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Vier Juden auf dem Parnass
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Vier Juden auf dem Parnass

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About this ebook

Die Philosophen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, der Religionshistoriker Gershom Scholem, der Komponist Arnold Schönberg: vier große jüdische Denker des 20. Jahrhunderts, vier Wege jüdischen Selbstverständnisses und vier Lebensgeschichten durch die Abgründe des 20. Jahrhunderts, in denen sich als fünfter Weg auch die Biografie von Carl Djerassi selbst spiegelt.
Djerassi lässt diese vier Männer in Dialogen unmittelbar zu Wort kommen. So führt er die Leser ein in ihre Gedankengebäude und lotet aus, welche Bandbreite die Bedeutung des Wortes "Jude", in Hinblick auf Herkunft wie auf Religion oder Politik, abdecken kann. Zugleich erlaubt Djerassi auf der Basis fundierter Recherche aber auch völlig neue Einblicke in die privaten Lebensbereiche von Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg und lässt sie über Freundschaften und Frauenbeziehungen, über Sexualität und Pornographie erzählen.
Ein wichtiges Thema ihrer Gespräche ist auch Paul Klee, der als Prototypus des "nicht-jüdischen Juden" und insbesondere über sein 1920 geschaffenes Werk "Angelus Novus", mit dem Adorno und Benjamin sich intensiv beschäftigten, präsent ist.
Die Auseinandersetzung mit Paul Klee durchzieht auch die Fotokunstwerke, die Gabriele Seethaler für diesen Band geschaffen hat und die Djerassis in gedanklicher Schärfe funkelnden Text begleiten und ergänzen.
Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner.
Gabriele Seethaler, geboren 1964 in Linz. Biochemikerin und Fotokünstlerin an den Übergängen zwischen Kunst und Wissenschaft. Ausstellungen u.a. in Rom, Paris, Mailand, Brüssel, New York, Berlin und Wien.
LanguageDeutsch
PublisherHaymon Verlag
Release dateJul 12, 2013
ISBN9783709975022
Vier Juden auf dem Parnass

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    Vier Juden auf dem Parnass - Carl Djerassi

    habe.

    1. VIER MÄNNER

    Parnass der, griech. Parnassos, Kalkgebirge in Mittelgriechenland nördlich des Golfs von Korinth (bis 2 457 m ü.M.). Am Südfuß liegt Delphi. Der Parnass galt in der Antike als der Sitz des Apoll und der Musen; daher in übertragener Bedeutung auch „Reich der Dichtkunst".

    Der Parnass ist eine allgemein akzeptierte Metapher für die höchste Anerkennung literarischer, musikalischer oder intellektueller Leistungen. Die Ankunft auf diesem erhabenen Gipfel beweist, dass der Prozess der Kanonisierung abgeschlossen ist. Das eigentliche Thema des folgenden Quintetts von Gesprächen ist im Grunde eine eingehende Untersuchung des Verlangens nach Kanonisierung sowie des Prozesses, wodurch diese erreicht wird. Von meinen vier Protagonisten gelangte nur Walter Benjamin – der heute als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Philosophen und gesellschaftskritischen Literaten des 20. Jahrhunderts gilt – postum auf den Parnass. Die anderen drei hatten ihn schon vor ihrem Tod erreicht. Zur Zeit seines Selbstmords im Jahre 1940 attestierte nur ein kleiner Kreis vorwiegend deutscher Intellektueller – darunter Theodor Adorno, Hannah Arendt, Bertolt Brecht und Gershom Scholem – Benjamin das Format für den Parnass. Inhalt und Stil seiner Schriften waren so komplex, ja sogar verschlungen, der Umfang seiner Interessen so breit gefächert und seine Veröffentlichungen so fragmentarisch, dass nur wenige Zeitgenossen und insbesondere Adressaten seiner Briefe und Nachdrucke in der Lage waren, die außerordentliche geistige Tiefe und Spannweite dieses großen Denkers zu erfassen und zu würdigen. Um Hannah Arendt zu paraphrasieren: Um Berühmtheit zu erlangen, genügt nicht die Meinung einiger weniger. Erst als seine Schriften ab den 50er-Jahren von Adorno, dessen Frau Gretel und Scholem gesammelt und herausgegeben wurden, fand Benjamin in Europa Anerkennung. Das entscheidende Ereignis in Amerika war 1968 die Veröffentlichung der englischen Übersetzung der berühmtesten Essays von Benjamin, die Hannah Arendt unter dem Titel Illuminations zusammengestellt hatte, zu einer Zeit, als Benjamin bereits auf dem Parnass etabliert war. Aber wie Arendt in der Einleitung zu Illuminations schreibt: „Postume Berühmtheit ist etwas zu Sonderbares, um die Blindheit der Welt oder die Korruption eines literarischen Milieus dafür verantwortlich zu machen." Aber es muss auch der richtige Zeitpunkt sein, und das postnazistische, von der marxistischen Dialektik beherrschte Klima der 60er-Jahre, das 1968 in der Studentenbewegung kulminierte, war ideal.

