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Geschenksendung, keine Handelsware: Chronik einer langen Flucht
Geschenksendung, keine Handelsware: Chronik einer langen Flucht
Geschenksendung, keine Handelsware: Chronik einer langen Flucht
Ebook461 pages7 hours

Geschenksendung, keine Handelsware: Chronik einer langen Flucht

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Im August 1988 gelang einem Hochschul-Medizinprofessor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald mit seiner Familie eine spektakuläre Flucht aus der DDR in den Westen. In ungewöhnlicher Offenheit schildert dieser in "Geschenksendung, keine Handelsware" in eindrucksvoller Weise das Leben, Erleben und Überleben im sozialistischen Alltag der Deutschen Demokratischen Republik - auch STASI-Bespitzelungen in Wissenschaft und Medizin, die filmreife Flucht, die Wende und den Mauerfall und die Nachwendezeit. Eine Arztbiographie so ganz anderer Art. - hochspannend und informativ: ein zeithistorisches Dokument.
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LanguageDeutsch
Release dateDec 5, 2014
ISBN9783869922256
Geschenksendung, keine Handelsware: Chronik einer langen Flucht

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    Geschenksendung, keine Handelsware - Karl Otto Kagel

    Dank

    Vorwort

    „Geschenksendung, keine Handelsware" – so mussten Päckchen und Pakete, die millionen- und abermillionenfach von West nach Ost – von Westdeutschland nach Ostdeutschland, also von der Bundesrepublik Deutschland (BRD) in die Deutsche Demokratische Republik (DDR) – und umgekehrt verschickt wurden, deklariert sein. So wollte es die DDR.

    Vom 8. Mai 1945 bis zum 9. November 1989 waren das vierundvierzig Jahre, sechs Monate und ein Tag. Vierzig Jahre existierte die DDR. Mit der Anzahl der Tage gerät man rasch ins Schlingern – die Schaltjahre.

    Bevor aber diese DDR zu existieren begann, ist sie frühzeitig gescheitert – frühzeitig in historischen Dimensionen. Sie machte ihrem Namen, Deutsche Demokratische Republik, keine Ehre, wohl brachte sie aber durch ihre Ideologie reichlich Schande: Diktatur des Proletariats. Diese Ideologie hat Menschen manipuliert, ideologisch missbraucht, entmutigt, erniedrigt, erpresst, verfolgt, eingesperrt und sogar getötet. Sie hat versucht, vierzig Jahre lang etwa 17 Millionen Menschen zu diktieren. Sie hat Lebensläufe beeinflusst, geprägt, verändert und zerstört – und hat doch verloren. Gescheitert ist die DDR-Ideologie, weil sie ihrem eigenen Anspruch nach einer humaneren Gesellschaft nicht gefolgt ist. Die Blätter des Geschichtsbuches beginnen, das Geschehene zu verwehen und zu beschönigen.

    Wie aber Menschen lebten und leben mussten, überleben mussten und überlebten, und vor allen Dingen auch überlebt haben, ohne sich dem SED-Regime angedient zu haben, soll den Seiten des Geschichtsbuches zugefügt werden.

    Nach anfänglich eher normaler Nachkriegsentwicklung ohne Marshall-Plan scheiterte im Osten das Experiment Sozialismus. Der Mauerbau 1961 konnte daran nichts ändern, nur das Ende verzögern. Es wurde eine lange Agonie. Vielen ist der Traum, das Ende der DDR zu erleben, nicht in Erfüllung gegangen. Sie sind einfach gestorben und haben die Hoffnung mit ins Grab genommen. Auch ihrer soll gedacht sein.

    Die eigene Biographie ist nur ein roter Faden. Im Lichte der Motivation einer langen Flucht ist das Erlebte eine Biographie des gescheiterten Sozialismus unter autobiographischer Navigation.

    Für mich endete die Biographie des Sozialismus durch unsere illegale und vor allem erfolgreiche Flucht aus der DDR – am 26. August 1988. Wir ahnten nicht, dass dieser Sozialismus fünfzehn Monate später Geschichte sein könnte – am 9. November 1989 fiel die Mauer.

    In diesem Jahr erinnern wir uns nun des berüchtigten 13. August 1961, des 50. Jahrestages der Errichtung der Berliner Mauer, dem Synonym für die endgültige Teilung Deutschlands, die keine endgültige wurde und die für unendliches Leid und tragische Einzelschicksale in der DDR steht.

    Auch in dieser Hinsicht ist „Geschenksendung, keine Handelsware" eine Erinnerung und Mahnung zugleich.

    Karl O. Kagel Lübeck, 2011

    August 1997 im ICE

    Die Schüsse an der Mauer sind verhallt – am 9. November 1989. Und doch wird heute der 13. August 1961 wieder gegenwärtig – 28 Jahre hat die Mauer gestanden. Dagegen ist ihr Verschwinden in Schallgeschwindigkeit erfolgt, so wie oftmals die Schüsse verhallt sind – äußerlich. Der 13. August hat so vieles verändert; nicht, dass es zuvor besser gewesen wäre, ganz bestimmt nicht. Der Ausweg war nur leichter: Wenn es mir nicht mehr passt, dann haue ich eben ab!

    An jenem 13. August 1961 saß ich ab 4.00 Uhr früh auf einem Traktor der MTS[1] und pflügte Felder der LPG[2]. Es waren Semesterferien und irgendwann in diesen Ferien wollte ich doch einmal nach Westberlin, einen Prädikatfilm ansehen – egal welchen, die Karten gab es eins zu eins für Ostmark. Ja, und dann auch eine Niethose kaufen – Umtauschkurs vier oder fünf Ostmark für eine Westmark. „Westmark" war schon ein Zauberwort.

