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Vielfältiges Deutschland: Bausteine für eine zukunftsfähige Gesellschaft
Vielfältiges Deutschland: Bausteine für eine zukunftsfähige Gesellschaft
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Vielfältiges Deutschland: Bausteine für eine zukunftsfähige Gesellschaft

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Eine zukunftsfähige Gesellschaft, die einen anderen Umgang mit dem Thema "Migration" kultivieren möchte als bisher, muss ihr Selbstverständnis verändern. Im 21. Jahrhundert tragen Konzepte nicht mehr, die ein nationales "Wir" von einem fremden "Die anderen" unterscheiden. Was aber trägt stattdessen? Aus fünf Blickwinkeln liefert "Vielfältiges Deutschland" mögliche Antworten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Themenfeldern "Identität", "Willkommens- und Anerkennungskultur", "Zuwanderungssteuerung" sowie "Repräsentanz und öffentlicher Diskurs".

Es geht um Orientierungspunkte für eine im Wandel befindliche Gesellschaft, welche die Fehler zu vermeiden sucht, die in der sogenannten Gastarbeiterära begangen wurden und den Integrationsdiskurs in Deutschland jahrzehntelang belastet haben. Die neuen Konzepte müssen ein komplexes Bündel an politischen, kulturellen und administrativen Fragen beantworten. Zu vielen Aspekten gibt es konkurrierende Antworten und divergierende Interessen. Aber der neue integrationsfreundliche Ton in der Politik lässt uns diese Fragen konstruktiver diskutieren als in der Vergangenheit - wenn das bestmögliche Wissen und die belastbarste empirische Evidenz zum Maßstab werden für Richtungsentscheidungen in der Migrationspolitik.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 1, 2014
ISBN9783867935678
Vielfältiges Deutschland: Bausteine für eine zukunftsfähige Gesellschaft

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    Book preview

    Vielfältiges Deutschland - Verlag Bertelsmann Stiftung

    2013.

    Ein Jahrzehnt in Fakten

    Ein neuer Ton im migrationspolitischen Diskurs

    Friedrich Heckmann

    Ein neuer Ton klingt an im migrationspolitischen Diskurs in Deutschland: Von Willkommen und Anerkennung gegenüber Einwanderern ist die Rede. Willkommenskultur – kein Begriff im Themenbereich von Migration und Integration hat in den letzten zehn Jahren eine vergleichbare Karriere gemacht. Die überraschende Prominenz und Verbreitung des Begriffs steht für eine veränderte, freundliche Tonalität des Diskurses über Migration und Integration. Statt vor weiterer Einwanderung und einer »zum Scheitern verurteilten multikulturellen Gesellschaft« zu warnen, wollen alle plötzlich Willkommenskultur: der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Oberbürgermeister und Integrationsbeauftragte der Städte, Politiker verschiedenster Couleur, aber auch die Feuerwehr und der Sportverein von nebenan. Von den Integrationsbeauftragten hat man den neuen Ton erwartet, von den anderen nicht unbedingt.

    In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, die Entstehung des neuen Tons in der migrationspolitischen Debatte hierzulande zu erklären und in historischer Perspektive zu bisherigen Debatten in Beziehung zu setzen. Zugleich soll auf mögliche Wirkungen der veränderten Tonalität in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen eingegangen werden. Die Legitimität des neuen Diskurses scheint jedoch noch keineswegs für die Zukunft gesichert zu sein und kann durch bestimmte Risiken erhöhter Zuwanderung gefährdet werden. Möglichkeiten, mit diesen Risiken umzugehen, sind ebenfalls Inhalt dieses Beitrags.

    »Willkommenskultur« im historischen Kontext migrationspolitischer Debatten

    Willkommens- und Anerkennungskultur – Letztere meint das »Willkommen« für die schon länger im Land lebenden Menschen mit Migrationshintergrund (und wir meinen im Folgenden immer beide Aspekte, wenn wir »Willkommenskultur« schreiben) – stehen im Kontext einer Situation, in welcher Wirtschaft, Politik und Gesellschaft die bisher nur wissenschaftlich prognostizierten Folgen des demographischen Wandels praktisch vor Augen treten und sie in ihren Interessen betreffen: Lehrstellen können nicht besetzt werden, in den Betrieben fehlen Fachkräfte und der Blick auf absehbare demographische Entwicklungen zeigt beispielsweise, dass in der gegenwärtigen Kohorte der Null- bis Dreijährigen in den großen Städten bereits die Mehrheit einen Migrationshintergrund hat.

    Der neue Ton der migrationspolitischen Debatte und die ihn begleitenden Aktivitäten zeigen sich etwa an Folgendem: Fachkräfteinitiativen und -strategien werden entwickelt, große Firmen unterzeichnen eine von der Integrationsbeauftragten des Bundes initiierte Diversity-Erklärung, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gründet eine Projektgruppe zur Willkommenskultur und entwickelt Empfehlungen für einen neuen Umgang in den Ausländerämtern, ausländische Absolventen deutscher Hochschulen werden plötzlich als im Grunde ideale Einwanderer gesehen und das Zuwanderungsgesetz vollzieht den dafür notwendigen Kurswechsel. Der neue Trend wird dabei sehr schön durch ein Projekt des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft illustriert: »Study and Stay in Bavaria«. Wer das früher im Sinn hatte, bekam es mit der Ausländerbehörde zu tun oder musste besondere Wege gehen, um gegen den Willen des Gesetzes dennoch bleiben zu können.

    Vor diesem Hintergrund ist Willkommenskultur die politische und kulturelle Antwort auf die Herausforderungen einer Lage und zukünftigen Entwicklung, in der Wirtschaft und Gesellschaft noch stärker als bisher auf Zuwanderung angewiesen sind und diese demokratisch und sozialstaatlich gestalten müssen. Diese neue Lage ist durchaus erfreulich für diejenigen gesellschaftlichen Kräfte, die »schon immer« Willkommenskultur für Zuwanderer forderten und mit ihren Möglichkeiten praktizierten, ohne dass dieser Begriff bereits existierte, wie etwa unter den großen Organisationen die Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Gewerkschaften oder bestimmte NGOs, etwa der Interkulturelle Rat.

    In historischer Perspektive ist gegenüber bisherigen migrations- und integrationspolitischen Debatten bemerkenswert, dass dies harte Kontroversen waren. Bei der Debatte um Willkommenskultur dagegen geht es etwa um Fragen ihrer bereichsbezogenen Realisierung, auch ihrer Glaubwürdigkeit, aber es gibt, sieht man von rechtsradikalen oder neonazistischen Kräften ab, keine ausgesprochene Gegenposition im öffentlichen Diskurs.

    Das Neue wird deutlich, wenn man sich die bisherigen Hauptdebatten zu Migration und Integration in Deutschland seit den 1960er-Jahren vergegenwärtigt. Es waren vor allem vier Hauptdebatten mit folgenden Kernfragen:

    •Die Einwanderungsdebatte: Ist Deutschland ein Einwanderungsland?

    •Die Staatsangehörigkeitsdebatte: Wer ist ein Deutscher?

    •Die Multikulturalismusdebatte: Ist Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft?

    •Die Scheiternsdebatte: Ist Integration in Deutschland gescheitert?

