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Allgemeine Psychologie I
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Allgemeine Psychologie I

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Die Allgemeine Psychologie I bildet für Studierende den Einstieg in die Psychologie. Um dieser Zielgruppe gerecht zu werden, werden die Themen Perzeption, Kognition und Handeln in diesem Lehrbuch kompakt und leicht verständlich vermittelt.
Das in allen Kapiteln einheitliche Konzept spiegelt die empirische und naturwissenschaftliche Arbeitsweise in der Allgemeinen Psychologie wider. Phänomene und Theorien werden mit Alltagsbeispielen erläutert, neurobiologische Grundlagen erklärt und empirische Studien vorgestellt.
LanguageDeutsch
Release dateJun 12, 2014
ISBN9783170254701
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    Es war sehr hilfreich und lehrhaft während meiner Prüfungsphase, kann es daher nur empfehlen

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Allgemeine Psychologie I - Johannes Schiebener

1         Die Allgemeine Psychologie

Im ersten Kapitel dieses Buches wird erklärt, was die Allgemeine Psychologie ist und was sie von anderen Bereichen der Psychologie unterscheidet. Sie werden erste Grundprinzipien der wissenschaftlichen Arbeitsweise in der Allgemeinen Psychologie kennenlernen. Wenn Sie dieses Kapitel gelesen haben sind Sie dadurch bereits in der Lage wissenschaftlich begründete psychologische Annahmen von alltäglichen Annahmen, wie sie häufig von Laien getroffen werden, zu unterscheiden. Außerdem werden Sie erfahren, wie eng die Psychologie mit der Biologie des Gehirns verbunden ist und werden auch gleich den groben Aufbau des Gehirns kennenlernen.

1.1       Einleitung

Psychologische Themen wecken bei Menschen häufig großes Interesse. Sicher haben Sie auch schon angeregte Gespräche miterlebt, in denen es in irgendeiner Weise um die Beschaffenheit der menschlichen Psyche ging. In solchen Alltagssituationen betrachten viele Personen sich gerne selbst als die besten Psychologen: Sie glauben zu wissen, was in anderen vorgeht oder welche psychologischen Gesetzmäßigkeiten einem Verhalten zugrunde liegen. Häufig wird man dabei auch mit sogenannten alltagspsychologischen Aussagen und Ansichten konfrontiert, wie zum Beispiel »Gleich und Gleich gesellt sich gern«, »Gegensätze ziehen sich an«, »Wir glauben nur, was wir sehen« oder »unserer Wahrnehmung können wir nicht trauen« (auch in der wissenschaftlichen Literatur wurden alltagspsychologische Ansichten und Irrtümer bereits thematisiert, z. B. von Kelley, 1992).

Die subjektive Überzeugung vieler Menschen, das notwendige Wissen über Psychologie schon aus Alltagserfahrungen und (teilweise widersprüchlichen) Sprichwörtern ableiten zu können, ist einer der Gründe dafür, dass die Psychologie es als Wissenschaft nicht immer leicht hatte. Hinzu kommt, dass es Irrtümer über die Arbeit in der Psychologie gibt, wie zum Beispiel, dass Psychologen nur zuhören können müssen, oder dass es lediglich etwas sprachliches Geschick verlangt, eine psychologische Arbeit zu schreiben. Entgegen dieser Irrtümer ist die Psychologie ohne Zweifel als eine Wissenschaft zu betrachten und ist als solche längst vollwertig anerkannt.

1.2       Die Psychologie als Wissenschaft

Merke

Die Psychologie ist definiert als die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten. Ihre Aufgabe ist es, Erleben und Verhalten systematisch zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen.

Die psychologische Forschung arbeitet mit systematischen und planvoll konzipierten empirischen Methoden mit dem Ziel, aus den Ergebnissen Schlussfolgerungen über Ursache-Wirkungszusammenhänge zu ziehen. Dabei werden auf der Suche nach der Wahrheit die gleichen Kriterien angelegt wie in anderen Naturwissenschaften: Schlussfolgerungen können und dürfen nur aus dokumentierten, faktischen Beobachtungen und Messungen gezogen werden.