    Ich habe gewisse Regeln und Bedingungen für den Parnass erfunden, auf dem meine vier Protagonisten schließlich noch einmal zusammenkommen. Benjamin hatte seine Freunde Adorno und Scholem um ein Treffen gebeten, um Aufklärung über einige ihm fehlende Fakten zu erhalten, da auf meinem postmodernen Parnass alles, was zu Lebzeiten einer Person und seit ihrer Ankunft auf dem Parnass geschah, bekannt ist. Es besteht sogar Internetzugang und die Möglichkeit, ähnlich wie bei Amazon, neu erschienene Bücher zu bestellen, aber es gibt weder E-Mail-Verbindung mit der Außenwelt noch kann man neue Werke hervorbringen. Worin liegt dann Benjamins Problem? Da er als einziger postum auf den Parnass kam, weist sein autobiografisches Wissen eine Lücke auf zwischen seinem Selbstmord im September 1940 und seiner Ankunft auf dem Parnass zwei Jahrzehnte später. Können die beiden ihm helfen, diese Lücke zu schließen?

    In den aberhundert einschlägigen Büchern und in Tausenden von Artikeln tritt das Trio Benjamin, Adorno und Scholem häufig gemeinsam auf. Aber was ist mit der Anwesenheit des Vierten, mit Arnold Schönberg? Es gibt keinerlei Beweise, dass Benjamin oder Scholem dem Komponisten je begegnet sind. In der Tat lassen nicht einmal Benjamins Schriften irgendeine Affinität mit oder ein Interesse an Schönberg erkennen, obwohl ich im Folgenden ein nachweisbares, bislang unbekanntes entferntes Verwandtschaftsverhältnis schildere. Adorno dagegen stand sein Leben lang mit Schönberg in Verbindung. 1925, als er Anfang Zwanzig war und bereits eine Doktorarbeit in Philosophie vorgelegt hatte, ging Adorno nach Wien, um bei Alban Berg, Schönbergs berühmtestem Schüler, Kompositionslehre zu studieren. Jahrelang hatten sie eine respektvolle, aber streitbare Beziehung⁴, die auf eine schwere Probe gestellt wurde, als Schönberg Adorno beschuldigte, ihn verzerrt dargestellt zu haben, als er Thomas Mann bei der Entwicklung der Hauptfigur, des Zwölfton-Komponisten Adrian Leverkühn, seines Romans Doktor Faustus beriet. Schönberg verzieh Mann später, Adorno dagegen nicht.

    Aber das ist nicht der Grund, warum ich das Trio durch Schönberg ergänzt habe. Ich brauchte ihn sowohl als wichtige Kontrastfolie wie auch als Akteur in den Kapiteln 2, 3 und 4, weil die Kanonisierung, um die es in diesen Kapiteln immer wieder geht, nicht nur Personen betrifft, sondern auch Kunstwerke, einschließlich Kompositionen. Arnold Schönberg hat ein vierhändiges Schachspiel, das Bündnisschach, erfunden. Die Grundregeln dieses Schachspiels sind wie folgend: Zwei der vier Spieler haben 12 Schachfiguren (gelb und schwarz) zu ihrer Verfügung und repräsentieren somit die beiden „starken Mächte, während die anderen zwei nur sechs Figuren besitzen (grün und rot) und somit die „schwachen Mächte darstellen. Nach den ersten drei Zügen ergeben sich zwei „Koalitionen" indem sich eine der schwachen Mächte einen starken Partner zum Bündnis auswählt. Das Spiel setzt sich nun fort bis eine Partei schachmatt ist.