    Die Einwanderungsdebatte

    Die Einwanderungsdebatte entwickelte sich vor folgendem Hintergrund: Mit dem Anwerbestopp von 1973 zielte die Regierung darauf ab, die ausländische Bevölkerung in Deutschland zu reduzieren. Zwar ging die Zahl der beschäftigten Ausländer auch tatsächlich zurück, aber die ausländische Bevölkerung stieg entgegen den Erwartungen weiter an. Viele Arbeiter holten ihre Familien ins Land und ein Niederlassungsprozess begann.

    Angesichts des gesunkenen Arbeitskräftebedarfs und zur Abwehr der ungewollten, aber nicht zu verhindernden Familienzusammenführung und dem damit verbundenen Niederlassungsprozess kam die Formel auf: »Deutschland ist kein Einwanderungsland.« Dieser Grundsatz wurde die offizielle Leitlinie der deutschen Politik bis 1998. Deutschland als europäischer Nationalstaat lasse sich nicht mit klassischen Einwanderungsländern wie den USA oder Australien vergleichen. Der Satz bedeutete, dass die Bundesregierung die Präsenz einer ausländischen Bevölkerung nach wie vor als temporär ansah und dass die Rekrutierung ausländischer Arbeiter eine Ausnahme gewesen sei, die man nicht wiederholen wolle. Man leugnete die Zugehörigkeit der zugewanderten Bevölkerung und sah auch keine Notwendigkeit, sie als Bürgerinnen und Bürger mit einer systematischen Integrationspolitik zu unterstützen.

    Das sogenannte Kühn-Memorandum des ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung hatte zwar bereits 1979 auf das Vorliegen einer Einwanderungssituation hingewiesen, ohne dies aber systematisch zu explizieren. Das Memorandum blieb auch in seiner Zeit folgenlos. Die systematische Widerlegung der Leugnung der Einwanderungsthese begann in der Wissenschaft (Esser 1980; Heckmann 1981; Bade 1983) und führte in einem langen und durch viele Anfeindungen gekennzeichneten Prozess der Kommunikation aus der Wissenschaft in zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien zu einer fortschreitenden gesellschaftlichen Erkenntnis über die Wirklichkeit der Einwanderung. Die rot-grüne Bundesregierung von 1998 erkannte die Einwanderungsthese auch offiziell an und entschied die Debatte. Auf der Grundlage dieser neuen Situationsdefinition kam es in den Folgejahren zu einer systematischen Entwicklung von Integrationspolitik und der Entwicklung dafür notwendiger Institutionen.

    Die Staatsangehörigkeitsdebatte

    Mit der bleibenden Präsenz von Millionen von Zuwanderern in Deutschland stellte sich die Frage nach ihrem rechtlichen und politischen Status. Die Debatte darüber wurde wissenschaftlich und politisch vor allem über die Frage des Zugangs zur Staatsangehörigkeit ausgetragen. Diese Frage hängt eng mit dem Verständnis von Staat und Nation zusammen. Ist die Nation eine Abstammungsgemeinschaft oder zusätzlich eine Rechtsgemeinschaft auf der Basis geteilter politischer Werte und gemeinsamer Institutionen? Wenn die Nation als Abstammungsgemeinschaft verstanden wird, wie die Vertreter einer konservativen Position argumentieren (»Deutsch ist, wer von Deutschen abstammt«), wird auch die Zugehörigkeit zur Nation und die Staatsangehörigkeit an dieses Kriterium gebunden. Mit dieser Argumentation folgte man dem Prinzip des Ius Sanguinis (»Recht des Blutes«, Abstammungsprinzip).

    Die Gegner dieser Position argumentieren für das Prinzip des Ius Soli, das mit Bezug auf den Zugang zur Staatsangehörigkeit von der legalen Anwesenheit im Territorium und einer gesellschaftlichen Zugehörigkeit ausgeht, ohne das Ius-Sanguinis-Prinzip abzuschaffen: Man kann Deutsch sein, wenn man in Deutschland geboren wurde oder als Zuwanderer einen Integrationsprozess durchlaufen hat. Die Debatte zeigte, dass dieses Prinzip der Realität einer Einwanderungsgesellschaft angemessener ist als das alleinige Verständnis von Nation als Abstammungsgemeinschaft. Im neuen Einwanderungsland Deutschland setzte sich mit dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahr 2000 dieses Verständnis politisch durch. Die sogenannte Optionsregelung war dabei ein Zugeständnis an die konservativen Kräfte und in vielen Köpfen ist das alte Verständnis weiter präsent. Den eingewanderten »Ausländern« wird demzufolge eine Zugehörigkeit zu Nation und Staat von diesen Kräften noch immer verweigert. Nicht selten wird Einbürgerung zum Thema rechtsradikaler und neonazistischer Propaganda gemacht.

    Die Multikulturalismusdebatte

    In dieser Debatte ging vieles durcheinander und es wird auch heute noch heftig gestritten: Ja, wir sind eine multikulturelle Gesellschaft – oder nein, wir sind das keinesfalls. Man redet dabei häufig aneinander vorbei und vermischt vor allem eine normative und eine deskriptive Dimension. Im deskriptiven Sinn lässt sich die These nicht leugnen: Menschen aus vielen Ländern, die jetzt in Deutschland leben, haben ihre Kultur mitgebracht und sind davon geprägt. Viele neue Kulturen sind in Deutschland präsent. Auch im Integrationsprozess geben sie ihre mitgebrachte Kultur nicht einfach auf, sondern übernehmen Neues, ohne das Mitgebrachte zu vergessen.

    Im normativen Sinn verläuft die Debatte anders: Soll die entstandene kulturelle Pluralität der Menschen im Sinne ethnischer Minderheiten in multiethnischen Nationalstaaten beibehalten und gefördert werden oder soll man einen kulturellen und sozialen Annäherungsprozess zwischen Einwanderern und Einheimischen mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamen Institutionen anstreben? Auf dem Hintergrund der Theorie von Wiley (1967) ist zu erwarten, dass in Einwanderungsgesellschaften ausbleibende kulturelle und soziale Annäherungsprozesse auch die sozioökonomische Angleichung der Lebenslagen behindern. Zugleich scheinen multikulturelle Herkünfte und Austauschprozesse die gesellschaftliche Kreativität und Innovationsfähigkeit zu steigern (Stahl et al. 2009).

    Die Scheiternsdebatte

    Integration ist ein Prozess, der über Generationen verläuft. Er involviert eine Vielzahl von wechselseitigen Lern- und Anpassungsprozessen aufseiten der Migranten wie auch aufseiten der aufnehmenden Gesellschaft. Bei kontinuierlicher Neumigration zeigt sich, dass »typische« Probleme von Migrantinnen und Migranten in der ersten Phase ihrer Integration auch immer wieder in Erscheinung treten, was manche Betrachter dazu verleitet, wegen der stets gleichen Probleme Fortschritte der Integration mit zunehmendem Aufenthalt zu übersehen. Gegner einer Einwanderungspolitik nehmen dies zum Anlass, den Sinn und Nutzen jeglicher Einwanderung zu leugnen.