Dabei muss in der Psychologie regelmäßig eine besondere Schwierigkeit überwunden werden: Der Gegenstandsbereich der Forschung besteht aus inneren psychischen Prozesse. Diese sind nicht sichtbar und damit auch nicht direkt messbar. Es gab in der Geschichte der Psychologie unterschiedliche Ideen, diesem Problem zu begegnen. So wurde von einigen Wissenschaftlern mit Introspektion gearbeitet (die Versuchspersonen sollten »in sich hineinschauen« und beschreiben, was in ihnen vorgeht. Siehe z. B. Boring, 1953). Die Verfechter einer anderen Strömung, des Behaviorismus, waren überzeugt, dass sich innere Prozesse aus äußerlich beobachtbarem Verhalten ableiten ließen und dass dies der einzige Weg des Erkenntnisgewinns sei, nicht zuletzt weil lediglich das Verhalten als Beobachtung der Wahrheit gültig sei (siehe z. B. Watson, 1925). Heute wird in der Forschung sowohl mit Erlebnisdaten (z. B. erfasst mit systematisch konzipierten Fragebögen) als auch mit Verhaltensbeobachtungen gearbeitet (z. B. in standardisierten Aufgaben). Mithilfe dieser Methoden können, wie Sie in diesem Buch auch sehen werden, elegante Studien konzipiert werden, aus denen überzeugende Schlussfolgerungen möglich sind.

Merke

Das wichtigste methodische Prinzip in der allgemeinpsychologischen Grundlagenforschung ist das Laborexperiment.

Darin wird die Versuchssituation streng kontrolliert, um den Einfluss von Störvariablen zu minimieren. So sollen Alternativerklärungen für Verhaltensänderungen so weit wie möglich ausgeschlossen werden. Wenn die gezielte, durch den Versuchsleiter systematisch herbeigeführte Änderung einer Situationsbedingung dann zu einer Änderung im Erleben oder Verhalten führt, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese auf die Änderung der Situationsbedingung und nicht auf andere, zufällig oder systematisch vorliegende Störvariablen zurückzuführen ist.

Solche Untersuchungen im Labor klingen auf der einen Seite sehr naturwissenschaftlich kontrolliert, könnten auf der anderen Seite auch als alltagsfern kritisiert werden. Gerade für die Grundlagenthemen der Allgemeinen Psychologie bieten sie aber eine zuverlässige Möglichkeit, Ursache-Wirkungszusammenhänge festzustellen. In einigen Anwendungsdisziplinen dagegen kann es unter Umständen aufschlussreicher sein, das Verhalten in einer natürlicheren Situation zu beobachten. und so die sogenannte ökologische Validität der Ergebnisse zu verbessern.

Wie in anderen Wissenschaften auch, ist man sich in der Psychologie der Möglichkeit des eigenen Irrtums bewusst. Auch aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist bekannt, dass scheinbar gesicherte Erkenntnisse später doch widerlegt wurden. Deshalb arbeitet die Psychologie nach dem Falsifikationsprinzip (Popper, 1968). Zunächst werden Theorien aufgestellt, aus denen sich in Studien überprüfbare Hypothesen ableiten lassen. Die Theorien sollen so formuliert sein, dass ihre Annahmen mit empirischen Daten widerlegbar ( falsifizierbar) sind. In Studien wird dann nicht nach Beweisen gesucht, sondern nach Gegenbeweisen. Hypothetische Annahmen gelten als gestützt, wenn Versuche sie zu falsifizieren – also Gegenbeweise zu finden – scheitern. Da endgültige Beweise kaum möglich sind, werden bei wissenschaftlichen Schlussfolgerungen – im Gegensatz zu alltagspsychologischen Behauptungen – häufig recht vorsichtige Formulierungen gewählt.