    Da die Gesprächskonfrontationen meiner Protagonisten geradezu als Folge von sozialem Schachspiel betrachtet werden können, die sowohl Angriff-Abwehr als auch kollaborative Züge aufweisen, führte Gabriele Seethaler visuelle Modifikationen von Schönbergs Bündnisschach als Leitmotiv für die fünf Kapitel ein – für sich allein schon ein attraktives fotorealistisches Gambit.

    Und nun möchte ich Ihnen meine vier Schachspieler vorstellen, bevor wir uns ihren Ehefrauen zuwenden.

    Max Bruchs Kol Nidrei setzt ein, beginnend mit dem vollen Klang des Cellos

    SCHÖNBERG: Schluss! (Musik bricht abrupt ab) Heute ist Jom Kippur … der Versöhnungstag, an dem das Kol Nidrei gespielt wird. Aber warum immer das von Max Bruch? Zumindest hier oben, auf dem Parnass, wollen wir zur Abwechslung einmal meine Version hören. Ohne die Cello-Sentimentalität von Bruch. Das Kol Nidre braucht das gesprochene Wort … nicht nur Musik!

    Schönbergs Kol Nidre (Opus 39)soll mit den letzten 20 Sekunden der Einleitung beginnen, bevor die Männerstimme einsetzt mit: „Die Kaballah erzählt uns folgende Legende: Am Anfang sprach Gott: ‚Es werde Lich‘", und vorzugsweise endend

    mit: „Be-yeshivah shel malah ube-yeshivah shel malah".

    ADORNO: Genug! (Musik bricht abrupt ab) Ich verstehe, was Sie meinen, aber hier geht es nicht um Musik – ob Zwölfton- oder sonst eine Methode.

    SCHÖNBERG: Warum haben Sie mich dann hergebeten? Ich kenne die beiden anderen doch gar nicht.

    ADORNO: Aber Sie haben schon von ihnen gehört.

    SCHÖNBERG: Von jedem auf dem Parnass hat man schon gehört … irgendwann. Das heißt nicht, dass man sie kennenlernen muss.

    ADORNO: Aber Sie waren doch einverstanden.

    SCHÖNBERG: Ihnen zuliebe. Nicht, dass Sie es verdient hätten … nach allem, was Sie mir mit Thomas Mann angetan haben.

    ADORNO: Maestro! Nicht jetzt. Ich war nicht derjenige, der Sie in Manns Doktor Faustus aufgenommen hat. Das war seine Entscheidung. Bedenken Sie, was Sie in Manns Buch gelesen hätten, wenn ich ihm Ihre Musik nicht erklärt hätte.

    SCHÖNBERG: (widerwillig) Na gut … ein andermal. Aber warum wollten Sie, dass ich herkomme? Was habe ich mit Benjamin und Scholem zu tun?

    ADORNO: Sie sollen unser Dreieck durch Ihre Anwesenheit zum Quadrat erheben.

    SCHÖNBERG: (ironisch) Sehr witzig! Aber was ist, wenn daraus ein Parallelogramm wird?

    ADORNO: Das Risiko gehe ich ein … wenn es nur kein Dreieck bleibt. Im übrigen brauchen wir einen Außenstehenden.

    SCHÖNBERG: Worum geht es?

    ADORNO: Um Benjamin. Walter Benjamin. Oder sofern Sie seinen vollen ursprünglichen Namen wollen, den er nie benutzt hat, (langsam und deutlich) Walter Bendix Schönflies Benjamin.