    In der leidenschaftlichen migrationspolitischen Kontroverse des Jahres 2010 um das Buch »Deutschland schafft sich ab« von Thilo Sarrazin wird ein behauptetes Scheitern der Integration vor allem auf Gruppen muslimischer Einwanderer und ihrer Kinder bezogen. Die Wirkung des Buches bestand zum einen darin, dass Sarrazin im Gewande eines Aufklärers auftrat, der den »Mut« hatte, eine Reihe von Feststellungen über Integrationsprobleme dieser Gruppe, die in der Forschung längst belegt und dokumentiert waren, in die Öffentlichkeit zu tragen und damit ein vermeintliches Schweigekartell von Einwandererfreunden zu durchbrechen. Zum anderen mobilisierte Sarrazin traditionelle, im Kollektivbewusstsein verankerte Vorurteile gegen Fremde und speziell Muslime – und dies zum Teil im biologistisch-rassistischen Stil.

    Dass Integration in Deutschland überwiegend durchaus erfolgreich verläuft, zeigt sich unter anderem darin, dass mit der Länge des Aufenthalts der Integrationsgrad steigt, dass die Migrantinnen und Migranten zunehmend die deutsche Sprache sprechen und dass die Integration in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Selbstständigkeit sich trotz des Fortbestehens vieler Benachteiligungen verbessert. Für den Beleg dieser Aussage hat Claudia Diehl eine Reihe von grundlegenden Daten zusammengestellt (Diehl 2007).

    Beim Vergleich der neuen Debatte mit den gerade skizzierten ist bemerkenswert, dass die neue Tonalität durchweg »integrationsfreundlich« ist und keine Kontroverse beinhaltet. Mit den alten Debatten ist die neue aber durchaus verbunden, indem sie diese als Voraussetzung hat: Sie geht selbstverständlich von Deutschland als Einwanderungsland aus, betrachtet Menschen mit Migrationshintergrund als zugehörig, respektiert die Kultur der Migrantinnen und Migranten, ohne Minderheitenrechte zu verlangen, und ist eher optimistisch in Hinsicht auf den Erfolg von Integrationsprozessen.

    Wirkungen

    Wirkungen des neuen Tons im gesellschaftlichen Diskurs über Migration und Integration können auf den Ebenen von Individuen, von Organisationen und der Gesamtgesellschaft unterschieden werden. Der neue Ton ermutigt und stärkt zunächst jene Personen, die »schon immer« migrantenfreundliche Einstellungen und Verhaltensweisen gezeigt haben und gegen Fremdenfeindlichkeit, Ethnozentrismus und Rassismus eingetreten sind. Zugleich lässt er vorurteilsvolle Personen eine soziale Kontrolle spüren, die sie hindern kann, ihre Einstellungen zu äußern oder in diskriminierendes Verhalten umzusetzen. Dass Personen rechtsradikaler oder neonazistischer Haltungen sich von dem neuen Ton beeinflussen lassen und ihre Einstellungen überdenken, ist allerdings nicht zu erwarten; sie werden sich eher herausgefordert und in ihrer Ablehnung von Einwanderung bestärkt sehen und möglicherweise sogar ihre Aktivitäten intensivieren und ausweiten.

    Für Menschen mit Migrationsgeschichte, die durch ausgrenzende Diskurse und Diskriminierungserfahrungen eine gefühlsmäßige Distanz zum Einwanderungsland Deutschland halten, könnte der neue Diskurs, wenn er denn in vielfältige und glaubwürdige Signale und Handlungen umgesetzt wird, Identifizierungsprozesse fördern. Empirische Untersuchungen müssen zeigen, ob sich diese Vermutung erhärten lässt. Insgesamt gesehen lässt sich für die individuelle Ebene gesellschaftlicher Wirklichkeit eine integrationsfördernde Wirkung der neuen Tonalität erwarten.

    Betrachtet man nun die Ebene zivilgesellschaftlicher Organisationen, können folgende Einschätzungen getroffen werden: Vereine, Verbände, NGOs oder Stiftungen beginnen zu erfahren oder wissen, dass der demographische Wandel auch ihre Mitgliederentwicklung, Ressourcen und Aktivitäten betrifft oder betreffen wird. Nicht unbedingt die unmittelbaren Neueinwanderer, aber die Menschen mit Migrationsgeschichte, die schon länger im Land leben, jedoch den Weg in Vereine und andere Organisationen der Mehrheitsgesellschaft noch nicht gefunden haben, stoßen auf ihr Interesse als potenzielle Neumitglieder. Der neue Ton der Zuwanderungsdebatte mit seinen Signalen der Offenheit kann auf der einen Seite Migranten anregen, solche Mitgliedschaften in Erwägung zu ziehen, und auf der anderen Seite zivilgesellschaftliche Organisationen bewegen, für ihre Strukturen angemessene Formen interkultureller Öffnung zu entwickeln. Es geht dabei darum, nicht nur neue Mitglieder zu rekrutieren, sondern sich auch auf mögliche Besonderheiten ihrer Interessen und Praktiken einzustellen.

    Reflektiert man schließlich mögliche Wirkungen der neuen Tonalität auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, lässt sich feststellen: Die Willkommenskultur der neuen Art ist zunächst einmal ein Projekt der politischen und gesellschaftlichen Eliten und des Staates auf den verschiedenen Ebenen staatlicher Organisation. Für die gesamtgesellschaftliche Definition der Einwanderungsfrage, das gesellschaftliche Framing, ist das ein äußerst wichtiger Tatbestand: Wer gegen Einwanderung und Einwanderer ist, bekommt es mit den Mächtigen in Staat und Gesellschaft zu tun. Wie wichtig das ist, wird am kontrastierenden Fall deutlich, der der deutschen Politik durchaus nicht fremd ist: dem Fall von Staaten und herrschender Politik, die Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit mobilisieren und instrumentalisieren. Der neue Ton in der Migrationsdebatte stärkt also gesamtgesellschaftlich die soziale Kontrolle gegen Fremdenfeindlichkeit, Ethnozentrismus und Rassismus.

    Der Staat kann in seinem ureigensten Handlungsbereich, der öffentlichen Verwaltung, eine Menge tun, um das Neue in der Migrationsdebatte bei sich umzusetzen. Das Stichwort heißt hier interkulturelle Öffnung der Verwaltung und beinhaltet nicht nur die Rekrutierung von Personal mit Migrationshintergrund, sondern auch die Erbringung von Serviceleistungen, die auf die Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten besser eingehen. Das verbreitete Bemühen um die Reform der Ausländerämter steht hier für einen besonders reformbedürftigen Bereich. Aber auch in vielen anderen Bereichen, vor allem auf kommunaler Ebene, gibt es vielfältige und vielversprechende Ansätze interkultureller Öffnung von Verwaltung.

    Für die Durchsetzung eines neuen Tons in der Migrationsdebatte spielen die Medien eine zentrale Rolle. Sofern die Eliten, die Willkommenskultur propagieren, Einfluss auf diese haben, ist zu erwarten, dass die Medien den neuen Ton aufnehmen bzw. schon aufgenommen haben. Auch der – wenn auch nur langsam – zunehmenden Rekrutierung von Medienschaffenden mit Migrationshintergrund kommt hierbei eine wichtige Rolle zu und diese kann helfen, den neuen Ton zu verstärken.