Solche systematischen empirischen Arbeiten zeigen nicht selten, dass Annahmen, die im Alltag über psychologische Vorgänge getroffen werden, Irrtümer oder unangemessene Verallgemeinerungen beinhalten. Einiges von dem, was Menschen glauben aus ihren subjektiven Beobachtungen im Alltag zu wissen, wird aber auch durch Studien gestützt. So kann es vorkommen, dass Sie beim Lesen über diese Studien einiges aus Ihrem Alltag wiederentdecken.

1.3       Die Allgemeine Psychologie

Die psychologische Forschung lässt sich in verschiedene Teildisziplinen unterteilen. Dieses Buch befasst sich mit der Allgemeinen Psychologie, die zum Ziel hat, Erkenntnisse über das Allgemeine im menschlichen Erleben und Verhalten zu gewinnen (und natürlich es zu beschreiben, zu erklären, und vorherzusagen).

Merke

Dabei interessiert sich die Allgemeine Psychologie vorwiegend für allgemeingültige Prinzipien und universelle Gesetzmäßigkeiten im Erleben und Verhalten von Menschen. Das heißt auch, dass über Unterschiede zwischen Menschen abstrahiert wird.

Es wird also untersucht, welche Gesetzmäßigkeiten im Erleben und Verhalten für die meisten Menschen gelten. Dabei muss natürlich im Einzelfall akzeptiert werden, dass diese Funktionsprinzipien für einzelne Individuen nicht oder nur eingeschränkt gelten. Es geht also häufig um allgemeine Effekte, wie zum Beispiel den Effekt, dass die meisten Menschen auf Signalfarben schneller reagieren als auf weniger starke Farben und es geht um die Mechanismen, die diesem Effekt zugrunde liegen. Das Gegenstück zur Allgemeinen Psychologie ist die Differentielle Psychologie, die sich vor allem für individuelle Unterschiede interessiert (z. B. in Fähigkeiten, Persönlichkeit usw.).

Die Themen der Allgemeinen Psychologie könnte man als die Grundlagen der Psychologie bezeichnen. Dabei werden gezielt Teile dessen untersucht, was das Ganze des menschlichen Erlebens und Verhaltens ausmacht. Oft werden Lehrveranstaltungen und Lehrbücher zur Allgemeinen Psychologie in zwei Teile aufgeteilt. Die Bereiche der Allgemeinen Psychologie 1, die Gegenstand dieses Buches sind, sind typischerweise Perzeption, Kognition und Handeln. Darunter sind die folgenden Themen zu fassen: Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Handeln und Handlungssteuerung, Lernen und Gedächtnis, Denken und Problemlösen sowie in jüngerer Zeit auch Entscheiden. Die Allgemeine Psychologie 2 befasst sich mit den Themen Motivation und Emotion.

Aufgrund der Grundlagenorientierung sind Befunde der Allgemeinen Psychologie für eine Vielzahl von Alltagssituationen relevant. Sie ergänzen sich auch mit den Befunden in spezialisierten psychologischen Disziplinen wie klinischer Psychologie, Medienpsychologie, Verkehrspsychologie oder Wirtschaftspsychologie (um nur einige in alphabetischer Reihenfolge zu nennen).

1.4       Psychologie, neurobiologische Grundlagen und physiologische Prozesse

Die Daten aus psychologischen Verhaltensexperimenten können dank moderner Technologien heute auch durch physiologische Messdaten (z. B. Herzrate, Hautleitfähigkeit, etc.) ergänzt werden. Besonders die Funktionen des Gehirns sind für die Psychologie von großem Interesse. Schließlich ist das Hirn sozusagen der Sitz der Psyche oder anders ausgedrückt, das Organ, das unser Erleben und Verhalten ermöglicht und steuert. Die im Gehirn stattfindenden Prozesse waren aber lange Zeit kaum zugänglich und schon gar nicht »live« beobachtbar. Ein besonders beeindruckender Fortschritt ist die Möglichkeit, sogar am lebendigen Organismus Hirnprozesse sichtbar und dadurch beobachtbar zu machen. Dies ist insbesondere mit der heute schon zum Standard gewordenen funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) möglich. Heutzutage werden die neurobiologischen Grundlagen als ein wichtiger Bestandteil des Wissens über psychologische Phänomene betrachtet.