    Der 13. August hat verhindert, dass ich zu einer Niethose kam. Ich habe nie eine besessen, was eigentlich nicht ganz stimmt. Nie eine passende, wäre korrekt gesagt. War ich doch einmal während der Oberschulzeit nach fleißiger Ferienarbeit mit meinem Freund nach Berlin gefahren. Gerhard besaß bereits ein Motorrad, Marke MZ[3], und da sein Bruder in Berlin studierte, war die Unterkunft kein Problem. Nicht so sehr war es das primäre Ziel, eine Niethose zu kaufen. Vielmehr war es die Neugier auf den verwerflichen Kapitalismus. So begann etwa vier Wochen vor Ferienbeginn die vorsichtige Vorbereitung auf die Ferien durch manche Lehrer: „Macht auch in den Ferien etwas Vernünftiges."

    Harmlos war das am Anfang. Dann wurde es konkreter: „Nicht nach Westberlin, dort ist nur Schund und Schmutz."

    Jedenfalls gelang es, uns so neugierig zu machen, dass Westberlin zu einem Muss in den Ferien wurde. Mit mühsam verdienten zweihundert Ostmark zogen wir los. Zuerst einen Prädikatfilm, Eintrittspreis eins zu eins, wie oben erwähnt. Trotzdem waren das fünf Mark Ost, auch in der ersten Reihe, Rasiersitz sagte man. Windjammer auf Breitwand, das war anstrengend, aber eins zu eins! Am nächsten Tag wurde dann endlich Westgeld eingetauscht. Fünf Ostmark für eine Westmark.

    Jugendliche Neugier wollte befriedigt werden. Einen Horrorfilm mussten wir uns wenigstens ansehen. In der Yorck-Straße fanden wir ein kleines Kino, Yorck-Theater, in dem ein Film lief mit dem Titel: Das schwarze Museum. Wir setzten uns gegenüber in einen Hauseingang und sahen uns das Publikum an, kaputte Typen, wenige nur, die vorher im Stadtbild gar nicht aufgefallen waren. Das Kino total heruntergekommen. Dann endlich der Film! Ein rotes Postauto fuhr durch London. Buckingham-Palast, toll. Und dann immer wieder das rote Postauto. Es hielt vor einem wunderschönen Haus. Ein Zusteller überbrachte zwei reizenden jungen Damen ein Päckchen. Spaßiges Gezänk beim Öffnen. Ein Fernglas war drin, Absender unbekannt, ein heimlicher Verehrer?

    „Es ist meins, ich habe doch das Päckchen bekommen, ich darf zuerst!", und entreißt der anderen das Fernglas, hält es an die Augen.

    „Ich sehe ja gar nichts."

    „Du musst das Fernglas scharf stellen!"

    Da klickt es laut hörbar, und zwei dicke Nägel schießen aus dem Fernglas in die Augen. Die junge Frau ist sofort tot. Dann Großaufnahme, wie das Blut aus den Augen schießt. So ging es bis zum Ende des Films. Der Täter war der ermittelnde Kommissar.

    Wir erzählten niemandem von dem Film, nur heimlich stimmten wir dem Lehrer zu, das war wirklich Schund und Schmutz. Aber man hatte die Wahl, die Freiheit. Man brauchte sich so etwas nicht anzusehen. Seither aber laufen solche Filme im Fernsehen. Die kaputten Typen sitzen zu Hause und ziehen sich diese Filme rein. Und ich denke seit damals: Der Umgang mit der grenzenlosen Freiheit ist doch schwer.

    Dann endlich einkaufen. Gleich am S-Bahnhof Gesundbrunnen ging es in ein riesiges sowie ungewöhnlich großes und teures Kaufhaus für die Boys aus dem Osten. „Dieser Boy ist aus dem Osten, er will wissen, was die Sambalatschen kosten", sang man schon für die „Brüder und Schwestern im Osten. Vom besonderen Status des Kaufhauses Gesundbrunnen wusste ich da noch nichts. Gerhard auch nicht. Schon an der Tür wurden wir freundlichst begrüßt: „Die Herren wünschen, bitte?

    Oh, Herren! Mein lieber Mann, das ist doch eine andere Welt.

    „Eine Niethose."

    „Aha, die Herren wünschen eine Jeans."

    Ach so, Jeans heißen die hier. Kann man sich merken.

    Ein Bandmaß wurde angelegt, Beinlänge, Umfang und was sonst noch wichtig schien, fertig. Kein Anstehen.

    „Die Herren, bitte, die Rolltreppe hinauf und dann gleich rechts."

    „Danke."

    Rolltreppe hoch, nur vorsichtig, unauffällig, niemand soll merken, dass wir eine Rolltreppe noch gar nicht kannten. Aber das Staunen wurde schnell und jäh unterbrochen. Ein ebenso freundlicher Herr empfing mich mit einem in wunderschönes Papier eingehüllten Päckchen.

    „Mein Herr, Ihre Jeans wollen Sie bitte dort an der Kasse bezahlen."

    Das kann es doch wohl nicht geben, Niethosen vorrätig und überhaupt, ohne anzustehen, schon passend verpackt. Die Welt schien in Ordnung.

    „Zwanzig Mark, bitte."