    Risiken des Konzepts

    Der neue, freundliche Ton in der Einwanderungsdebatte hat, wie gezeigt, die Chance auf eine Reihe integrationsfördernder Wirkungen. Zusammen mit verstärkter Zuwanderung birgt er jedoch auch bestimmte Risiken, die wir Legitimitätsrisiko, Überforderungsrisiko und Kohäsionsrisiko nennen wollen. Das Legitimitätsrisiko ergibt sich im Kern daraus, dass keineswegs alle Zuwanderer willkommen sind. Es ist dabei durchaus legitim, Nützlichkeitserwägungen einen hohen Stellenwert in der Zuwanderungspolitik zu geben. Nicht nur die Zuwanderer, auch die aufnehmende Gesellschaft soll von der Zuwanderung einen Nutzen haben. Das Motto und die Praxis einer Willkommenskultur sind vom Entstehungszusammenhang und von den Interessen her gesehen auf die sogenannten Fachkräfte und die Hochqualifizierten ausgerichtet, werden aber aus Scham oder Kalkül, diesen Nutzenaspekt nicht in den Vordergrund zu stellen, auf die Zuwanderung insgesamt hin propagiert.

    Keineswegs alle Zuwanderer sind aber faktisch willkommen: Der Staat muss weiter abschieben, will er seinen Zuwanderungsgesetzen Geltung verschaffen; Roma und andere Armutsflüchtlinge sind in Politik und Öffentlichkeit durchaus nicht willkommen und die Aufnahme von Asylbewerbern ist eine humanitäre Verpflichtung, keineswegs eine willkommene Art der Zuwanderung. Der Begriff Willkommenskultur in der Einwanderungsdebatte leidet daher unter den Widersprüchen und Notwendigkeiten von steuernder Migrationspolitik und steht folglich legitimitätsmäßig auf unsicherem Grund.

    Willkommenskultur ist als Initiative ein Staats- und Elitenprojekt, das top-down verfährt. Das hat, wie weiter oben erläutert, integrationsfördernde Aspekte, birgt aber auch Risiken, die wir als Überforderungsrisiko bezeichnen. Nicht nur gibt es in der Bevölkerung einen relativ stabilen Satz rechtsradikaler Haltungen und Weltbilder, die unter bestimmten Bedingungen mobilisierbar sind, sondern es kann sich bei verstärkter Zuwanderung auch in der breiteren Bevölkerung – wie etwa in der Asylkrise von 1991/1992 – ein Gefühl einstellen, dass die Kontrolle über Ausmaß und Art der Zuwanderung verloren gegangen ist oder verloren zu gehen droht, worauf mit einwandererfeindlichen Haltungen reagiert wird. Das Projekt Willkommenskultur kann sich dann immer mehr von der Lebenswelt breiterer Bevölkerungsgruppen entfernen und droht, seine Glaubwürdigkeit und Wirkung zu verlieren. Wann ein solcher Schwellenwert überschritten wird, ist nicht zu prognostizieren, aber es lassen sich bestimmte Indikatoren nennen, die Spannungen indizieren. Hierbei lassen sich objektive Indikatoren, Reaktionen der Aufnahmegesellschaft und Reaktionen der Migrantengruppen unterscheiden:

    Objektive Krisenindikatoren:

    •stagnierende oder zurückgehende Integration von Migranten in Arbeitsmarkt und Wirtschaft

    •stagnierende oder zurückgehende Integration von Migranten im Bildungs- und Qualifikationssystem

    •zunehmende Abhängigkeit von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen bei Migranten

    •anhaltende Sprachprobleme bei Migranten

    •zunehmende Konzentration von Migranten in bestimmten Segmenten des Wohnungsmarktes und in Stadtteilen

    Reaktionen in der Aufnahmegesellschaft:

    •starke Verschlechterung des gesellschaftlichen Meinungsklimas gegenüber Migranten und Minderheiten – Niederschlag in Umfragen, Mediendarstellungen, Internetkommunikation

    •Entstehung oder Wachstum von sozialen Bewegungen, Organisationen oder Ein-Punkt-Parteien, die gegen »Überfremdung« und Zuwanderung zu mobilisieren suchen

    •zunehmende Gewalttaten gegenüber Migranten und gesellschaftlichen Minderheiten

    Reaktionen der Migrantengruppen:

    •ausbleibende oder sich verschlechternde Identifikation mit dem Aufnahmeland im Generationenverlauf

    •verstärkte innerethnische Sozialkontakte und Beziehungen, Rückzug aus Kontakten und Beziehungen mit der Mehrheitsgesellschaft

    •zunehmende ethnische Selbstorganisation

    Realer Hintergrund für die Möglichkeit solcher Entwicklungen ist unter anderem, dass tatsächlich ein beträchtlicher Teil der Zuwanderung in Deutschland kaum oder nur schwerlich zu steuern ist: Europäische Binnenwanderung im Rahmen der Freizügigkeit, Familienzusammenführung und Asyl sind Wanderungsformen, die primär von den Entscheidungen und Ressourcen der Migranten selbst, nicht durch den deutschen Staat gesteuert werden. Der Staat hat hier beträchtliche Souveränitätsrechte abgegeben und es hat praktisch in allen Einwanderungsländern eine »rights revolution« für Migrantinnen und Migranten gegeben.

    Verstärkte Zuwanderung führt in der aufnehmenden Gesellschaft zu mehr ethnischer und kultureller Heterogenität. Wenn man in der Durkheim’schen Tradition soziologischen Denkens davon ausgeht, dass zentrale gemeinsame Werte die Grundlage gesellschaftlicher Institutionen und gesellschaftlicher Kohäsion darstellen, verstärkt zunehmende ethnische und kulturelle Heterogenität ein gesellschaftliches Kohäsionsrisiko. Institutionen, die das arbeitsteilig und routinemäßig aufeinander abgestimmte Alltagshandeln der Menschen ermöglichen, basieren auf kulturell fundierten und weitgehend geteilten Werten. Auch (kulturelle) Interessen sind wertbestimmt. Für kulturelle Annäherung spricht auch, dass kulturell geteilter Sinn Kommunikation als Grundlage sozialen Handelns und sozialer Beziehungen ermöglicht.

    Es stellt sich die Frage, wie die aufnehmende Gesellschaft mit dieser verstärkten kulturellen und sozialen Heterogenität umgeht. Sie muss sich fragen: Soll eine Minderheitenpolitik im Sinne einer konsequent multiethnischen Gesellschaft oder eine Politik der kulturellen Annäherung verfolgt werden? Eine Assimilierungspolitik zu betreiben, ist keine erwägenswerte Option.

    Eine Politik der Förderung von Minderheitenbildung würde auf einen ethnischen Pluralismus bzw. »ethnischen Korporatismus« (Walzer 1983) abzielen: Staatliche Stellen und gesellschaftliche Institutionen ermutigen die ethnischen Gruppen, sich als solche zu organisieren, einen formell rechtlichen Minderheitenstatus zu erreichen und damit ihr Gewicht in Politik und gesellschaftlichem Leben geltend zu machen. Gruppenrechte und auf Gruppen bezogene Maßnahmen liegen auf der Linie einer solchen Politik. Ethnische Grenzen und kulturelle Unterschiede werden dadurch intensiviert und institutionalisiert. Das Risiko dabei: »Bei Vorliegen von Chancen auf individueller Ebene verlieren ethnische Differenzierungen immer mehr an Bedeutung; bei – nach ethnischer Zugehörigkeit – systematisch verteilten Chancen bleiben bzw. verstärken sich die Segmentationen« (Esser 1980: 75).