Neben dem Gehirn wird auch der restliche Körper nicht mehr als unabhängig von psychologischen Prozessen betrachtet. Schon lange werden »Körper und Geist« nicht mehr als getrennte Systeme gesehen (siehe z. B. Damasio, 1994). In Experimenten werden Verhaltensdaten nicht selten gezielt mit physiologischen Daten wie der Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit oder Augenbewegungen kombiniert, um den Erkenntnisgewinn zu erweitern.

1.5       Aufbau der Kapitel dieses Buches

Die Kapitel dieses Buches orientieren sich an den Arbeitsprinzipien der psychologischen Forschung: Es gibt ein psychologisches Phänomen, das im Labor oder im Alltag beobachtet wurde, wie zum Beispiel ein Wahrnehmungserlebnis, kognitive Fähigkeiten oder bestimmte Verhaltensweisen. Zu diesem Phänomen werden – oft basierend auf ersten empirischen Beobachtungen – systematisch Theorien gebildet. Außerdem gibt es Annahmen darüber, welche neurobiologischen Prozesse dem Phänomen zugrunde liegen. Die aufgestellten Theorien können mithilfe von experimentellen Studien gestützt oder falsifiziert werden und dadurch zum Erkenntnisgewinn beitragen. Deshalb besteht jedes Kapitel in diesem Buch aus einer Einleitung, in der die thematisierten Phänomene kurz umrissen werden. Darauf folgen wichtige Theorien zum jeweiligen Themenbereich sowie ein Überblick über neurobiologische Grundlagen. Aufgrund der wichtigen Rolle des Laborexperiments in der Allgemeinen Psychologie und zur Demonstration experimenteller Techniken, werden am Ende eines jeden Kapitels ein bis drei ausgewählte Studien vorgestellt. Daraufhin schließt jedes Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung.

Bevor das Buch mit den spannenden Inhalten der Allgemeinen Psychologie startet, befasst sich der folgende Abschnitt mit den neuroanatomischen Grundlagen. Hierbei werden lediglich die wichtigsten Gehirnstrukturen kurz beschrieben, die für die in diesem Buch beschriebenen Phänomene zentral sind. Der interessierte Leser sei auf einschlägige Werke der biologischen Psychologie verwiesen (wie zum Beispiel Bösel, 2008; Ehlert, La Marca, Abbruzzese & Kübler, 2013; Kandel, Schwartz & Jessell, 1996; Kolb & Whishaw, 1996; Pritzel, Brand & Markowitsch, 2009).

Die neuroanatomische Grundkenntnisse, die im Folgenden erläutert werden, sind erforderlich, um die vielen interessanten Phänomene, mit denen sich dieses Buch beschäftigt, nachvollziehen zu können. Das Gehirn erbringt erstaunliche Leistungen, die dem Menschen im Alltag häufig gar nicht bewusst sind.

1.6       Neuroanatomische Grundlagen

1.6.1    Die Hirnrinde

Das Gehirn ist ein faszinierendes Organ. Wenngleich wir bislang die Komplexität des Hirns erst im Ansatz verstehen, sind einige Grundprinzipien im Aufbau und der Funktionsweise bereits gut beschreibbar. Selbstverständlich gibt es über einzelne Individuen hinweg leichte Unterschiede, was zum Beispiel die Größe einzelner Hirnstrukturen angeht. Auch gibt es geschlechtsspezifische Differenzierungen. Darüber hinaus zeigen sich die Händigkeit, das Alter und Lernerfahrungen auf Hirnebene. Dennoch gibt es insgesamt mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen Personen. Diese Gemeinsamkeiten – das heißt die Grundordnung des Hirns – werden wir in den folgenden Abschnitten zusammenfassen. Dabei arbeiten wir uns von oben nach unten vor, das heißt wir beginnen mit der Ummantelung des Hirns.