    Aua! Hundert Ostmark weg, aber Jeans! Leider konnte man die schöne Verpackung nicht lange genießen, denn ein auffälliges Paket ließ sich nicht über die Sektorengrenze in den Osten schmuggeln. Dieser verdammte Osten! Also trennte man sich schweren Herzens von der Verpackung: Die Jeans einfach in einen unauffälligen Campingbeutel gestopft, obendrauf die letzten Parteitagsdokumente, ab in den Osten, verdammter Osten, zweite Klasse, was? Aber endlich einmal Jeans, die ersten. Übrigens, die Jeans haben nie gepasst, die waren so eng, dass sie nicht über die Waden gingen.

    Die ersten zwanzig Westmark, die ich besaß, waren weg.

    Nur zu einer Herausforderung waren diese Jeans geeignet. Beim Verlassen des Demokratischen Sektors von Berlin waren scharfe Kontrollen vorgesehen: Aha, zwei junge Leute auf dem Motorrad, rechts heraus, Motor abstellen. Hier in den Kontrollraum, warten. Ich konnte kaum gerade gehen dank der Jeans, die nicht über die Waden passten und dadurch im Schritt zu tief hingen – Kunstlederhosen darüber, eben Motorradkleidung Marke Ost. Im Kontrollraum lagen allerlei Broschüren – wieder dieses Parteitagsmaterial. Also alles eingesammelt und in die Brusttasche gesteckt. Da geht auch schon die Tür auf.

    „Kagel, reinkommen!"

    „Waren Sie in Westberlin?!"

    „Nein, wir haben den Bruder des Freundes besucht, der an der Humboldt-Universität studiert."

    Wir hatten uns abgesprochen, beide sollten die gleiche Auskunft geben. Nur nicht identische Sätze. Das bekannte Katz- und Mausspiel.

    „Ausziehen!"

    Pulsfrequenz mindestens 160. Sorgsam legte ich die eingesammelten Parteitagsdokumente auf den Tisch.

    „Was wollen Sie damit?"

    „Die brauche ich für die Schule."

    „Sie können sich wieder anziehen. Gute Weiterfahrt."

    Kann man sich zwei glücklichere Oberschüler der fünfziger Jahre vorstellen als hier an der Sektorengrenze in Schildow, so hieß der Kontrollpunkt in Richtung Norden?

    Nach wenigen Kilometern mussten wir in einem Wäldchen rasten, ich musste mich der lästigen Jeans entledigen. Übrigens fand ich niemanden, dem diese Jeans gepasst hätte. Ich besaß also nie eine West-Jeans, später, in den siebziger Jahren dann eine Ost-Jeans – nachgemacht. Das sollte Freiheit symbolisieren und – ausreichen.

    Großer Zeitsprung – die Flucht, 1988, zweiter Versuch geglückt. In ein unglaubliches Loch bin ich gefallen, gleich nach der Landung in Frankfurt, Frankfurt am Main natürlich. Fünfzehn Monate später sind die Menschen mit Hammer und Meißel dabei, die Mauer abzureißen. Vor dem Fernseher sitze ich mit Inge, wir weinen, wir können uns nicht freuen, wir sind fassungslos. Auch bei Inge kullern die Tränen. Freudentränen sind es nicht, wir sitzen seit unserer Ankunft im Westen noch immer in dem verdammten Loch, und ein BND-Mann kommt alle vier Wochen und warnt uns vor eventueller Entführung eines der Kinder. Nie in ein fremdes Auto steigen! Sie sind hier in Lübeck zu nahe an der Grenze. Und dann die aufdringliche Frage, wie denn der Fluchtweg war. Wie hatte man Hans in Bonn gesagt?

    „Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Fluchtweg bekannt wird, dann sollten Sie es niemanden erzählen, vor allem nicht in Gießen."

    Ich sehe ihn wieder vor mir, den Pykniker hinter dem Schreibtisch des BND in Gießen am zweiten Tag meines unfreiwilligen Rundgangs von Schreibtisch zu Schreibtisch. Am 22. September 1988 sitze ich dem BND-Mann gegenüber.

    Inge ist der ruhende Pol seit unserer Ankunft im Westen. Solange war ich es gewesen, kaum zu erklären und doch wunderbar, wie wir uns ergänzen konnten.

    Die Gedanken wollen sich nicht zähmen lassen, sie kreisen, wollen in die Zukunft und enden doch immer wieder in der Vergangenheit, und dann immer durcheinander in diesem ICE. Die Mauer ist doch weg, was willst du denn noch? Natürlich, wissen will ich es, endlich mehr über die eigene Geschichte erfahren. Gibt es denn eine eigene Geschichte, die ich noch gar nicht kenne? Kann es das überhaupt geben, eine eigene Geschichte, die man nicht kennt? Gibt es das wirklich?

    Nach sieben Jahren Wartezeit haben wir heute einen Termin bei der „Gauck-Behörde" in Berlin, Inge und ich. Die Stasi-Akte liegt zur Einsicht bereit. Eine Akte, von der man nichts wusste. Ein Archiv, von dem man eine Ahnung hätte haben müssen. Wir haben doch da gelebt und das wieder nicht gewusst? Natürlich haben wir es geahnt, die Stasi stand doch oft genug vor der Tür. Schon mit achtzehn Jahren hatten sie mich vor, erst freundlich, dann auch drohend und fordernd. Nur nicht umfallen. Eine einzige Unterschrift hätte genügt. Nur nicht der Stasi dienen! Natürlich, er machte sich Notizen, und er wird sie nicht weggeworfen haben. Es wäre also logisch gewesen zu folgern, dass man eine entsprechende Akte hat. Aber richtig drüber nachgedacht habe ich nie. Kokettiert hat man im Freundeskreis schon mal. „Wahrscheinlich haben die von mir auch eine Akte!"