    Die Alternative zu einer Minderheitenpolitik, die für nationale Minderheiten angemessen ist, stellt für Einwanderung eine Politik (wechselseitiger) kultureller Annäherung dar, die bei Respekt für die Herkunftskulturen kulturelle Gemeinsamkeiten in zentralen Lebensbereichen anstrebt. Normativ und faktisch ist sie wechselseitig, wenn auch nicht gleichgewichtig. Die Kultur und die Kulturen der Etablierten sind stärker als die Kulturen der Hinzukommenden. Bei Offenheit der aufnehmenden Gesellschaft verändern die Einwanderer aber auch die Mehrheitsgesellschaft.

    Kulturelle Annäherung ist auch das, was empirisch den Erfahrungen der klassischen Einwanderungsländer entspricht – mit Ausnahme eines Bereichs: der Religion. Religion ist der Bereich, in dem kulturelle Annäherung zunächst nicht stattfindet, zumindest nicht in dem Sinne, dass die (mitgebrachte) Religion der Migranten für sie einen Bedeutungsverlust erleidet oder grundlegend geändert wird. In der Migration werden Menschen häufig sogar religiöser, als sie es vorher waren; die Religionsgemeinschaften, die aus den Herkunftsländern stammen und im Einwanderungskontext rekonstruiert werden, stellen zugleich Orte und Netzwerke dar, die den Menschen in spiritueller und praktischer Hinsicht mit den Anforderungen und dem Stress der Migration fertigzuwerden helfen (Hirschman 2004). Sie übernehmen nur selten die Religion oder Religionen des Einwanderungslandes; allerdings lassen sich mittel- und langfristig bestimmte Synkretismusprozesse auch im religiösen Bereich feststellen.

    Insgesamt dominieren jedoch empirisch und politisch Prozesse kultureller Annäherung. Eine Politik kultureller Annäherung zur Sicherung gesellschaftlicher Kohäsion lässt sich weiterhin am Begriff und der Wirklichkeit der »Wechselseitigkeit« im Integrationsprozess erläutern. Wechselseitigkeit vollzieht sich in den gesellschaftlichen Kerninstitutionen, deren Regeln die Migranten lernen müssen, deren Funktion aber auch nur dann gesichert ist, wenn sie sich gegenüber den Migranten öffnen, also in bestimmter Weise auf die Bedürfnisse und Voraussetzungen der Migranten eingehen (interkulturelle Öffnung der Institutionen). Wechselseitigkeit existiert jedoch auch bei Vorgängen, die Integration über Marktprozesse beinhalten. Vor allem Städte lassen sich als Marktplätze begreifen, auf denen verschiedene Anbieter kulturelle, materielle und soziale Güter anbieten, die auf Nachfrage stoßen können.

    Märkte sind ein geradezu paradigmatischer Fall von Wechselseitigkeit. Anbieter sind Einheimische und Migranten, Nachfrager sind ebenfalls Einheimische und Migranten. Angebote schließen materielle Güter wie Lebensmittel und Speisen, kulturelle Güter wie Musik, Literatur, Tanz, aber auch Lebensstile und Religionen ein. Städte sind auch Marktplätze, um Freunde und Ehepartner zu finden oder gemeinsam Sport zu treiben. Präferenzen sind bei Menschen zunächst einmal durch Sozialisation und Zugehörigkeit gegeben, verändern sich aber auch bei Gefallen an neuen Gütern und Beziehungen, die auf den städtischen Märkten angeboten werden.

    Wenn Kommunen multikulturelle Programme anbieten, wie etwa eine türkische Filmwoche, ist das im Sinne einer Akkulturationspolitik keine Förderung von Minderheitenbildung, sondern Ausdruck des Respekts für die Herkunftskulturen von Migranten. Eine solche Politik trägt weiterhin dazu bei, dass sich die Migrantinnen und Migranten am neuen Lebensort zu Hause fühlen können, und gibt den Einheimischen die Chance, mehr über die Herkunftskultur der Migranten zu erfahren.

    Insgesamt gesehen kann eine Politik der kulturellen und sozialen Annäherung dazu beitragen, gesamtgesellschaftliche Kohäsion zu stärken.

    Fazit

    Begriff und Wirklichkeit eines neuen, freundlichen Tons in der Migrationsdebatte in Deutschland bieten Chancen für einen verbesserten Integrationsprozess in sozialer, kultureller und identifikativer Hinsicht, sofern die Prozesse struktureller Integration in Arbeitsmarkt, Wirtschaft, Bildungssystem und Systeme sozialer Sicherung erfolgreich verlaufen. Die Chancen bestehen vor allem darin, in der Aufnahmegesellschaft mehr Offenheit zu schaffen und einwandererfeindliche Vorurteile und Diskriminierungen zurückzudrängen.

    Der neue Ton wurde als Elitenprojekt top-down begonnen, wird aber zurzeit auf den mittleren Ebenen gesellschaftlicher Organisationen mit beträchtlicher Überzeugung von dortigen Führungsgruppen vorangetrieben. Wir hatten ein Legitimitätsrisiko, ein Überforderungs- und ein Kohäsionsrisiko im neuen Ton und bei verstärkter neuer Zuwanderung identifiziert. Die neue und vermutlich weiter stark ansteigende Asylzuwanderung der Gegenwart könnte die genannten Risiken des Konzepts zukünftig aktualisieren.

    Literatur

    Bade, Klaus J. Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880–1980. Mit einem Geleitwort des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit J. Stingl. Beiträge zur Zeitgeschichte 12. Berlin 1983.

    Diehl, Claudia. »Gescheiterte Integration? Neue Befunde zur Eingliederung von Erwachsenen in Deutschland«. Georgia Augusta Wissenschaftsmagazin 5 2007. 86–93.

    Esser, Hartmut. Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Darmstadt und Neuwied 1980.

    Heckmann, Friedrich. Die Bundesrepublik: Ein Einwanderungsland? Zur Soziologie der Gastarbeiterbevölkerung als Einwandererminorität. Stuttgart 1981.

    Hirschman, Charles. »The Role of Religion in the Origins and Adaptations of Immigrants«. The International Migration Review (38) 3 2004. 1206–1233.

    Stahl, Günter, Martha L. Maznevski, Andreas Voigt und Karsten Jonsen. »Unravelling the Effects of Cultural Diversity in Teams: A Meta-Analysis of Research on Multicultural Work Groups«. Journal of International Business Studies 2009. 1–20.

    Walzer, Michael. »States and Minorities«. Minorities: Community and Identity. Hrsg. Charles Fried. Berlin, Heidelberg, New York 1983. 219–227.

    Wiley, Norbert F. »The Ethnic Mobility Trap and Stratification Theory«. Social Problems (15) 2 1967. 147–159.