Die Hirnrinde, der cerebrale Cortex, ist eine entwicklungsgeschichtlich sehr junge Struktur. Der äußere Mantel der Hirnrinde, der Neocortex, besteht aus sechs Schichten von Nervenzellen.

Merke

Der Neocortex lässt sich in vier Lappen einteilen: den Frontallappen, den Temporallappen (Schläfenlappen), den Parietallappen (Scheitellappen) und den Occipitallappen (Hinterhauptslappen).

Die vier Lappen des Neocortex sind in Abbildung 1.1 Teil A zu sehen. Hinzu kommt noch ein entwicklungsgeschichtlich älterer Lappen, der sogenannte Allocortex. Dieser besteht aus drei bis fünf Schichten von Nervenzellen und liegt in der Mitte des Hirns, ist also der zur Mitte liegende Mantel der beiden Hirnhälften. Dieser wird auch limbischer Lappen genannt ( Abb. 1.1 Teil B). Jeder Lappen besteht aus einer Reihe von Windungen, den sogenannten Gyri (Singular: Gyrus). Die Furchen zwischen den Windungen nennt man Sulci (Singular: Sulcus). Die Windungen haben sich im Laufe der Phylogenese (Entwicklungsgeschichte) entwickelt, um trotz der Begrenzung durch den Schädelknochen eine Vergrößerung der Oberfläche der Hirnrinde zu erreichen.

Abb. 1.1: Die Lappen des Neocortex (A) und der limbische Lappen (B). Adaptiert nach Paulsen und Waschke (2010) bzw. Pritzel et al. (2009)

Die vier Lappen des Neocortex und der limbische Lappen sind an vielen kognitiven Funktionen maßgeblich beteiligt. Wir werden in den einzelnen Kapiteln herausarbeiten, dass beispielsweise der Hinterhauptslappen die zentrale Sehrinde ist. Teile des Temporallappens sind mit dem Hören assoziiert. Ein Teil des Parietallappens ist die Hauptregion zur Verarbeitung des Tastsinns. Und Teile des Frontallappens steuern unsere Bewegungen. Über diese Grundfunktionen hinausgehend sind aber einzelne Bereiche des Cortex einzeln oder gemeinsam an vielen weiteren Hirnleistungen beteiligt. So ist beispielsweise der hintere Teil des Parietallappens auch in die Verarbeitung visueller Reize (vor allem von sich bewegenden Objekten) involviert. Der mittlere Teil des Temporallappens ist wichtig für Lernen und Gedächtnis. Der vordere Teil des Frontallappens – der präfrontale Cortex – ist für komplexe Funktionen der Handlungsplanung und -steuerung, sowie für Arbeitsgedächtnis, Problemlösefertigkeiten, Verarbeitung widersprüchlicher Informationen und Inhibitionskontrolle, Selbstreflexion und viele weitere Funktionen wichtig, die dem Menschen einen großen Teil jener Fähigkeiten und Eigenschaften verleihen, die ihn vom Tier unterscheiden.

1.6.2    Limbisches System

Das limbische System besteht aus Strukturen im Inneren des Gehirns. Dazu zählen im Wesentlichen die Amygdala, die Hippocampusformation und der Gyrus cinguli. Diese Strukturen gehören zum Allocortex und damit zum Großhirn ( Abb. 1.2). Des Weiteren werden aber auch Teile des tiefer liegenden Zwischenhirns zum limbischen System gezählt, wie die Mamillarkörper und Teile des Thalamus (auf den wir in Kap. 1.6.4 eingehen). Die Hauptaufgaben des limbischen Systems sind die Verarbeitung von Emotionen sowie Lernen und Gedächtnis.

