unsicherheit hinsichtlich eines Ausbildungsplatzes. Deutlich wird dies auch in der Auffassung von immerhin 45 Prozent der Jugendlichen, dass in Deutschland nicht jeder, der sich anstrengt, den Beruf ergreifen kann, den er will.
Ursachen der Einschätzungen
Nach den Ursachen dieser Einschätzungen gefragt, meinen 81 Prozent, dass es nicht genügend Arbeitsplätze gibt, 26 Prozent der Jugendlichen geben mangelnde schulische Leistungen an, und 22 Prozent halten die Anforderungen der Wirtschaft für überhöht. Insgesamt lässt sich sagen, dass 37 Prozent der Jugendlichen, die heute an der Schwelle zum Berufsleben stehen, das Gefühl haben, ihnen sei der Weg zum Wunschberuf versperrt, weil für sie gar kein Platz mehr frei ist. Nur neun Prozent sehen in den eigenen ungenügenden schulischen Leistungen den Grund, beruflich nicht das zu erreichen, was sie gerne