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Einführung in die Bildungsforschung
Einführung in die Bildungsforschung
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Einführung in die Bildungsforschung

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Bildungsforschung spielt innerhalb der Erziehungswissenschaft eine immer wichtigere Rolle. Das zeigt sich beispielsweise an der Resonanz, die internationale Bildungsstudien wie TIMSS, PISA oder IGLU gefunden haben. Bildungsforschung beschäftigt sich über Fragen zum Lehr- und Lernerfolg im Unterricht hinaus auch mit den Voraussetzungen und Möglichkeiten von Bildungs- und Erziehungsprozessen im institutionellen und gesellschaftlichen Kontext. Neben frühkindlichen Einrichtungen, Schulen und Hochschulen sind daher auch außerschulische Bildungsprozesse sowie Bildungswege über die Lebenspanne von Interesse. Dieser Band bietet eine aktuelle Einführung in die Bildungsforschung. Ausgehend von Fallbeispielen werden die Geschichte sowie die wichtigsten Forschungsmethoden und -felder vorgestellt.
LanguageDeutsch
Release dateNov 17, 2011
ISBN9783170277649
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    Einführung in die Bildungsforschung - Doris Edelmann

    Kassel)

    Vorwort

    Der vorliegende Band versteht sich als grundlegende Einführung in die Bildungsforschung, mit der sowohl ihrer interdisziplinären Ausrichtung als auch ihrer Methodenvielfalt entsprochen wird. Ausgangspunkt der Ausführungen sind die Gegebenheiten und Entwicklungen im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz, wobei entsprechende internationale Bezüge zu relevanten Themenbereichen hergestellt werden.

    Es ist als zentrale Aufgabe der Bildungsforschung zu verstehen, dazu beizutragen, Lehr- und Lernprozesse im schulischen und außerschulischen Bereich über die Lebensspanne sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientiert zu analysieren. Im Kontext dieser Orientierungs-, Aufklärungs- und Steuerungsrelevanz der Bildungsforschung möchten wir mit dieser Einführung aufzeigen, dass Bildungsforschung dazu beitragen kann, tatsächliche Zusammenhänge zu erkennen, ideologische Verschleierungen zu durchschauen, Vorurteile zu eliminieren und Urteile des lehrenden, organisierenden, erziehenden Personals und der sich Bildenden zu klären sowie rationale Begründungen bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen im Bildungsbereich vorzubereiten.

    Nach einer Einladung in den Gegenstandsbereich der Bildungsforschung, mit der die zentralen Fragen angesprochen werden, die in der vorliegenden Einführung bearbeitet werden, wird mit fiktiven Familiengeschichten die große Bedeutung des familiären Hintergrunds für den Bildungserwerb über die Lebensspanne aufgezeigt. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf das bislang noch nicht erreichte Ziel der Chancengerechtigkeit verwiesen, das als Querschnittthema in der gesamten Publikation immer wieder aus verschiedenen Perspektiven angesprochen wird.

    Anschließend erfolgt ein Überblick über die Geschichte der Bildungsforschung, der die frühen Ansätze der empirischen Pädagogik aufzeigt, die bis heute fortgeführt und ausgebaut werden. Qualitative und quantitative Forschungsmethoden sowie die Möglichkeiten der Integration und Kombination dieser beiden Herangehensweisen werden nachfolgend im Kapitel zu den Methoden der Bildungsforschung erläutert. Die Interdisziplinarität der Bildungsforschung, die Erforschung von Bildungsprozessen über die Lebensspanne von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter sowie die Felder der Bildungsforschung stehen im Zentrum der nächsten Kapitel und verweisen auf die Tatsache, dass die Erziehungswissenschaft respektive die Pädagogik trotz des inter- und multidisziplinären Charakters der empirischen Bildungsforschung die zentrale Bezugsdisziplin ist.