    WALTER BENDIX SCHÖNFLIES BENJAMIN

    SCHÖNBERG: Ach, ja … Schönflies, der Mädchenname seiner Mutter. Ich habe das überprüft … und bin auf etwas ganz Erstaunliches gestoßen. Warten Sie, bis ich ihn damit überrasche … Namen und Stammbäume haben mich schon immer interessiert. Sie selbst wurden geboren als Theodor Ludwig Wiesengrund –

    ADORNO: (unterbricht) Adorno nicht zu vergessen,

    SCHÖNBERG: (lacht) Dazu wollte ich gerade kommen, als Sie mich unterbrachen. Wie viele Leute kennen Sie, Theodor Adorno, als (langsam und deutlich) Theodor Ludwig Wiesengrund-Adorno? Hier oben vermutlich niemand.

    ADORNO: Das ist unerheblich.

    SCHÖNBERG: Im Gegenteil. Ihr voller Name bot mir genügend Buchstaben, um mich mit einem Anagramm dafür zu rächen, wie Sie mich bei Thomas Mann hingestellt haben. Wollen Sie es hören?

    ADORNO: Darauf kann ich verzichten.

    SCHÖNBERG: Das Anagramm ist zwar auf Englisch, aber einfach zu schön und zutreffend: „Oh, down did treason grow, under guile! Es vereint also sowohl „treason, den Verrat, als auch „guile", die Arglist.

    ADORNO: Autsch … das hat gesessen! Aber hören Sie sich lieber an, was wir zu sagen haben.

    SCHÖNBERG: Geht es um Musik?

    ADORNO: Nicht, wenn es nach Benjamin geht. Er kann nicht einmal Noten lesen. In puncto bildende Kunst sieht die Sache natürlich anders aus. Zu diesem Thema hat er einen der maßgeblichsten Artikel des letzten Jahrhunderts geschrieben.

    SCHÖNBERG: Aber hat er je etwas gemalt?

    ADORNO: Wer über Kunst schreibt, muss nicht zwangsläufig ein bildender Künstler sein. Aber das sollten Sie als Maler ihn selbst fragen. Hören Sie zunächst einmal zu.

    SCHÖNBERG: Ich höre nie zu, ohne zu unterbrechen. Das sollten Sie aus Ihrer Zeit in Wien wissen.

    ADORNO: Dann unterbrechen Sie eben … wenn es sein muss. Aber hören Sie erst zu. Hier kommt er mit Gershom Scholem.

    THEODOR W. (WIESENGRUND) ADORNO

    ADORNO: Adorno! Theodor Adorno, wenn ich bitten darf! Nicht Wiesengrund!

    BENJAMIN: (lächelt schief) Natürlich. Theodor Adorno. (beiseite gesprochen) Wir Juden! Die einen wollen ihren Namen verheimlichen … und die anderen prahlen damit. Zum Beispiel Gerhard Scholem.

    SCHOLEM: Gershom Scholem, wenn ich bitten darf! Nicht Gerhard! Zumindest nicht jetzt!

    GERSHOM SCHOLEM

    BENJAMIN: Sogar du, Gerhard, wirst hier oben empfindlich. Ich redete dich früher immer mit „mein lieber Gerhard" an, bis zu meinem Ableben. Aber da wir uns im Nach-Leben befinden, füge ich mich deinen Wünschen. Du, Gershom Scholem, bist nach Jerusalem gegangen und 85 Jahre alt geworden, während Narren wie ich in Europa blieben. Selbst Arthur Koestler schaffte es nach London … und starb erst, als er knapp 78 war. Ebenfalls durch Selbstmord … Aber ein Selbstmord im Alter von 48 Jahren lässt sich nicht mit einem Selbstmord mit 78 vergleichen. Und ich gab ihm auch noch die Hälfte meines Tablettenvorrats! Er hätte am gleichen Tag sterben können wie ich. (Pause) Aber was wäre, wenn ich noch 30 Jahre gelebt hätte? Man gehe in jede beliebige Bibliothek und wird dort meine gesammelten Schriften in 17 Bänden vorfinden … darunter aber kaum ein richtiges Buch. Wenn ich es nach Spanien geschafft hätte, und von dort aus weiter, und so lange gelebt hätte wie Koestler, wären es dann 34 Bände geworden … einschließlich einiger Bücher? In einem Punkt bin ich mir allerdings sicher. Wenn ich es nach Amerika geschafft hätte, dann hätte selbst ich mich (mit englischer Aussprache) Walter Benjamin genannt … und nicht Walter Benjamin. Oder hätte ich mir einen anderen Namen zugelegt? Ich schrieb einmal unter „Detlef Holz. Ein merkwürdiger Name für einen Juden … Detlef. Und Holz? „An dir ist nichts Hölzernes, hat Gerhard … entschuldige, Gershom Scholem … einmal gesagt. Aber jeder Mensch hat etwas Hölzernes: sei es die Einstellung … die Bewegung … oder sogar das Herz. Aber lassen wir Detlef Holz beiseite, denn es gab noch ein anderes und wesentlich wichtigeres Pseudonym … Agesilaus Santander! Scholem dachte, er hätte herausgefunden, wofür es stand … im Gegensatz zu fast allen anderen … einschließlich meiner Biografen. Keiner von ihnen hatte mich je persönlich kennengelernt. Ich war tot … seit Jahren tot, bevor sie mir Beachtung zu schenken begannen.