    Einwanderungs- und Integrationsdebatten seit der Jahrtausendwende: Zwischen Islamangst und Fachkräftebedarf

    Dirk Halm

    Das vergangene Jahrzehnt bedeutete für Deutschland einen Paradigmenwechsel der Einwanderungspolitik, die seitdem weniger abschottend als vielmehr expansiv und inklusiv wahrgenommen wird (Kolb 2003: 13, unter Bezug auf Freeman 1995). Herrschte bis zur Jahrtausendwende vorrangig eine politische Rhetorik der Abwehr von Einwanderung und der allein an die Einwanderer gerichteten Forderung nach Integrationsanstrengungen, wurde nun vermehrt eine Öffnung gefordert. Veränderungen des Staatsangehörigkeitsrechts, rechtlich verankerte Integrationsangebote oder gesteuerter Fachkräftezuzug stehen für diesen Politikwechsel. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Entwicklung angesichts einer in der Bevölkerung noch immer vorhandenen Einwanderungsskepsis so eingetreten und damit ein »gap« zwischen öffentlicher Meinung und dem politischen Prozess entstanden ist (vgl. Kolb 2003: 14).

    Wahrnehmungen und Realität

    Wahrnehmung und Wirklichkeit stehen bei den Themen Migration und Integration nur in einem losen Zusammenhang, stellt Dietrich Thränhardt mit Blick auf das letzte Jahrzehnt fest (Thränhardt 2010: 21). Und dies scheint quantitativ wie qualitativ zu gelten: Weder entspricht die öffentliche Aufmerksamkeit immer dem tatsächlichen Umfang des Migrationsgeschehens – das in der jungen Bundesrepublik phasenweise nicht weniger dynamisch war als in späteren Jahren, aber vergleichsweise wenig beachtet wurde –, noch scheint das in öffentlichen Debatten formulierte Problembewusstsein – etwa über die Sozialintegration von Einwanderern – immer in einem nachvollziehbaren Zusammenhang mit tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklungen zu stehen. Zwei Beispiele illustrieren dies:

    Im Jahr 2000 betrug die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime – geschätzt aufgrund der Herkünfte von Einwanderern – bereits über 3,5 Millionen, doch hatte die Auseinandersetzung über die gesellschaftliche Integration des Islam erst in Ansätzen und auf Bundesebene noch gar nicht begonnen. Zugleich wurde in den letzten Jahren unvermindert der Zusammenhang von Einwanderung und Sozialintegration problematisiert – mit mehr oder weniger stark kulturzentrierter, oft den Islam in den Blick rückender Konnotation –, wofür etwa die viel diskutierten Publikationen von Thilo Sarrazin oder Heinz Buschkowsky stehen. Hier wurde eine breit beachtete, doch in weiten Teilen obsolete Debatte geführt, während die Migrationssoziologie den Einwanderungshintergrund bereits als Container identifiziert hatte, der immer weniger geeignet ist, für Sozialintegrationsprozesse relevante Einflüsse zu beschreiben, da mit einer verbesserten statistischen Datenlage zunehmend die eigentlichen Einflüsse (Bildungshintergründe etc.) kenntlich werden (vgl. Kalter 2006).

    Und auch bei der Betrachtung der Sozialintegration von Einwanderern im intergenerationalen Vergleich gibt es Aufholprozesse, die in den Gruppen mit schlechten Ausgangsbedingungen – etwa der türkischen – besonders rasch verlaufen (Hans 2010: 251 f.), was ebenfalls für eine tendenzielle Überschätzung der mit Einwanderung verbundenen Sozialintegrationsproblematik durch den öffentlichen Diskurs spricht. Betrachtet man benachteiligte Familien im Zeitverlauf, ergeben sich sogar Hinweise darauf, dass der Migrationshintergrund den Weg der Kinder aus der Armut begünstigt (Laubstein et al. 2012), was in einem besseren Familienklima, vielleicht aber auch in größerer Aufstiegsorientierung begründet sein mag.

    Folgen die öffentlichen Debatten auf den ersten Blick nicht den mit Einwanderung verbundenen aktuellen Herausforderungen, stellt sich mithin die Frage, ob sie sich in Verbindung mit anderen Diskussionsanlässen bringen lassen. Und hier scheint es so zu sein, dass die Debatten um Migration und Integration auf der einen Seite sensibel auf Entwicklungen reagieren, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt betreffen. Ludger Pries (2013) beschreibt die Zunahme gesellschaftlicher Vielfalt und den Erhalt des sozialen Zusammenhalts als Spannungsverhältnis. Dieses entlädt sich möglicherweise im öffentlichen Diskurs um Migration und Integration. Daraus mag resultieren, dass Debatten um Einwanderung und ihre Folgen oft durch die Furcht vor gesellschaftlichen Konflikten, Devianz und damit verbundenen Desintegrationsdynamiken – sei es aufgrund von Fremdenfeindlichkeit oder Islamismus – veranlasst werden.

    Vor der Folie dieses Spannungsverhältnisses deutet Pries den Erfolg des Buches »Deutschland schafft sich ab« von Sarrazin als »Ausdruck der Suche vieler Menschen – und zwar durch alle Bevölkerungsschichten hindurch – nach einer klaren Orientierung in der unübersichtlichen gesellschaftlichen Vielfalt«, wobei sozialer Zusammenhalt in der Wiederherstellung (kultureller) Homogenität gesucht wird (ebd.: 34). Hinzu kommt der Umstand, dass grenzüberschreitende, transnationale Wanderung nationalstaatliche politische Steuerungsmöglichkeiten herausfordert und auch daher latent als die gesellschaftliche Kohäsion unterminierend wahrgenommen werden mag. Tatsächlich ist die Steuerungsfähigkeit der Bundesrepublik hinsichtlich vieler Migrationsformen deutlich begrenzt, die auf supra- oder internationalen Vereinbarungen beruhen – EU-Binnenmigration, Familiennachzug, Flucht und Asyl –, und selbstverständlich auch bezüglich irregulärer Einwanderung.

    Auf der anderen Seite folgen die öffentlichen Debatten um Einwanderung offenbar gesellschaftlichen Verteilungskämpfen. Vor diesem Hintergrund wurde die frühe »Gastarbeitermigration« in die Bundesrepublik im Kontext von Wirtschaftsaufschwung und Vollbeschäftigung wenig problematisiert – ganz im Gegensatz zu den Folgen des späteren Familiennachzugs, des Asylrechts, aber auch der Spätaussiedlermigration, die allesamt hohe verteilungspolitische Brisanz hatten und entsprechend kontrovers diskutiert wurden. Andersherum generiert dieser Interessendiskurs gerade in jüngerer Zeit auch einwanderungsbejahende Debattenkonjunkturen, in denen es dann nicht um die »Einwanderung in die Sozialsysteme« geht, sondern vielmehr um deren Sicherung angesichts des demographischen Wandels, des Fachkräftebedarfs und Ähnlichem.