    Mit den Kapiteln zur internationalen Kompetenzmessung sowie zur international vergleichenden und interkulturellen Bildungsforschung werden wichtige aktuelle Anwendungsgebiete der Bildungsforschung thematisiert, die insbesondere im Kontext von international vergleichenden Leistungsstudien (TIMSS, PISA, PIRLS, PIAAC) starke Impulse erfahren haben. Ebenso gewinnen die Themenbereiche Evaluation und Qualitätsmanagement an Bedeutung. Zukünftige Herausforderungen der Bildungsforschung werden im letzten Kapitel aufgezeigt und es wird damit verdeutlicht, dass die Erweiterung und die permanente Weiterentwicklung der Bildungsforschung von zentraler Bedeutung ist, da im Zuge des sozialen Wandels von Lebens- und Entwicklungsbedingungen einerseits und durch die Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung theoretischer und methodischer Perspektiven andererseits ständig neue und komplexere Fragen aufgeworfen werden. Abgeschlossen wird die vorliegende Einführung mit einer Dokumentation von wichtigen Forschungseinrichtungen und Zeitschriften zur Bildungsforschung.

    Maßgeblich zum Gelingen der vorliegenden Publikation beigetragen haben durch ihre zuverlässige Unterstützung und gewissenhafte Bearbeitung der Manuskripte Christina Buschle, Sina Fackler, Judith Fehr, Julia Fritz, Christina Fuchs, Raphaela Iffländer, Vanessa Kincses, Rahel Moll und Bettina Setzer. Bei diesem Team bedanken wir uns an dieser Stelle herzlich.

    München, Fribourg und Erding im Juni 2011

    Doris Edelmann, Joel Schmidt & Rudolf Tippelt

    1 Einladung zur Bildungsforschung

    Bildungsforschung hat in den letzten Jahren eine politische Aufwertung erfahren. Woran liegt das? Ein Grund ist darin zu sehen, dass Bildungsforschung im Kontext ihrer Orientierungs-, Aufklärungs- und Steuerungsrelevanz dazu beiträgt, tatsächliche Zusammenhänge zu erkennen, ideologische Verschleierungen zu durchschauen, Vorurteile zu eliminieren, Urteile des lehrenden, organisierenden und erziehenden Personals und der sich Bildenden aufzuklären sowie rationale Begründungen bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen zu ermöglichen. In diesem Buch wird aufgezeigt, dass die Bildungsforschung gefordert ist, unter Berücksichtigung vergleichender und historischer Perspektiven die sich fortwährend wandelnde Bildungsrealität in die pädagogische Reflexion einzubringen. Trotz des inter- und multidisziplinären Charakters der empirischen Bildungsforschung wird davon ausgegangen, dass die zentrale Bezugsdisziplin die Erziehungswissenschaft respektive die Pädagogik ist. Eine Übersicht über den Aufbau und die Intentionen des vorliegenden Bandes sowie über die zentralen Fragestellungen wird im Folgenden gegeben.

    Was ist das Anliegen der Bildungsforschung?

    Empirische Bildungsforschung steht seit ihrem Beginn in den 1920er Jahren und noch konkreter seit Anfang der 1960er Jahre in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der Bildungs- und Sozialplanung sowie der Bildungspolitik. Insbesondere die Reformmaßnahmen und der Ausbau des Bildungswesens auf nationaler und internationaler Ebene haben verstärkt zur nahezu kontinuierlichen Entwicklung und Differenzierung der Bildungsforschung geführt. Die wichtigste Aufgabe der Bildungsforschung liegt darin, wissenschaftlich begründete Informationen bereitzustellen, an der sich die Bildungs- und Erziehungspraxis orientieren kann, um auf dieser Grundlage rationale und ideologiefreie bildungspolitische und bildungspraktische Entscheidungen treffen zu können.