    SCHOLEM: (langsam und deutlich) Agesilaus Santander! Dunkle Worte in der Tat! Aber die letzten drei Buchstaben … D E R … schienen mir der Schlüssel für ein raffiniertes Anagramm zu sein. „Der Angelus Satanas."

    BENJAMIN: Raffiniert? Ja. Aber für Anagramme gibt es Regeln. Dein satanischer Engel hat 17 Buchstaben, mein Pseudonym aber 18!

    SCHOLEM: Mir waren für Agesilaus Santander auch Anagramme mit 18 Buchstaben eingefallen: Saul Andreas Agstein oder Stanislaus Adaneger. Doch die sagten nichts aus … außer dass sie Anonymität boten. „Der Angelus Satanas" erschien mir so zutreffend, dass ich bereit war, den fehlenden Buchstaben in Kauf zu nehmen.

    BENJAMIN: Wenn du schon eine Bedeutung in diesen Namen hineinlesen willst, dann gebe ich dir einen Tipp. Wo habe ich das erste Mal über ihn geschrieben?

    SCHOLEM: In Spanien?

    BENJAMIN: Richtig. Und Santander liegt in Spanien, in der Nähe von Bilbao.

    SCHOLEM: Und Agesilaus?

    BENJAMIN: Ein obskurer König von Sparta, der eine Beinverletzung hatte.

    SCHOLEM: SO obskur, dass selbst ich noch nie von dieser Verletzung gehört habe.

    BENJAMIN: Genau aus diesem Grund habe ich ihn gewählt … und weil ich ein ähnliches Problem mit meinem Bein hatte!

    SCHOLEM: Das Ganze begann als eine Art Monolog – ein parnassischer Monolog, der sich vor und zurück bewegt. Phantastisch, dachte ich. Damals in Berlin habe ich dir immer mit Begeisterung zugehört. Da war ich noch keine 20.

    BENJAMIN: Aber so frühreif!

    SCHOLEM: Ein Waisenknabe, verglichen mit dir.

    BENJAMIN: Aber mir scheint, du wolltest dich beschweren.

    SCHOLEM: Ein parnassischer Monolog braucht mehr Dramatik … mehr Emotionen.

    BENJAMIN: Ich reflektiere, ich gebe mich keinen Emotionen hin. Und wenn du dramatische Monologe willst, dann lies Shakespeare. Er benutzt Hamlets Monologe, um die Subjektivität seiner Bühnenfigur zu illustrieren … was es im englischen Theater davor noch nie gegeben hatte.

    SCHOLEM: Dieser Monolog ist im Begriff, zu einem Vortrag auszuarten … noch dazu über das Theater? Warum? Weil sich dein erstes Buch mit dem „Ursprung des deutschen Trauerspiels" befasste? Der Parnass ist nicht der Ort für Vorträge … auch wenn einige seiner Bewohner nur deswegen hier herauf gelangten!

    BENJAMIN: Niemand weiß besser als du, wie schwer ich um eine Anstellung an einer Universität gekämpft habe … ohne sie je zu bekommen. Aber warum betrachtest du es nicht als einen Vortrag aus dem Grab? Auf diese Weise fangen wir jedenfalls alle auf der gleichen Seite an.