    Ja, wirklich. Akte sagte man, ohne darüber nachzudenken.

    Krenz und Konsorten sind frei, und die Toten von der Mauer sind schon verfault. Pech hatten sie, die armen Kerle. Es gab ja keinen Schießbefehl, behaupten die Strolche. Der langjährige Vorsitzende des Staatsrates, Honecker, ist seiner Verantwortung entgangen. Er hat den Untergang seines real existierenden Sozialismus noch erlebt, aber nicht begriffen. Nicht nur, weil er schon todkrank war, nein, andere haben die Schuld, wie immer der Klassenfeind. Dabei befand Honecker sich bereits auf dem Abstellgleis, die DDR wirtschaftlich am Ende. Ideologisch war das Lügengebäude sowieso schon seit Jahrzehnten nur noch eine Fassade. Aufgeben wollten die Bonzen nicht, und etwas ändern, dazu waren sie nicht fähig. Vorsichtig intrigieren vielleicht gegen Honecker, aber immer recht freundlich, bitte. Als dieser bei seinem letzten Staatsbesuch in Rumänien plötzlich an einem Gallensteinleiden erkrankte, notfallmäßig nach Berlin geflogen und operiert werden musste, konnte man die Ursache des Gallenwegsverschlusses beseitigen. Hinter vorgehaltener Hand wurde aber bald bekannt, dass man intraoperativ einen Nierentumor gefunden hätte. Aber niemand hätte sich getraut, es ihm zu sagen. Andere Gerüchte verlauteten, dass der Nierentumor entfernt worden sei. Genaues wusste man nicht. Das war wohl teilweise auch ein Frohlocken, so unmenschlich können Genossen untereinander sein, Menschen eben. Nun ist Honecker tot, seine Urne steht in Chile, wohin man den Todkranken flüchten ließ. Mit bundesdeutscher Staatsrente in Chile gestorben – welch eine Ironie. Auch mit bundesdeutschem Pass?

    Den Nachfolger Honeckers, Egon Krenz, hat die SED am 20.01.1990 aus ihrer Partei ausgeschlossen. Diese Partei nannte sich nun SED-PDS. Wollten die anderen sich damit retten, mit einem Bauernopfer? Es läuft ein demokratischer Prozess gegen ihn, trotzdem oder deswegen? Weil er nun alle Schuld auf sich laden soll? Nein, kein Mitleid, aber der eine ist zu wenig. Und ob er verurteilt wird?

    Die demokratisch-juristischen Spätschüsse sind auch verhallt. Der Steuerzahler hat sie bezahlt und muss weiter zahlen. Ob er, der bundesdeutsche Steuerzahler, sich dessen bewusst ist, dass seine Demokratie gar nicht in der Lage ist, eine Diktatur abzuwickeln? Ich habe mich daran gewöhnt, dass Scharen von Juristen bei Fuß standen, um Honecker zu verteidigen und Mielke auch, weil er vor 150 Jahren einen Polizisten erschossen haben soll. Ihn für seine Verbrechen in den letzten vierzig Jahren juristisch zu belangen, ginge nicht, fanden seine Verteidiger. Dazu sei er zu alt. Wenigstens hat er noch einmal einen DDR-Knast von innen gesehen, sicher modernisiert. Um alles zu begreifen, dazu war er doch schon zu alt.

    Nun bin ich bereits seit neun Jahren bundesdeutscher Steuerzahler, und ihr seid es noch viel länger, ihr Demokraten. Ist das der Preis für die Freiheit? Ich zweifle oft oder bin ich immer noch auf der Flucht? Einmal auf der Flucht, immer auf der Flucht? Man muss wohl erst lange in einer Diktatur gelebt haben, um sensibel für die Gefahren zu werden, die der Demokratie drohen. Sollte einfach die Genugtuung reichen, dass dieses Experiment Sozialismus gescheitert ist? Für immer?

    Fragt ein Mütterchen während einer Diskussion den Parteisekretär: „Sagen Sie mal, wer hat eigentlich den Sozialismus erfunden – die Politiker oder die Wissenschaftler?"

    „Natürlich die guten Politiker", lautet die Antwort.

    „Dachte ich es mir doch, denn hätten die Wissenschaftler ihn erfunden, hätten Sie ihn zuvor an Ratten ausprobiert."

    Krenz und Konsorten sagen, nach 1945 wären NS-Täter nicht bestraft worden, nichtsdestoweniger seien Sozialisten bzw. Kommunisten heute Opfer einer Siegerjustiz. Plötzlich solidarisieren sie sich sogar mit den Nazis – na endlich.

    Ja, die Schüsse an der Mauer sind verhallt. Was aber ist denn mit den vielen Schüssen, den Demütigungen, Bevormundungen und Repressalien innerhalb der Mauern der größten DDR der Welt? Natürlich, diese Schüsse waren nicht laut hörbar, aber ihre Druckwelle im übertragenen Sinne war gewaltig. Doch, einen Knall gab es auch, nur andere hörten ihn nicht, schon gar nicht die im Westen. Viele Schüsse machen taub, das wird es gewesen sein. Geknechtet, getreten, betrogen, verraten – was macht das schon? Ihr seid doch jetzt frei, was zählt da ein bisschen Geschichte? Die Historie, die Mutter des Vergessens, des Beschönigens, die Mutter nostalgischer Hingabe, deckt alles wieder einmal zu. So schlimm war es ja nicht – und übrigens, du hast doch Glück gehabt.