    In den 1960er Jahren entstand mit dem Aufschwung der Bildungsplanung, also des systematischen und wissenschaftlich gestützten Nachdenkens über die Zukunft des Bildungssystems, sehr schnell eine größere Zahl außeruniversitärer Einrichtungen der Bildungsforschung. Neben den staatlichen Trägern (Bund und Länder) waren von Anfang an auch private Stiftungen am Aufbau von Einrichtungen der Bildungsforschung beteiligt (vgl. Weishaupt/Steinert/Baumert 1991). Gleichzeitig führte der Ausbau der Hochschulen im Kontext der Bildungsexpansion zu einer fachlichen Differenzierung und in diesem Zusammenhang auch zu einer partiellen Übernahme des sozialwissenschaftlich-empirischen Ansatzes in den Bereich der Bildungsforschung, ein forschungsmethodisches Paradigma, das mittlerweile durch neurowissenschaftliche Ansätze ergänzt wird (vgl. OECD 2007). Bis heute ist die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates (1974) richtungsleitend, der Bildungsforschung als die Untersuchung der Voraussetzungen und Möglichkeiten von Bildungs- und Erziehungsprozessen in institutionellen und gesellschaftlichen Kontexten definierte und der festhielt, dass sie die Lehr- und Lernprozesse in schulischen und außerschulischen Bereichen sowie auch in informellen Sozialisationsbereichen thematisieren solle. Stand anfangs die Überprüfung von Reformen und pädagogischen Konzepten im Vordergrund des Forschungsinteresses, wurde in den 1970er und 1980er Jahren, infolge des öffentlich als immer wichtiger eingeschätzten Bildungs- und Erziehungssystems, zunehmend die organisatorische und ökonomische Einbettung des Bildungswesens in Staat und Gesellschaft fokussiert (vgl. Cortina et al. 2008).

    Heute sind es die Herausforderungen des globalisierten Wettbewerbs der Industrienationen, des demografischen Wandels, des chancengerechten Bildungszugangs im Kontext des Lebenslangen Lernens über die Lebensspanne (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010) sowie die Möglichkeiten eines Beitrags zur innovativen Gestaltung einer demokratischen Wissensgesellschaft, die die Erwartungen an die Bildungsforschung bestimmen. Vor dem Hintergrund, dass Bildungsprozesse von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und verschiedenen individuellen Entwicklungsfaktoren beeinflusst werden und die Bildungsforschung daher von mehreren Fachdisziplinen wie der Soziologie, der Sozialen Arbeit, der Psychologie, der Geschichte oder den Wirtschaftswissenschaften getragen wird, ist die integrierende Bezugsdisziplin der Bildungsforschung die Erziehungswissenschaft bzw. die Pädagogik (vgl. Tippelt/Schmidt 2009). Jeder wissenschaftliche Teilbereich, der wie die Bildungsforschung interdisziplinär von mehreren wissenschaftlichen Disziplinen beeinflusst wird, bedarf der Zusammenführung von Befunden, Erkenntnissen und methodologischen Grundlagen. Die Erziehungswissenschaft leistet zwar ihren eigenen theoretischen historischen und empirischen Beitrag zum Verstehen des Bildungssystems, übernimmt darüber hinaus aber auch diese integrierende Funktion. Bislang liegt die Aufgabe der wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften wesentlich im Verantwortungsbereich der Erziehungswissenschaft, so dass es sinnvoll ist zu versuchen, eine integrierende und die verschiedenen Perspektiven aufnehmende Sicht der Bildungsforschung zu formulieren. Die durch die Herausforderungen nahe liegenden spannungsreichen Themen der Bildungsforschung waren und sind die Modernisierung und Effektivierung, aber auch die Demokratisierung sowie die Inklusions- und Kulturvermittlung des Bildungssystems.

    Werden Bildungswege durch die Familie beeinflusst?

    In Kapitel 2 des vorliegenden Bandes werden fiktive, aber durchaus exemplarische Fallbeispiele von vier Familien dargelegt und damit ihre Bedeutung als Bildungsort verdeutlicht. Es wird erörtert, welche Bildungsfragen sich in den verschiedenen Familien stellen und welche Bildungsentscheidungen dort aufgrund von unterschiedlichen Lebenslagen getroffen werden. Die Lebenslagen sind geprägt durch sehr vielfältige soziale, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen. Es wird auch danach gefragt, welche Bildungsmöglichkeiten in den verschiedenen Lebensaltern gegeben sind und wie diese genutzt werden. Grundsätzlich zeigen sich starke Differenzen zwischen einzelnen Familien, die auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene nachhaltigen Einfluss für ihre Bildungswege und Berufsbiografien haben. Bildungsinteressen werden bereits in der Familie geformt, ohne dass man sagen darf, dass sie vollkommen determiniert wären. Auch regionale Rahmenbedingungen, z. B. die Dichte der Schulangebote, Weiterbildungsangebote oder frühkindliche öffentliche Einrichtungen prägen die Bildungsmöglichkeiten der Individuen. Anhand der Falldarstellungen wird es möglich, verschiedenste Orte und Formen des Wissenserwerbs anzusprechen, die in den nachfolgenden Kapiteln aus der Perspektive der Bildungsforschung thematisiert werden.