1.6.3    Basalganglien

Die Basalganglien liegen ebenfalls – wie der Name auch suggeriert – im tiefen Inneren des Gehirns ( Abb. 1.3). Die meisten Strukturen der Basalganglien gehören dennoch zum Großhirn. Dies sind vor allem die folgenden Kerne: Nucleus caudatus, Claustrum und Nucleus lentiformis. Der Nucleus lentiformis

Abb. 1.2: Hauptstrukturen des limbischen Systems. Abbildung adaptiert nach Pritzel et al. (2009)

Abb. 1.3: Die wichtigsten Basalganglien des Groß-, Zwischen und Mittelhirns. Abbildung adaptiert nach Pritzel et al. (2009)

lässt sich weiter unterteilen in das sogenannte Putamen und den Globus pallidus (und dies sind auch die Bezeichnungen, die üblicherweise verwendet werden). Phylogenetisch zählt die Amygdala auch zu den Basalganglien. Da sie jedoch funktional mehr Gemeinsamkeiten mit den bereits genannten limbischen Strukturen hat, wird sie – wie beschrieben – zum limbischen System gezählt (sie ist sogar die limbische Struktur par excellence). Über die genannten Großhirnstrukturen hinausgehend gehören auch die Substantia nigra (schwarze Substanz) des Mittelhirns und der Nucleus subthalamicus des Zwischenhirns zu den Basalganglien. Nucleus caudatus und Putamen werden häufig auch als Neostriatum (oder von manchen nur als Striatum) bezeichnet. Auch der Nucleus accumbens des basalen Vorderhirns steht mit Teilen der Basalganglien in Verbindung und wird nicht selten als ventrales Striatum oder Paläostriatum bezeichnet. Die Basalganglien sind in die Steuerung der Willkürmotorik maßgeblich beteiligt. Auch bei motivationalen Prozessen spielen sie eine wesentliche Rolle. Der Nucleus accumbens wiederum ist stark mit der Verarbeitung von Belohnungen verbunden.

1.6.4    Thalamus und Hypothalamus

Der Thalamus und der Hypothalamus sind die beiden Hauptstrukturen des Zwischenhirns. Hinzu kommen ein paar weitere Strukturen (z. B. Mamillarkörper, Nucleus subthalamicus). Der Thalamus ist ungefähr taubeneigroß und die größte Umschaltstation im Gehirn. Die Informationen aus allen Wahrnehmungssystemen werden auf dem Weg vom Sinnesorgan zur Hirnrinde im Thalamus zwischengeschaltet. Lediglich die Geruchsinformation erreicht schon direkt die Hirnrinde, wird jedoch parallel auch im Thalamus verschaltet. Der Thalamus besteht aus einer Reihe von funktionellen Einheiten, den thalamischen Kernen, die teilweise hoch spezialisiert sind. Beispielsweise ist der Nucleus geniculatus lateralis der thalamische Sehkern und der Nucleus geniculatus medialis der thalamische Hörkern. Andere Kerne – etwa der mediodorsale Kern – sind mit einer ganzen Reihe von Hirnstrukturen verbunden und in komplexe kognitive Funktionen und Gedächtnisleistungen involviert. Eine Grobeinteilung des Thalamus ist in Abbildung 1.4 dargestellt.

Abb. 1.4: Die verschiedenen Kerne und Kernregionen des Thalamus. Abbildung adaptiert nach Pritzel et al. (2009)

Der Hypothalamus befindet sich unterhalb des Thalamus (und etwas weiter vorne) und besteht aus einer recht wirr erscheinenden Anordnung einzelner Kerne. Einige dieser Kerne befinden sich direkt neben dem Seitenventrikel (Ventrikel sind flüssigkeitsgefüllte Hohlräume im Gehirn) oder in der Nähe der Sehbahnkreuzung. Von dieser Nähe zur Sehbahnkreuzung haben sie ihren Namen, wie zum Beispiel die präoptischen Kerne des Hypothalamus oder der Nucleus supraopticus. Die Hypothalamuskerne sind insbesondere an motivationalen Aspekten des Verhaltens beteiligt, wie Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, an sexuellem Verhalten und der Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Diese Funktionen werden auch durch die Steuerung der Hormonausschüttung aus der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) gewährleistet, mit der einzelne Kerne des Hypothalamus direkt verbunden sind. Die Hypophyse besteht aus zwei Lappen, einem vorderen und einem hinteren. Neurale Verbindungen, das heißt Verbindungen mittels Nervenzellen, zwischen Hypothalamuskernen und der Hypophyse gibt es nur zum hinteren Lappen. Informationen aus anderen Hypothalamuskernen erreichen den Vorderlappen der Hypophyse über ein kleines Gefäßsystem, das sogenannte Pfortadersystem. Deswegen heißt auch der Hypophysenhinterlappen Neurohypophyse und der Hypophysenvorderlappen Adenohypophyse.