    SCHOLEM: Aber an wen richtet er sich? Wir sind hier nur zu dritt … und zwei von uns kennen dich beinahe besser, als du dich selbst kennst. Worum geht es dir bei deinem introspektiven Vortrag?

    BENJAMIN: Um Fakten! Fakten … fehlende Fakten.

    SCHOLEM: Selbstreflexion beruht auf eigener Kenntnis. Auf den Fakten, die einem bekannt sind.

    BENJAMIN: Bei mir ist das anders.

    SCHOLEM: Das hast du schon immer behauptet.

    BENJAMIN: Diesmal ist es ein anderer Unterschied. Die Fakten, die mir bekannt sind, enden im September 1940. Jetzt spreche ich vom Parnass aus, der unerwartete Ausblicke auf die jüngste Vergangenheit bietet, und natürlich auf die Zukunft. Aber was war, bevor ich auf den Parnass kam? Meine eigene Kenntnis weist ein riesiges Loch auf … die fast 20 fehlenden Jahre nach meinem Ableben.

    ADORNO: Warum ein so sanftes Wort für ein so tragisches Ereignis?

    BENJAMIN: Na schön … Selbstmord. Ich weiß nicht, wo ich begraben wurde, abgesehen von dem, was ihr beide mir erzählt habt … dass mein so genanntes Grab in Port Bou gar nicht mein Grab ist. Was passierte wirklich mit meinem Leichnam … und meiner Aktentasche … und vor allem mit ihrem Inhalt?

    SCHOLEM: Jetzt kommen wir der Sache langsam näher. Es geht gar nicht um deine Gebeine oder deine Asche … sondern nur um den Inhalt der Aktentasche. Und der hat etwas mit Walter Benjamin auf dem Parnass zu tun … alles Übrige ist nur von touristischem Interesse.

    SCHÖNBERG: (unterbricht) Moment mal! Einen Moment!

    BENJAMIN: (verblüfft) Wer sind Sie?

    SCHÖNBERG: Schönberg. Arnold Schönberg.

    BENJAMIN: Ich wusste nicht, dass Sie auch hier sind.

    SCHÖNBERG: Ich war schon vor Ihnen allen hier.

    BENJAMIN: Aber wie sind Sie hierher gekommen?

    ARNOLD SCHÖNBERG

    SCHÖNBERG: Auf den Parnass? Soll das ein Witz sein?

    BENJAMIN: (entschuldigend) Nein … nein. Ich meine nicht auf den Parnass, sondern hierher, zu diesem … wie soll ich sagen … persönlichen Rückblick auf fehlende Fakten? Mit zwei Freunden, die diese vielleicht kennen?

    SCHÖNBERG: Mein Freund Wiesengrund …

    BENJAMIN: Teddie?

    ADORNO: Adorno!

    SCHÖNBERG: Wiesengrund-Adorno. Er bat mich zu kommen.

    ADORNO: Ich dachte, ein Unparteiischer könnte nützlich sein.

    BENJAMIN: Als Richter oder Gutachter?

    ADORNO: Keiner von uns braucht einen Richter …

    SCHOLEM: Ich hatte noch nie etwas für Gutachter übrig. Welcher Kabbala-Gelehrte würde je einen Gutachter begrüßen?

    ADORNO: Er ist schlicht als Beobachter hier.

    BENJAMIN: (zu Schönberg) Schade, dass wir uns nie begegnet sind. In Berlin zum Beispiel … wir lebten zur gleichen Zeit dort.

    SCHÖNBERG: Wir sind übrigens verwandt.

    BENJAMIN: (erstaunt) Sie und ich?

    SCHÖNBERG: Genau gesagt … verschwägert. Über Ihre Mutter und meine zweite Frau, Gertrud.

    BENJAMIN: Wie war ihr Mädchenname?

    SCHÖNBERG: Kolisch.

    BENJAMIN: Die Schwester von Rudolf Kolisch? Ich habe in Paris einige seiner Konzerte besucht. Aber ich weiß von keinem Kolisch in meiner Familie.