    Wann wurde mit Bildungsforschung begonnen und wie verlief ihre Entwicklung?

    Ausgangspunkt sind die frühen Ansätze der empirischen Pädagogik, die auf Tatsachenforschung und Tatsachenbeurteilung beruhen. Sie wurzeln in der experimentellen Pädagogik und Psychologie, beispielsweise vertreten durch Wilhelm August Lay oder Ernst Meumann. In diesem Zusammenhang wird aufgezeigt, dass die Erforschung der Erziehungswirklichkeit gegenüber der Begründung von Erziehungszielen in den Vordergrund rückte. Die Anfänge der empirischen Pädagogik, die auf den ersten Blick durch eine Dominanz experimenteller Methoden im Interesse der Schul- und Unterrichtsgestaltung geprägt sind, werden ergänzt durch die Beschäftigung mit zahlreichen Vertreter/-innen, die in der Zeit der Weimarer Republik mit anderen Forschungsmethoden in der Erwachsenenbildungs-, Jugend- oder Arbeitslosenforschung pädagogische (und sozialwissenschaftliche) Aussagensysteme auf einer erfahrungswissenschaftlichen Basis begründeten. Unter anderem wird auf den wichtigen Anstoß von Aloys Fischer verwiesen. Darüber hinaus werden die methodischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg erörtert, die zur Ausdifferenzierung der empirischen Forschung beitrugen.

    Seit ungefähr zehn Jahren ist die Bildungsforschung an nahezu allen wissenschaftlichen Hochschulen institutionalisiert, an denen erziehungswissenschaftliche, pädagogische oder bildungswissenschaftliche Fachbereiche existieren. Es gibt also zunehmend spezielle Professuren und Arbeitsbereiche, die auf die Bildungsforschung ausgerichtet sind. Freilich werden zu kleine Betriebsgrößen und ein Mangel an Qualifikationsstellen zu Recht vielerorts dafür verantwortlich gemacht, dass längerfristig angelegte Forschungsprogramme, beispielsweise systematische Längsschnittstudien von Bildungsverläufen, kaum vorgenommen werden. Allerdings wurde in Deutschland seit 2009 mit einem breit angelegten bundesweiten Bildungspanel als Ergänzung und neue Quelle der Bildungsberichterstattung begonnen, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (vgl. BMBF 2009) finanziert wird.

    Welche Forschungsmethoden und -designs nutzt die Bildungsforschung?

    Die Tatsache, dass die empirische Bildungsforschung durch zwei verschiedene Forschungskulturen geprägt ist, wird in Kapitel 4 thematisiert. Zunächst wird die Ausdifferenzierung der qualitativen und quantitativen Bildungsforschung erläutert und auf die zentralen methodischen Herangehensweisen verwiesen. Dann wird aufgezeigt, dass das Verhältnis einerseits spannungsreich ist, andererseits eine Integration der beiden Herangehensweisen seit Ende der 1990er Jahre zunehmend angestrebt wird.

    Entsprechend der Differenzierung wissenschaftstheoretischer Richtungen und Methodologien (z. B. kritisch-rationalistische, pragmatistisch-konstruktivistische, phänomenologisch-biografische) und der damit implizit gegebenen Pluralität empirischer Methoden (z. B. quantitativ-repräsentativ, quantitativ-experimentell, qualitativ-explorativ, qualitativ-biografisch) lässt sich empirische Bildungsforschung nicht monotheoretisch definieren oder monomethodisch durchführen. Dennoch lassen sich gemeinsame Aufgaben und zentrale Ansprüche der Bildungsforschung benennen: Ihre Aussagen basieren immer auf systematisch erhobenen Erkenntnissen und wissenschaftliche Informationen werden so aufbereitet, dass diese eine rationale Begründung bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen ermöglichen.