    Es ist plausibel anzunehmen, dass die Gleichzeitigkeit kohäsions- und verteilungsbezogener Anlässe besonders geeignet ist, öffentliche Debatten über Migration und Integration auszulösen. Hierauf wäre zurückzuführen, dass etwa kulturell »fremdere« oder als irregulär betrachtete Einwanderer in gesellschaftlichen Ressourcenkämpfen besonders stark problematisiert werden, wie etwa in der Diskussion um den Asylkompromiss, bei dem im öffentlichen Bewusstsein nur wenig verankert blieb, dass dieser auch eine erhebliche Beschränkung der Spätaussiedlermigration bedeutete. Zugleich verstärkt die Vermischung von Kohäsionsinteresse und Ressourcenkonflikten nochmals die politische Qualität bei der Auseinandersetzung über Einwanderung. Geht man davon aus, dass in Wettbewerbsgesellschaften sozialer Zusammenhalt unter Inkaufnahme ökonomischer Ungleichheit organisiert werden muss, so wird die Forderung nach einer besseren Sozialintegration von Einwanderern ambivalent und der dieser Forderung potenziell inhärente Widerspruch oft dadurch abgemildert, dass Integrationsdebatten die kulturelle Anpassung von Einwanderern und weniger soziale und wirtschaftliche Chancengleichheit fokussieren.

    Hiermit ist angedeutet, wie die – in weiten Teilen von aufnahmegesellschaftlichen Akteuren dominierten – öffentlichen Debatten um Migration und Integration die Einwanderungswirklichkeit in Deutschland nicht unerheblich verzerren können. Dabei ist davon auszugehen, dass die Debatten die Einwanderungs- und Integrationswirklichkeit wiederum direkt und indirekt beeinflussen. Direkt beispielsweise, indem kulturelle Differenz (oft subtil) zum Diskriminierungsanlass genommen wird: Hier unterscheiden sich Jugendliche mit schlechten Startchancen mit und ohne Migrationshintergrund dann darin, dass nur einem Teil von ihnen der Integrationswille oder die Integrationsfähigkeit abgesprochen wird (vgl. auch Uslucan und Yalcin 2012: 33; eine empirische Studie von Frindte, Schurz und Roth 2013 weist auf eine mögliche negative Wirkung der Sarrazin-Debatte auf die Integrationsorientierung von Muslimen in Deutschland hin). Ein indirekter Einfluss ergibt sich beispielsweise, indem Einwanderungspolitik sich den öffentlichen Debatten entlehnte Vereinfachungen oft zu eigen macht, einen gesellschaftliche Komplexität reduzierenden, binären Reduktionismus, etwa die Unterscheidung volkswirtschaftlich profitabler und verlustbringender Einwanderung, Loyalität oder Illoyalität zu Deutschland usw.

    Dieser Beitrag stellt – kursorisch – an drei einwanderungspolitischen Debatten der jüngeren Zeit diese Wechselbeziehung zur Einwanderungswirklichkeit dar. Er wirbt damit für einen sachgerechten Umgang mit dem Thema »Einwanderung« – in dem Sinne, dass Mechanismen der öffentlichen Debatten kenntlich und bestenfalls relativiert werden.

    Integration des Islam

    Im vergangenen Jahrzehnt hat der Islam speziell die Debatten über die Integration von Einwanderern klar bestimmt, wobei der 11. September 2001 (9/11) eine deutliche Verstärkung brachte (Halm 2012: 1). Zuvor wurden gesellschaftliche Debatten über deren Sozialintegration vorrangig unter dem Label »Ausländer« oder auch »Türken« (als Repräsentation der größten und als vergleichsweise fremd empfundenen nationalen Herkunftsgruppe) geführt (Spielhaus 2013: 171). Es war der Nexus von sicherheitspolitischen Herausforderungen, Islam und Einwanderung, der hier kohäsionsbezogene Debattenanlässe schuf. Zugleich war die deutsche Auseinandersetzung mit Migration und Integration damals womöglich besonders anfällig für eine entsprechende Prägung, da sich eine Zuwanderungs- und Integrationspolitik auf Bundesebene zur Jahrtausendwende erst zu formen begonnen hatte (Greencard-Regelungen und die Arbeit der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«).

    Der Politik mag diese Durchdringung des Themas Einwandererintegration durch den Islamdiskurs und die damit mögliche Verengung des Blickwinkels bewusst gewesen sein. Dafür spricht, dass ab Mitte des Jahrzehnts beides separat verhandelt wurde: einerseits im Rahmen des Nationalen Integrationsplans, andererseits auf der Deutschen Islamkonferenz. Trotzdem illustrieren die Forschungsaufträge der Bundesregierung, dass auch sie die Vermischung der Debatten aktiv gefördert hat, indem der Islam gegenstandsbestimmend für die Forschung zur Sozialintegration wurde (siehe die Arbeiten von Frindte et al. 2011; Brettfeld und Wetzels 2007; z. T. auch Haug, Müssig und Stichs 2009). Die Fokussierung auf das Thema »Einwandererintegration als Beitrag zu gesellschaftlichem Zusammenhalt« ist aus der Auftragsforschung zu Muslimen in Deutschland teilweise deutlich herauszulesen. Auch die Deutsche Islamkonferenz stellt die Verbindung zwischen Sozialintegration und innerer Sicherheit deutlich her, indem sie Prävention von Extremismus – allerdings nicht nur Islamismus, sondern auch Rechtsextremismus – als Teilziel nennt (www.deutsche-islam-konferenz.de, Zugriff am 1.2.2012). Diese Prägung erfuhr im Laufe der beiden bisherigen Auflagen der Konferenz immer wieder Kritik, die zum Ende der Legislaturperiode 2009–2013 nicht nur bei muslimischen Teilnehmenden in grundsätzlichen Zweifeln an dem Projekt gipfelte (FAZ 7.5.2013).

    Die Thematisierung von Rechtsextremismus durch die Islamkonferenz findet ihre Entsprechung auch in den öffentlichen Debatten über in Deutschland existierende Islamphobie sowie im wissenschaftlichen Diskurs. Wilhelm Heitmeyer integrierte bald nach 9/11 eine Fragenbatterie zur Islamfeindlichkeit in seinen Survey zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (siehe Leibold und Kühnel 2003) und leistete damit einen Beitrag zur Etablierung solcher auf Deutschland bezogenen Forschung. Islamfeindlichkeit ist in diesem Verständnis eine Äußerung gesellschaftlicher Desintegrationsprozesse und entsprechend trifft ihre Thematisierung den Nerv einer angesichts von Vielfalt auf den Zusammenhalt bedachten Gesellschaft.

    An einigen Punkten überschnitten sich in der Islamauseinandersetzung des vergangenen Jahrzehnts die kohäsionsbezogenen mit verteilungspolitischen Diskursanlässen (Stichwort Sozialtransfers bei Sarrazin). Auch bei Moscheebaukonflikten amalgamieren kulturelle Heterogenisierung und (symbolischer) Ressourcenkampf, was einen Teil der großen Aufmerksamkeit erklären mag.