    Da sitze ich im Zug nach Berlin im August 1997 – vom Westen in den Osten. Ich kenne bislang die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße nicht, also doch Glück gehabt. Dort hätte man auch nicht eingesessen. Der Stasi-Knast war in Berlin-Hohenschönhausen. Trotzdem ist es eine Reise in die Vergangenheit – heute im ICE. Eine Reise in ein Kapitel unbekannter, eigener Geschichte? Über sechs Jahre nach meinem Antrag auf Akteneinsicht, eigentlich in Rostock, sind vergangen aber die haben nichts gefunden, angeblich. Zufällig lernte ich eine Mitarbeiterin der Gauck-Behörde aus Berlin kennen: „Was, aus Greifswald, da komme ich auch her, habe dort studiert! In Rostock den Antrag gestellt, da können Sie lange warten.

    Ich werde mir Ihren Vorgang mal auf den Tisch holen."

    Vier Wochen später haben wir, Inge und ich, einen Termin in Berlin. Viel Zeit mitbringen, es ist ein ganzer Stapel, hat unsere Gewährsfrau gesagt.

    Aufgeregt und zugleich bewegt sitzen wir im ICE. Mensch, genieß doch dein Glück und bleibe zu Hause! Bleib doch, wo du bist, verdammte Erinnerung! Aber sie will nicht weichen. Würde ich sonst schreiben, in einem Zugabteil? Es ist kein Problem, in diesem ICE zu schreiben, weil er so lautlos daher gleitet, nicht ruckelt, wie der alte D-Zug im alten Osten von Greifswald nach Berlin. In Berlin besuchte ich Inge all die Jahre. Ähnlich fuhr ich vorher nach Glauchau bei Karl-Marx-Stadt. Daraus wurde wieder Chemnitz. Dorthin hatten sie Inge geschickt. Auch, weil sie wussten, dass wir seit zwei Jahren unzertrennlich waren, und diese Unzertrennlichkeit haben sie benutzt. Vor allem aber, weil auch Inge bei der Stasi nicht unterschrieben hat, das war der Grund. Weichklopfen wollten sie Inge, aber es gelang nicht. Wir nahmen die zehn Stunden Bahnfahrt in Kauf, umsteigen in Berlin, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Zwickau. Ein privates Telefon gab es nicht für kleine Leute. Aber Liebesbriefe konnten sie nicht unterbinden.

    Fang an, fang doch an, Menschenskind, fang endlich an zu schreiben, haben schon so viele zu mir gesagt, wenn ich über unsere Vergangenheit erzählte. Und plötzlich schlägt die Erinnerung mit voller Wucht zu, besonders heute: die vielen lautlosen Schüsse, deren Treffer noch immer schmerzen. Aber sie sind auch nichts im Vergleich zum persönlichen Glück. Geglückte Flucht, kein DDR-Knast. Und ich denke an Freunde, denen die Realität eines DDR-Zuchthauses nicht erspart geblieben ist.

    Gedanken gegen Gedanken – vergangene und gegenwärtige, gegenwärtige und zukünftige, gegeneinander, miteinander, geordnet, ungeordnet, spontan oder gezielt, beinahe schon vergessen und plötzlich wieder da. Aufwühlend in jedem Fall.

    Du bist doch schon ganz schön alt, mein lieber Mann. Merkst du eigentlich, dass du von West nach Ost fährst? Wessi und Ossi, so blöd habe ich mir die Formulierungen nach der Wende nicht vorgestellt. Aber, ich fahre nach Berlin. Nach Berlin war einst ein Zauberwort. Gegen die Bestimmungen des Viermächtestatus nannten die Ulbrichts und Honeckers diese Stadt: „Berlin-Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik."

    „Ich muss morgen nach Berlin" – das war einst ein Zauberwort. Es klang nach Beziehung, hatte Bedeutung, löste Ängste aus, schüchterte ein. Immer? Alle? Lass die Klinkenputzer ruhig fahren, war mein Argument. Nicht käuflich werden. Keine Angst zeigen. Angst haben, ist etwas anderes, aber nie zeigen. Eine gute Waffe. Allen Mut zusammennehmen, keine Angst zeigen, dabei immer sachlich bleiben und hellwach. Überlegen sein. Es war ihr Machtinstrument, Angst zu verbreiten, um die Menschen im Lande zu beherrschen.

    1975. Unfallchirurgenkongress in Bratislava. Prima gelaufen. Vortrag über Gefäßdiagnostik bei bösartigen Knochentumoren gehalten. Der Knochenpapst Poppe aus Göttingen, aus dem Westen, möchte das Manuskript zur Publikation. Toll, ganz stolz – ätsch! Glückliche Rückfahrt mit der Eisenbahn, die noch rattert. Liegewagen geleistet, ist ja eine Dienstreise. Fahrkostenerstattung war nie ein Problem. So schlecht war es doch gar nicht in der DDR, oder? Mitternacht Bad Schandau, Grenze. Da ist sie wieder, die Angst! Nicht zeigen! Der Grenzer durchwühlt alles und wird fündig. Nicht die vielen Hochglanzprospekte der Westfirmen. Nein, die Deutschstunde von Siegfried Lenz. 1968 erschienen. Schund- und Schmutzliteratur aus dem kapitalistischen Westen. Beschlagnahmt. Wo arbeiten Sie? Aha, an einer sozialistischen Universität? Und dann westliche Druckerzeugnisse?! Da ist sie wieder mit ihrer Fratze, diese Methode: Angst machen.