    Wenn man die Erziehungs- und Bildungswirklichkeit analysieren will, um innovative pädagogische Gestaltungsprozesse in Politik und Praxis zu fördern, muss man sich heute mit zunehmend unsicheren Ausgangsbedingungen auseinander setzen: Unsicherheit über die weitere ökonomische und soziale Entwicklung und die ökologischen Ressourcen, über die Nachfrage nach institutioneller Bildung und Erziehung und die regionalen demografischen Schwankungen, über die zukünftigen Prioritäten einer föderalistisch differenzierten Bildungspolitik sowie über die globalen und interkulturellen Entwicklungen in der Gesellschaft. Bildungsforschung muss daher methodisch kontrolliert Wissen generieren, das in dieser unsicheren turbulenten Umwelt Bildungsplanung und Bildungspraxis voranbringt.

    Warum brauchen wir eine interdisziplinäre Bildungsforschung?

    In Kapitel 5 wird deutlich, dass sich neben der Erziehungswissenschaft und Pädagogik (zwei Bezeichnungen, die in diesem Einführungsband nahezu synonym verwendet werden, wenngleich Pädagogik die praktischen Aspekte von Bildung, Erziehung und Sozialisation stärker betont) auch die Psychologie, die Soziologie, die Politikwissenschaft, die Ökonomie, die Geschichte, die Philosophie und die Fachdidaktik aus jeweils eigener Perspektive mit Bildungsforschung befassen. Allerdings entstehen erhebliche theoretische Vernetzungs- und Koordinierungsprobleme dadurch, dass organisierte Erziehungs- und Bildungsprozesse in modernen Gesellschaften mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen – so die Funktion der (1) Qualifizierung und Selektion von Schüler/-innen, Auszubildenden und Erwerbstätigen, (2) die Sozialisation von Heranwachsenden im Hinblick auf die Vorbereitung für Berufs- und Staatsbürgerrollen, (3) die soziale Integration in ein auf Solidarität und Kooperation angewiesenes Gemeinwesen und (4) die Enkulturation von Individuen (kulturelle Reproduktion) mittels kommunikativer Verständigung, intellektueller Aufklärung und moralischer Bildung (vgl. Fend 2006; 2008 c). Organisierte Erziehung und Bildung ist in der Moderne zu einem hoch arbeitsteiligen Prozess geworden, was sich auch in der empirischen Forschung in der Ausdifferenzierung von Forschungsdisziplinen und Forschungsinstitutionen zeigt. Interdisziplinarität ist daher eine wichtige Grundlage, damit Bildungsprozesse ganzheitlich erforscht und verstanden werden können.

    Finden Bildungsprozesse tatsächlich über die gesamte Lebensspanne statt?

    Die Erträge der Lebenslaufforschung, die den verengenden Blick auf einen bestimmten Lebensabschnitt überwinden, werden in Kapitel 6 thematisiert. In den 1980er Jahren etablierte sich eine pädagogisch äußerst ertragreiche empirische Lebenslaufforschung, die aufzeigen kann, dass Bildungswege, Weiterbildungsentscheidungen sowie Erwerbs- und Berufskarrieren von verschiedenen Einflüssen abhängig sind: ökonomische und politische Strukturen, kulturelle Wertvorstellungen, institutionalisierte Übergänge und gesetzliche Altersnormen, normativ kritische Lebensereignisse im Erwachsenenalter, individuelle Entscheidungen, aber auch familiäre Sozialisationsprozesse im frühen Lebensalter sowie schulische und betriebliche Selektionsmechanismen. Selbstgesteuertes Handeln, auch in informellen Kontexten, wird seither verstärkt reflektiert und Fragen, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernen, wie sie in ihren Alters- und Entwicklungsphasen optimal unterstützt werden können, in den Mittelpunkt des Interesses gestellt.