    SCHÖNBERG: Es war alles mütterlicherseits. Die Familie meiner Frau hieß jeweils zwei Generationen lang Hoffmann, dann Biedermann und schließlich Freistadt, um dann im 17. Jahrhundert bei einem Pressburg zu landen … Michl Simon Pressburg.

    BENJAMIN: Ein Verwandter von Sara Lea Pressburg? Der Urgroßmutter von Heinrich Heine?

    SCHÖNBERG: Dann haben Sie also von ihr gehört.

    BENJAMIN: Sie war meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter. Meine Mutter brüstete sich immer mit unserer Beziehung zu Heine.

    SCHÖNBERG: Ihre Sara und der Michl Pressburg meiner Frau waren Geschwister. Willkommen in der Verwandtschaft!

    ADORNO: (überrascht) Nicht zu glauben! Ich kenne Rudolf Kolisch seit Jahren, und wir beide kennen uns seit Mitte der 20er-Jahre, aber keiner hat diese Beziehung je erwähnt.

    SCHÖNBERG: Nun, sie war auch nicht gerade Stadtgespräch. Ich bin erst vor kurzem darauf gestoßen, als ich hörte, dass ich Sie drei treffen würde.

    BENJAMIN: Aber wie haben Sie das herausgefunden? Sie sind Komponist …

    SCHÖNBERG: Und Maler …

    BENJAMIN: Zugegeben. Aber auch Ahnenforscher?

    SCHÖNBERG: Kaum. Aber was wäre wenn? Sie sind Sozialkritiker … ein kritischer Philosoph … ein philosophischer Historiker …

    SCHOLEM: Und Literaturkritiker, nicht zu vergessen. Viele von uns … darunter Bertolt Brecht … hielten Walter für den größten deutschen Literaturkritiker seiner Zeit!

    BENJAMIN: Genug!

    SCHÖNBERG: Und dazu noch Graphologe …

    BENJAMIN: Was ist dagegen einzuwenden? Die Graphologie vermittelt viele Einblicke …

    SCHÖNBERG: Einblicke welcher Art? Bestenfalls … vage Vermutungen, wenn nicht gar reine Spekulation. Bei der Ahnenforschung hat man es mit Geschichte zu tun … mit unanfechtbaren Fakten!

    SCHOLEM: Ich wüsste zu gern, ob Walter und ich auch verwandt sind.

    SCHÖNBERG: Ich habe Sie alle überprüft. Benjamin und Schönberg über Kolisch sind die einzigen.

    BENJAMIN: Genug davon. Was soll diese Unterbrechung?

    SCHÖNBERG: Die Regeln! Wie lauten die Regeln bei diesem „Jenseits-des-Grabes"-Treffen? Für mich sind Regeln wichtig.

    ADORNO: Das glaube ich … sonst wären Sie nie auf die Zwölftonmethode gekommen.

    SCHÖNBERG: Es muss Regeln geben … Und nicht nur in der Musik. Denken Sie an mein Bündnisschach.

    BENJAMIN: Sagten Sie „Schach"? Scholem und ich … und auch Brecht und ich … haben früher einmal recht gut Schach gespielt. Aber Ihr Schach? Ich habe noch nie von einem Schönberg-Zug gehört, geschweige denn von Schönbergs Bündnisschach.

    SCHÖNBERG: Ein Spiel für vier Personen … statt für zwei. Ich habe sogar die Figuren entworfen.

    BENJAMIN: Vierhändiges Bündnisschach? Ich dachte, beim Schach geht es darum zu gewinnen und den Gegner matt zu setzen. Man lernt doch nie aus! Nicht einmal im Grab.

    SCHÖNBERG: Grab im allgemeinen … oder Ihr eigenes?

    BENJAMIN: Gute Frage. Sprechen wir über mein Grab.

    SCHÖNBERG: Einen Moment! Hier oben auf dem Parnass gibt es Regeln … Verhalten, das unstatthaft ist … schlechtes Benehmen, das toleriert wird … und vor allen Dingen die Bedeutung der Zeit. Bedenken Sie, dass ich schon länger hier oben bin als Sie alle. Und dass ich der einzige bin, der noch dort unten lebte,

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