    „Ihren Dienstausweis, bitte, und Ihre vorgesetzte Dienststelle!", fordere ich schroff.

    Ein Blickwechsel. Angst auf beiden Seiten. Ich spüre, die Sache funktioniert. Er kann seine Angst nicht verbergen, hat es ja auch nie gelernt. Dazu braucht es Training.

    „Ihren Dienstausweis, aber zügig!", wiederhole ich meine Forderung.

    „Ein Zollbeamter der DDR, der die wichtigste Nachkriegsliteratur der Bundesrepublik nicht kennt, zumal auch in der DDR verlegt, hat auf diesem Posten nichts zu suchen. Wenn ich nicht spätestens in Dresden mein Buch wiederhabe, sind ihre Tage als Grenzsoldat der DDR zu Ende!"

    Der Grenzer zieht seinen Dienstausweis, ich schreibe Name, Dienstbuchnummer und Dienststelle auf – keine Angst zeigen. Kommentarlos geht er. In Dresden dann ein vorgesetzter Genosse mit dem Grenzer im Schlepptau und entschuldigt sich für das Verhalten. Ich hatte meinen Lenz wieder. Gute Weiterfahrt! Na, also, geht doch. Der real existierende Sozialismus, nicht kalkulierbar. Ich denke, die Genossen werden sich noch lange den Kopf darüber zerbrochen haben, was das wohl für ein hohes Tier war, dem sie da begegnet waren.

    Heute sitze ich also im ICE nach Berlin – dieser nun wirklich großen Stadt – und niemand schaut mich ängstlich an. Dabei trage ich doch einen Schlips. Krawattenträger im D-Zug nach Berlin wurden vor Zeiten immer beargwöhnt. Beziehungen? Wer weiß?

    Bald muss die Zonengrenze von Helmstedt kommen, Entschuldigung, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik. Ach ja, beides gibt es ja seit fast acht Jahren nicht mehr. Was wohl mein Grenzer von 1975 gerade macht? Ist er noch General geworden oder hat ihn die Zeit einfach überrollt? Versonnen schaue ich aus dem Fenster des Zuges, Verzeihung, aus dem Fenster des ICE.

    Da, war das eben nicht die ehemalige Grenze? Sie ist kaum noch als solche erkennbar. Nicht einmal eine Gedenksekunde ist möglich. Dabei hätte ich ein kurzes Innehalten verdient! Ach nein, ich doch nicht! Ich hatte ja Glück! Und außerdem, ich fahre von West nach Ost. Da muss sich heute keiner verstecken. Aber die Angst fuhr früher auch in dieser Richtung mit, war Begleiter auch der Menschen, die aus einem freiheitlich demokratischen Umfeld kamen, um ihre Verwandten zu besuchen. Manchem im Westen galt dennoch die DDR als Alternative zur BRD. „Diese doofen Achtundsechziger, fährt es mir durch den Kopf. Immerhin gestanden sie ein: aber die Mauer! Falsch, ganz falsch, der Sozialismus war das Übel. Die Mauer, diese Haustür für unser Zuhause hätte legitim sein können, wenn sie nicht gegen uns gerichtet gewesen wäre. Ich wie die meisten anderen auch konnte „unser Haus nie verlassen, zumindest nicht in Richtung Westen zu Kongressen, was so wichtig gewesen wäre. Und ich hatte doch so viele Einladungen, war aber im eigenen Haus eingesperrt. Warum habt ihr Demokraten eigentlich immer Angst gehabt an der Grenze? Ich weiß, ihr habt den Umgang mit der Angst nicht geübt, ihr konntet sie nicht verbergen. Keine Angst zeigen, Junge, das war es! Und früh habe ich die Lektion gelernt. Ich war gerade im ersten Semester. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft war im April 1960 erfolgreich beendet worden – freiwillig natürlich. Falls ich jemals schreibe schreib das alles doch einmal auf – dann muss ich die Zeit der Zwangskollektivierung unbedingt in allen Einzelheiten erwähnen.

    Um eine Erklärung werde ich dann ringen müssen, warum die Eltern damals, 1960, nicht schon abgehauen sind. Dieses Abhauen ist der feine rote Faden, an den man sich so viele Jahre geklammert hat.

    In diesem ICE von Westfalen nach Berlin kreisen die Gedanken durch die erlebte Geschichte. Wo soll da noch verborgene Geschichte existieren?

    Mein Blick fällt auf Schmierereien an den Wänden und auf den Sitzen. Ich kann es nicht fassen, wer macht so etwas? Wo fängt Freiheit an – vor allem – wo muss sie enden? Für eine stattliche Zahl von Menschen, so scheint mir, besteht Freiheit darin, sich von Verantwortung zu befreien. Demokratie bedeutet doch wohl, bitteschön, auch Disziplin und Selbstdisziplin zu wahren. Oder? Aber würde ich mich trauen, solch einen Schmierfinken zur Rede zu stellen? Oder eher Angst haben, eins in die Fresse zu bekommen? So ein wunderbarer Zug, denke ich. Die zweite Klasse der Bundesbahn, viel besser ausgestattet als die erste Klasse der Deutschen Reichsbahn einer nicht mehr existierenden DDR. Erste Klasse, Deutsches Reichsbahn, im Sozialismus. Ja, es gab eine erste Klasse im Sozialismus. Es war aber besser, nicht dazuzugehören.