    Der starke Wandel der Familie, die langsam steigende Lebensarbeitszeit, die neue wertorientierte ›work-life-balance‹ bei gleichzeitig wachsender durchschnittlicher Lebensdauer führt zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Fragen, die auch in die Weiterentwicklung des Bildungswesens einzubeziehen sind. Sie werfenvor allem Fragen zum lebenslangen Lernen und zur ›recurrent education‹ neu auf, insbesondere zur Bildungsarbeit mit älteren Menschen (vgl. Tippelt/Schmidt/Schnurr/Sinner/Theisen 2009).

    Welche Felder der Bildungsforschung gibt es und welche Forschungsfragen werden dort bearbeitet?

    In Kapitel 7 werden zentrale Forschungsbereiche der einzelnen Lebensabschnitte thematisiert, also in der frühen Kindheit, im Schulwesen, in der beruflichen Bildung, in der Hochschulbildung sowie in der Erwachsenen- und Weiterbildung. Dabei wird insbesondere auf die Bedeutung der Vernetzung von informellen, non-formalen und formalen Bildungsprozessen verwiesen. Im Bereich der frühen Kindheit stehen Fragen zur Nutzung, Qualität und Wirksamkeit frühkindlicher Bildungsangebote im Zentrum. Im Bereich der Schule beschäftigen spätestens seit den 1960er Jahren Fragestellungen zur Chancengleichheit. Von Relevanz ist es, dass es nach wie vor eine große Gruppe junger Menschen gibt, die die obligatorische Schule, die berufliche Ausbildung oder das Studium vor dem Abschluss abbrechen, was zu schwerwiegenden Folgen für den weiteren Lebensweg führen kann, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht.

    Weiterhin lassen empirische Analysen zu den Interdependenzen des Bildungs- und Beschäftigungssystems enorme Abstimmungsprobleme erkennen, die insbesondere für junge Menschen beim Übergang von der Schule in den Beruf oder von der Ausbildung in die berufliche Tätigkeit schmerzlich spürbar werden. Bildungsabschlüsse werden zunehmend zum notwendigen Mittel gegen einen sozialen Abstieg und garantieren dennoch kaum mehr als die Berechtigung zur Teilnahme am Konkurrenzkampf um knappe Positionen und Privilegien. In diesem Zusammenhang wird von der Bildungsforschung erwartet, die sozialpädagogischen Hilfen bei Ausbildungsschwierigkeiten, die konkrete Implementierung von Stütz- und Förderunterricht sowie die Hilfen bei Problemen im Betrieb, in der Familie und im sozialen Umfeld präzise zu analysieren, um damit eine empirisch gestützte Grundlage für zukünftige pädagogische Interventionen zu schaffen. Auch nach Beendigung der beruflichen Ausbildung muss der Übergang in den Arbeitsmarkt sozialpädagogisch unterstützt werden. Eine kontinuierliche Evaluierung und Beratung solcher Maßnahmen trägt dazu bei, die Entscheidungsgrundlagen zu verbessern.

    Was versteht man in der Bildungsforschung unter Kompetenzen und wie werden sie erfasst?

    Kapitel 8 umfasst einen Überblick über die kompetenzorientierte Bildungsforschung und berücksichtigt insbesondere die theoretischen Aspekte sowie die praktischen Implikationen ihrer Anwendungen. Mit einem Einblick in laufende Studien zu (inter-) national vergleichenden Messungen von Kompetenzen im schulischen und außerschulischen Bereich (z. B. PISA, PIAAC) werden die zentralen Aufgaben der Bildungsforschung im Zusammenhang mit der Kompetenzerfassung verdeutlicht. Auslöser dieser Thematisierung sind aktuelle Bildungsdebatten, die durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff geprägt sind. Die zentralen Begründungsmuster für die zunehmende Bedeutung von Kompetenzen basieren auf steigenden Anforderungen in wissensbasierten Gesellschaften, die sowohl in beruflichen als auch in privaten Lebensbereichen zu immer komplexeren Anforderungen führen. Folglich stehen Bildungssysteme weltweit vor der Herausforderung, ihre Leistungen flexibel und innovativ den kontinuierlichen Veränderungen in der Gesellschaft und im Beschäftigungssystem anzupassen.