1.6.5    Mittelhirn

Unterhalb des Zwischenhirns liegt das Mittelhirn. Hier befinden sich eine Reihe von Kernen und Kerngebieten, die sehr unterschiedliche Funktionen haben. Ein Beispiel ist die Substantia nigra, auf die wir schon kurz im Abschnitt »Basalganglien« ( Kap. 1.6.3) eingegangen sind. Auch ist der rote Kern (Nucleus ruber) zu nennen, der an der Steuerung der Motorik beteiligt ist. Hinten im Mittelhirn gelegen ist die Vierhügelplatte (das Tectum), die aus den oberen und unteren Colliculi besteht. Die oberen (superioren) Colliculi sind in der Verarbeitung visueller Information, der visuellen Aufmerksamkeit und der Steuerung der Augenbewegungen involviert. Die unteren (inferioren) Colliculi sind an der Verarbeitung auditiver Information beteiligt. Vorne im Mittelhirn liegt die Area tegmentalis ventralis, die zusammen mit dem Nucleus accumbens das mesolimbische Belohnungssystem bildet. Hier gibt es Empfangsstellen (Rezeptoren), an denen nahezu alle Drogen bzw. psychoaktive Substanzen wirken. Recht mittig gelegen verläuft der Aquäductus cerebri, eine Art »Abwasserkanal«, über den Flüssigkeit aus den Ventrikeln abgeführt wird. Um den Aquäductus cerebri herum liegen viele Kerne von Nervenzellen, weswegen diese Substanz grau erscheint (die Fortsätze von Nervenzellen, die Axone, sind durch Gliazellen umgeben und erscheinen deswegen weiß/gelblich). Das sogenannte periaquäductale Grau enthält eine Reihe von Rezeptoren für körpereigene Opiate (die Endorphine) und ist in die Vermittlung bzw. Unterdrückung der Schmerzwahrnehmung eingebunden.

1.6.6    Kleinhirn

Das Kleinhirn (Cerebellum) liegt hinter dem Mittelhirn und Hirnstamm, unterhalb des Großhirns. Das Kleinhirn hat auch eine Rinde, den sogenannten cerebellären Cortex. Im Inneren des Kleinhirns liegen vier Kerne: Nucleus dentatus, Nucleus globosus, Nucleus emboliformis und Nucleus fastigii. Das Kleinhirn ist wesentlich an der Steuerung der Motorik beteiligt, etwa an der Kalkulation von Kraft und Zielausrichtung, und integriert Informationen aus dem vestibulären System mit aktuellen Handlungsplänen. Dafür gibt es sogar einen eigenen Bereich des Kleinhirns, das sogenannte Vestibulocerebellum, das aus dem Floculus und dem Nodulus besteht.

1.6.7    Hirnstamm

Im Hirnstamm liegen die Kerne der 12 Hirnnerven. Darüber hinausgehend sind hier zahlreiche weitere Kerne teilweise diffus angeordnet und miteinander verbunden, wie in der sogenannten Formatio reticularis. Der Hirnstamm steuert alle lebenserhaltenden Funktionen wie Atmung, Blutkreislauf etc. Die Formatio reticularis ist eng mit Wachheit und Aufmerksamkeit assoziiert und wird nicht selten aufsteigendes reticuläres Aktivierungssystem genannt.

Der Hirnstamm geht in

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