    Warum waren sie vierzig Jahre möglich, diese Schüsse innerhalb der Mauer? Schüsse, die niemand hörte, oder doch? Aufschreiben, Junge, schreibe das endlich auf. Ja, ich höre euch, ich schreibe doch gerade!

    In einem wunderschönen ICE fange ich nun an. Im Zug, der nur so dahin gleitet, nicht rattert. Eher holpern meine Gedanken! Bequem sitze ich an einem Tisch im Großraumwagen zweiter Klasse.

    „Du in deiner Position fährst zweiter Klasse?"

    Mein Gott. Ist denn das so wichtig?

    Heute soll ich meine Stasi-Akte sehen, das ist wichtig. Vierzig Jahre Schüsse innerhalb der Mauer. Hatte jemand auch auf mich angelegt, auf meine Familie? Oder haben viele nur angelegt und gar nicht gezielt? Oder zur Täuschung gezielt und bewusst danebengeschossen? Versöhnliche Gedanken schleichen sich ein, berechtigt. Ich hatte ja Glück, immer.

    Ein demokratischer Staat versucht nun also seit Jahren, diese Diktatur abzuwickeln und findet nur Biedermänner. Wo sind sie denn geblieben, die unser Leben geprägt und vergiftet haben? Ich kannte solche, treffe ich heute wohl auf neue Namen in meiner Akte? Hilflosigkeit steigt auf in mir. Soll ich umkehren? Nein, Rachegefühle habe ich nicht. Eine persönliche Aufarbeitung vielleicht einmal. Mir hilft wieder das alte Ventil des politischen Witzes, das im Volk gut funktionierte und oft drastisch Heiterkeit auslöste.

    Im Biologieunterricht wird die Entwicklung der Schweine durchgenommen. Fritzchen soll aus der letzten Biologiestunde referieren. Er fängt forsch an: „Wenn Schweine geboren werden, heißen sie Ferkel und werden von der Mutter, die man Sau nennt, gesäugt. Wenn die Ferkel etwas gewachsen sind, heißen sie Läufer."

    Da endet sein Wissen und die Lehrerin will helfen.

    „Na, Fritzchen, was wird denn mit den Schweinen, wenn sie groß sind?", will sie wissen.

    „Dann werden sie (G)genossen!", verkündet Fritzchen freudig.

    Waren viele Schweine Genossen oder zu viele Genossen Schweine? Vergeben und vergessen? Heute wird womöglich eine Teilgeschichte lebendig, meine eigene, die mir bisher gar nicht vertraut war. Oder soll ich sie ruhen lassen?

    Nein, ich bin entschlossen. Ich will meine Akte sehen! Für heute habe ich den Termin und die Bundesbahn, der ICE bringt mich nach Berlin, in die Normannenstraße, die alte Stasi-Zentrale.

    Am 26. August 1988 landeten wir Fünf in Frankfurt am Main. Heute wird alles noch einmal lebendig werden: Akteneinsicht mit einem persönlichen Betreuer der Gauck-Behörde. Wenn nur der Zug mich endlich in Berlin-Zoo ausspucken würde! Dann könnte ich über meinen Weg wieder selbst bestimmen. Die Normannenstraße liegt im Ostteil der Stadt. Soviel ist klar. Aber erst einmal Berlin-Zoologischer Garten – für meinen ICE heute Endstation. Wieder öffnet sich das alte Ventil, ein politischer Witz kommt mir in den Sinn bei dem Stichwort Endstation.

    Bald nach Kriegsende, damals, als viele glaubten, dass es nur besser werden würde, und noch mehr zweifelten, ob es denn überhaupt jemals wieder besser werden könnte, und erste Züge und Straßenbahnen schon wieder verkehrten, die aber niemand vollschmierte, stammt einer der wohl ersten Witze. Aus der Zeit also, als man mit Holzbänken noch sehr zufrieden war, sogar mit einem Stehplatz vermutlich. Aus einer Zeit, als man das Stehen auch noch viel länger durchgehalten hätte als heute: „Meine Herrschaften, Endstation, alles aussteigen, meine Herrschaften, ruft eine freundliche Schaffnerin. Da tritt ein Fahrgast auf sie zu und sagt: „Hören Sie mal, Genossin, das mit den Herrschaften ist jetzt vorbei, wir bauen einen Arbeiter- und Bauernstaat auf.

    Auf einer der nächsten Fahrten hört dieser Genosse Fahrgast die Schaffnerin rufen: „Arbeiter und Bauern aussteigen, wir sind am Ende!"

    Gut vierundvierzig Jahre hat das Warten auf das Ende gedauert, vierzig Jahre davon DDR.

    Bahnhof Zoo. Die Riesenschlange ICE hält und speit Hunderte von Menschen aus. Sie eilen davon, als würden sie einer Gefahr entfliehen wollen. Hektik überall. Auf in die Zukunft oder nur zum Shopping für einen Tag Berlin? Oder zur Arbeit. Verfluchte Arbeit? Ob noch einer hier auf dem Bahnsteig weiß, dass die DDR eine Verfassung hatte, die das Recht auf Arbeit garantierte? Ich habe den Eindruck, man müsste für manchen Zeitgenossen heute daraus eine Pflicht zur Arbeit machen, jedoch Respekt haben vor denen, die tatsächlich aber keine Arbeit finden.