    Die Förderung wie die Erfassung von Kompetenzen bedingt allerdings, dass geklärt wird, was genau unter dieser Begrifflichkeit zu verstehen ist – ein Diskurs, der bis heute auf nationaler und internationaler Ebene von hoher Relevanz ist und sich beispielsweise in der Implementierung von Bildungsstandards in Deutschland, Österreich und der Schweiz fortsetzt. Zudem ist aufgrund aktueller Entwicklungen in der Bildungspolitik davon auszugehen, dass der Einfluss supranationaler Organisationen auf nationale Bildungsentscheidungen zunehmen und sich darüber die Bedeutsamkeit von Kompetenzerhebungen in Zukunft erhöhen wird. In diesem Zusammenhang steht in nächster Zeit die Weiterentwicklung adäquater Konzepte zur Kompetenzerfassung im Vordergrund, da diese nicht nur methodischen Gütekriterien entsprechen, sondern auch ein sinnvolles Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag sicherstellen müssen. Zudem ist es unerlässlich, dass Ziele und Ergebnisse von Kompetenzuntersuchungen in einer Weise kommuniziert werden, dass sie in der breiten Öffentlichkeit auf Akzeptanz stoßen, weil sie nur so in konstruktive bildungspolitische Debatten einmünden können. Von zentraler Bedeutung wird es weiterhin sein, auf der Grundlage von Ergebnissen (inter-) nationaler Kompetenzerhebungen konkrete Maßnahmen zu entwickeln, die effektiv zur Förderung des lebenslangen Lernens aller Mitglieder einer Gesellschaft beitragen.

    Welche Bedeutung haben internationale und interkulturelle Entwicklungen für die Bildung des Einzelnen und für Bildungssysteme?

    In Kapitel 9 wird dargelegt, wie sich die international vergleichende und die interkulturelle Bildungsforschung entwickelt haben, und es wird aufgezeigt, welche Besonderheiten es bei der Konzeption, Durchführung und Auswertung von international vergleichend oder interkulturell ausgerichteten Bildungsforschungsprojekten zu beachten gilt. Hintergrund sind internationale Migrationsentwicklungen, eine wachsende europäische Staatengemeinschaft sowie anhaltende Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse, die zu maßgeblichen Veränderungen im Gegenstandsbereich der Bildungsforschung führen, die folglich eine international vergleichende und interkulturelle Perspektive einnehmen muss. Spätestens seit den 1990er Jahren richten sich wissenschaftliche Untersuchungen auf Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse in sozial, kulturell und sprachlich heterogenen Gesellschaften. Aus der disziplinären Perspektive der vergleichenden Bildungsforschung geht es um die Frage, inwieweit Bildungssysteme international gesehen ähnliche oder unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen. Von Seiten der Bildungspolitik und der Wirtschaft besteht ein Interesse an einem Vergleich der Leistungsfähigkeit der verschiedenen Bildungssysteme. Ausgangslage der interkulturellen Bildungsforschung ist die Prämisse, dass (post-)moderne Gesellschaften durch eine migrationsbedingte Heterogenität ihrer Bevölkerung geprägt sind. Aus dieser Perspektive werden die Folgen für Bildungsprozesse und -entwicklungen thematisiert. Es ist als Fortschritt einzuschätzen, dass die Bildungsforschung nicht mehr nur aus nationaler Perspektive betrachtet wird und internationale Vergleichsstudien im schulischen Bereich sowie im Weiterbildungsbereich nahezu selbstverständlich geworden sind.

    Welche Bedeutung haben Evaluation und Qualitätsmanagement in der Bildungsforschung?