    Ich will zurück in die Vergangenheit. Wie lang wird diese Reise? Und wem soll ich davon erzählen? Es ist ja nur ein Steinchen aus dem großen Mosaik der Nachkriegszeit, der Zeit des geteilten Landes. Aber will denn noch jemand zuhören? Ich bin voller Zweifel. Oft wurde ich gefragt, warum ich so spät abgehauen sei, da ich doch unversöhnlich mit den Genossen da drüben gewesen sei. Natürlich, es ist eine späte komplette Offenbarung dieser Unversöhnlichkeit gegenüber einem System, das nur daran arbeitete, die Unentrinnbarkeit aus diesem zu perfektionieren. Und doch konnte ich ihm entkommen – im August 1988. Heute werde ich erfahren – im August 1997 – ob und wie weit man mir auf den Fersen war. Auch – wer mir und wann man mir konkret auf den Fersen war? Hatte Vernichtung gedroht durch Menschen, mit und neben denen ich einige Jahrzehnte auf Erden ganz zufällig das Dasein teilen durfte oder musste? Alles kommt wieder hoch, die innere Wut und der versteckte Stolz, das Unkalkulierbare im DDR-Alltag. Bloß keine Angst zeigen, dann bist du verloren! Die Verhöhnung und Vernichtung der Individualität war angestrebt – Leistung zählte wenig.

    Ein schlechter Genosse ist besser als ein guter Arzt, hatte Krempin während einer obligaten vierwöchentlichen Maleweibi gesagt. Maleweibi, so nannten die wissenschaftlichen Mitarbeiter unter sich die marxistisch-leninistischen Weiterbildungen. Krempin meinte es verdammt ernst. Das war der Grund, weshalb wir diese Veranstaltungen sehr locker nahmen. Deshalb fühlten wir uns überlegen und taten, was wir für richtig hielten, und sagten, was sie hören wollten. Diese Überlegenheit ließ uns Demütigung, Ungerechtigkeit und sogar Verrat ertragen. Ein ungebrochener Stolz hat auch mich am Leben erhalten. Eine Überlebensstrategie, die Schüsse innerhalb der Mauer zu ertragen und eine kleine Ecke Herz zu bewahren. Ich hatte mich eingerichtet, im Privaten meine eigene Mauer gebaut und mich so gut es ging abgeschirmt. Wir hatten uns eingerichtet, unsere Familie hatte sich eingerichtet. Das war der starke Pfosten, an den man sich lehnen konnte.

    Nun bin ich im sicheren ICE. Nicht nur mich schmerzen noch immer Erfahrungen aus dem DDR-Alltag. Sie werden auch andere Betroffene wie ein chronischer Rheumatismus durch ihr Leben begleiten. Mein Kumpel, der ICE von Westfalen nach Berlin, hört mir geduldig zu. Wer sonst noch?

    Zeit soll ich mitbringen, viel Zeit, sagte die Dame am Telefon bei der endgültigen Terminabsprache zwecks Akteneinsicht. Es sei ein ganzer Stapel. Vielleicht bin ich deshalb heute so aufgewühlt.

    Das leise Summen und Rauschen meines ICE bringt mich zurück in die Realität. Heute macht dieses Summen und Rauschen gar nicht müde. Ich bin nicht nur aufgeregt, sondern auch bedrückt. Plötzlich wird mir bewusst, was mich belastet. Nicht meine Stasi-Akte und nicht die Vergangenheit mit der Angst, die ich nie zeigte. Das kostete Kraft. Nein, heute bin ich besorgt und beklemmt. Manchmal fühle ich mich sogar bedroht. Besorgt und beklemmt, das ist es, bedroht wäre zu egoistisch, und es ist ja auch keine persönliche Bedrohung. Richtig, die Demokratie, die ich seit neun Jahren erleben darf, die freiheitlich-demokratische Ordnung ist bedroht. Aber durch wen? Zuallererst durch die tägliche Sorglosigkeit – durch eure Sorglosigkeit, ihr Demokraten! Jetzt habe ich es – eure Sorglosigkeit, ihr Demokraten, ist die Ursache dafür, dass Gefühle einer Bedrohung wieder aufkommen können. Ihr oder wir passen nicht mehr auf. Es geht uns zu gut. Hurra! Der Kalte Krieg ist vorbei, wir haben gewonnen! Wir vergessen sogar, an einen Regenschirm zu denken, wenn dunkle Wolken aufziehen. Der Kalte Krieg ist schließlich vorbei. Hurra!

    Dabei war er nur kurz zu Ende, der Kalte Krieg, oder gar nie ganz zu Ende. Die Glut hält sich lange, und so viele holen schon wieder Luft, um hineinzublasen in diese Glut. Sie wollen Flammen sehen, die Flammen einer Revolution. Zugegeben, an manchen Stellen gibt es schon wieder überreichlich, das macht neidisch. Und Neid lässt sich schüren. Nebenbei – die Neidgesellschaft ist längst etabliert, der Krieg vergessen. Wohlstand individualisiert die Menschen.

    Bedrohung, ja, Bedrohung ist das richtige Wort. Endlich habe ich es. Eine saturierte Gesellschaft ist auch eine Bedrohung, sie bedroht sich selbst. Sogar im Schlaf oder gerade weil sie schläft – einen satten, wohligen und tiefen Schlaf. Oh, Freiheit, die ich meine, sagte der Klassiker. Wahlfreiheit, die ich liebe, sagt der heutige Bürger und versteht darunter die Freiheit, nicht zur Wahl zu gehen und sich von Verantwortung freizumachen. Die Linken werden eines schlechten Tages allein zur Wahl gehen und gewinnen – weil die anderen zu Hause geblieben sind. Dann wird verteilt, was es zu holen gibt. Zum Glück reicht das nicht ewig.

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