    Die Überprüfung von Qualität im Bildungssystem ist eine seitens der Bildungspolitik stark nachgefragte Aufgabe der Bildungsforschung geworden. Seit geraumer Zeit hat sich – parallel zu konjunkturellen Schwankungen in der Wirtschaft, zur Stagnation und zur teilweisen Reduktion der Bildungs- und Sozialetats – eine intensive Diskussion über Qualitätsmanagement und damit verbundene Evaluationen von Bildungseinrichtungen entwickelt. Den Verfahren des Bildungscontrollings und des Qualitätsmanagements werden Hochschulen, Weiterbildungseinrichtungen, vorschulische und außerschulische Einrichtungen, Schulen, betriebliche Bildungseinrichtungen und soziale Dienstleistungsträger gleichermaßen unterworfen. Dabei dienen die verschiedenen Formen der Evaluierung manchmal mehr der ökonomischen Effektivität, manchmal mehr der pädagogischen Qualitätssicherung (vgl. Klieme/Tippelt 2009). Gegenüber den summativen Output-Evaluationen, die sich auf das Ergebnis einer sozialen Hilfeleistung oder einer Bildungsmaßnahme (also den ›output‹) im weitesten Sinne konzentrieren, setzen sich zunehmend formative Ansätze durch. Sie bewerten den Prozess der Durchführung selbst. Auf der Grundlage von Phasenmodellen des Bildungsverlaufs bzw. des Verlaufs einer sozialen Dienstleistung (von der Eingangsberatung über die Einstufung und den eigentlichen Lehr- und Lernprozess bis hin zu den Lernresultaten und der Zufriedenheit der Lernenden) werden die Qualität der Programme und Interventionen, aber auch die organisatorischen Rahmenbedingungen eines Bildungsanbieters oder sozialen Trägers bewertet.

    Mit welchen Aufgaben und übergreifenden Herausforderungen ist die Bildungsforschung aktuell und in den nächsten Jahren konfrontiert?

    In Kapitel 11 wird abschließend auf einige nach wie vor bestehende Herausforderungen an das Bildungswesen und die Bildungsforschung im Kontext der europäischen Integration hingewiesen. Historische, vergleichende, interdisziplinäre, internationale, theoretische und empirische Studien sind erforderlich, um die Voraussetzungen und Bedingungen für Veränderungen im Bildungswesen genauer abzuklären. Es lassen sich einige übergreifende Herausforderungen benennen, die von der Bildungsforschung bearbeitet werden: Qualifikation und Kompetenzentwicklung, politische Partizipation und soziale Inklusion, ethische und religiöse Orientierung sowie kulturelle Identitätsfindung.

    Unter dem Aspekt der Qualifikation zeigt sich, dass in breiten Arbeitsbereichen fortgeschrittener Wissens-, Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften besonders solche Tätigkeitsanforderungen wichtiger werden, die flexible Wissensanwendung und eigene Wissensproduktion verlangen. Qualifikationen und Kompetenzen wie analytisches, abstraktes und systemorientiertes Denken, die Fähigkeit zum kreativen Problemlösen und selbstständiges Entscheiden in neuen, wenig standardisierten Situationen sowie die Fähigkeit zur Kooperation in Teams in arbeitsteiligen Organisationen gewinnen an Bedeutung. In diesen Bereichen ist es die Aufgabe der Bildungsforschung, das Verhältnis von Bildung, Arbeit und Beschäftigung zu klären.

    Unter den Aspekten politischer Partizipation und sozialer Integration wird in modernen Gesellschaften ein wachsender Bedarf sozialintegrativer Leistungen geltend gemacht. Bildung ist zu einer notwendigen, wenn auch nicht hinreichenden Bedingung für politische Partizipation und soziale Integration geworden. Besonders in den Untersuchungen zum Lebenslangen Lernen ist sichtbar geworden, dass Bildung nicht nur die soziale und berufliche Entwicklung, sondern auch das zivilgesellschaftliche und ehrenamtliche Engagement stark beeinflusst. Dabei sind nicht nur die Bildungsabschlüsse, sondern auch die Qualität vermittelter Kenntnisse für den weiteren Lebenslauf entscheidend. Von der Bildungsforschung wird folglich erwartet, sich mit der politischen Partizipation und sozialen Integration in den verschiedenen sozialen Milieus einer Gesellschaft auseinander zu setzen und, wo notwendig, den praktischen und politischen Handlungsbedarf anzuregen.

    Unter ethischen Aspekten wird erwartet, dass Bildung den Werte- und Einstellungswandel in modernen Gesellschaften fördert. Bildung entfaltet ihre gestaltende Kraft, wenn Fairness und Partizipation, Demokratie und Gemeinschaft und insbesondere die sinnhafte Selbstentfaltung des Einzelnen hohe Priorität erlangen. Bildungsforschung beschäftigt sich in diesem Kontext empirisch mit den

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