    Im Ergebnis war der Ertrag der so geprägten Islamdebatten dünn. Dies gilt für die Deutsche Islamkonferenz, die hinsichtlich der ursprünglich ebenfalls beabsichtigten Verbesserung der strukturellen Integration des Islam als Religion wenig beitragen konnte, während die Erreichung der sicherheitspolitischen Ziele schwer einzuschätzen ist, zumindest aber von vielen muslimischen Teilnehmenden eher skeptisch gesehen wurde. Dies gilt für die Islamfeindlichkeit, die als Konzept wenig Nutzen für ein besseres Verständnis sozialer Desintegration beinhaltet: Denn die Empirie – auch der Survey Heitmeyers – zeigt, dass sich Einstellungen gegenüber Muslimen und gegenüber dem Islam in Teilen auch unabhängig voneinander entwickeln können und damit Islamskepsis nicht zwangsläufig das Zusammenleben gefährden muss (Halm 2012). Das Konzept der Islamfeindlichkeit oder, wie oft formuliert wird, der »Islamphobie« leistet – geht es um die Charakterisierung der deutschen Gesellschaft insgesamt und nicht nur um zweifellos in beklagenswert großem Umfang vorhandene öffentliche Ausfälle gegen Muslime – nur einen begrenzten Beitrag zum Verständnis islambezogener gesellschaftlicher Konflikte als Auseinandersetzungen um Repräsentation, Anerkennung und Teilhabe und der Bedingungen des Verlaufs und der Ergebnisse solcher Konflikte. Mitunter »munitioniert« das Islamphobie-Konzept diese Auseinandersetzungen argumentativ. Allerdings weist Bade (2013: 363) nach, dass islamfeindliche Haltungen inzwischen eine strukturelle Qualität bekommen haben und über eine scheinaufklärerische Islamkritik weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen sind, was dazu führen kann, Muslime letztlich aufgrund von Kulturrassismus aus einem möglichen Konsens über die Identität Deutschlands als Einwanderungsland auszuschließen. Dabei konstituiert laut Bade die Islamkritik zugleich eine – in Teilen menschenfeindliche – Ersatzdebatte, die von der Notwendigkeit der Aushandlung eines wirklich tragfähigen Konsenses ablenkt.

    Auch erweist sich, dass von einer besonders weiten Verbreitung autoritarismusaffiner Einstellungen bei muslimischen Jugendlichen nicht ausgegangen werden kann (Brettfeld und Wetzels 2007: 307). Ebenso wenig belegen die Daten von Brettfeld und Wetzels einen ursächlichen Zusammenhang zwischen religiösen Orientierungsmustern der Jugendlichen und der Legitimation politisch-religiöser Gewalt oder religiöser Intoleranz. Hier sind es stattdessen Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen, die solche Haltungen am ehesten erklären können (ebd.: 330 f.). Die islambezogenen Sicherheitsdebatten sind mithin verkürzt, ebenso wie die Diskussion der Sozialintegrationsbilanz der Muslime: Auch hier erweist sich die Religion als in letzter Konsequenz untauglicher oder mindestens zu hinterfragender Container, ebenso wie der Migrationshintergrund. Trotz umfangreicher primär- und sekundärstatistischer Datenanalysen wird ein Zusammenhang zwischen religiöser Orientierung und dem Erfolg der Sozialintegration nicht als zu verallgemeinerndes Phänomen fassbar (Halm und Meyer 2013: 226). Die meist kohäsionsinduzierten Debatten um den Islam und die Muslime im vergangenen Jahrzehnt haben damit nur sehr begrenzt tatsächliche gesellschaftliche Herausforderungen thematisieren können, was eben auch für diejenigen Debatten gilt, die nicht den Absurditätsgrad der Auseinandersetzung um Sarrazin aufwiesen (siehe zu Letzterer die Analyse von Bade 2013).

    Staatsangehörigkeitsrecht

    Mit dem Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 fand ein einschneidender rechtlicher Paradigmenwechsel im »Nichteinwanderungsland« statt. Obwohl bereits das Ausländergesetz 1991 das vorher allein geltende Ius Sanguinis aufgebrochen hatte – der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit also nicht mehr exklusiv von der Abstammung abhing –, erhalten seitdem in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern neben deren Staatsangehörigkeit automatisch auch die deutsche. Zugleich wurden die Einbürgerungsbedingungen verändert und somit der Kreis der Einbürgerungsberechtigten wesentlich erweitert. Dass diese Gesetzesänderung und die mit ihr verbundenen Debatten dem Komplex Vielfalt und gesellschaftlicher Zusammenhalt zufallen, liegt auf der Hand. Es geht um die Frage, wer zum Staatsvolk gehört und als Bürger bzw. Bürgerin gleichberechtigt politisch partizipiert.

    In der jüngeren deutschen Diskussion um die Staatsangehörigkeit machte sich die Angst vor einem Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts durch das Hinzukommen von nicht ethnisch Deutschen Luft in Mutmaßungen über die Loyalität der neuen Staatsbürger gegenüber der Bundesrepublik, wobei hier, naheliegend, Überschneidungen mit den Islamdebatten zu konstatieren sind (vgl. Grabau 2013: 196). Ein Kristallisationspunkt war der »Muslim-Test« bei der Einbürgerung in Baden-Württemberg 2006. Dieses Vorhaben stand im Kontext der schrittweisen Verschärfung der Einbürgerungsbedingungen ab Mitte des vergangenen Jahrzehnts (Nachweis von Deutschkenntnissen ab 2005 und schließlich der bundeseinheitliche Einbürgerungstest ab 2008, in dessen Vorfeld das baden-württembergische Modell entwickelt worden war).

    Vor der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts 2000 waren die politischen Debatten heftig und sie konzentrierten sich frühzeitig auf einen Aspekt, der die Auseinandersetzung bis heute bestimmt: die Hinnahme von Doppelstaatlichkeit, die Folge der Anwendung des Geburtsortsprinzips sein kann. Dieses Modell wurde von CDU und CSU stark bekämpft und besonders im hessischen Wahlkampf 2000 erfolgreich thematisiert, in dessen Folge ein Mehrheitsverlust von Rot-Grün im Bundesrat die Änderung des Vorhabens zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht notwendig machte – die sogenannte Optionspflicht, nach der sich in Deutschland geborene Kinder bis zum Alter von 21 Jahren für eine ihrer Staatsbürgerschaften entscheiden müssen, war die Folge. Entscheiden sie sich nicht, verlieren sie automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Loyalitätsdebatte korrespondiert in beispielhafter Weise mit dem oben erwähnten binären Reduktionismus beziehungsweise machen sich Teile des politischen Spektrums diesen im politischen Wettbewerb zu eigen.

    Allerdings gibt es auch erhebliche Einwände gegen den unterstellten problematischen Zusammenhang von Loyalität und Mehrstaatlichkeit und diese Argumente wurden und werden ebenfalls öffentlich diskutiert und von der Politik aufgegriffen (so vom NRW-Integrationsminister Guntram Schneider, aber auch in Debatten der FDP, beides verstärkt 2013). Das mag auch damit zu tun haben, dass die ersten »Optionskinder« – die Neuregelung galt 2000 rückwirkend für bis zu zehn Jahre alte Kinder – 2013 mit ihrem 23. Geburtstag den deutschen Pass zu verlieren drohten. Außerdem bedeutet die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft in der Praxis eine Diskriminierung bestimmter Einwanderergruppen, etwa indem bei Bürgerinnen und Bürgern aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Mehrstaatlichkeit hingenommen wird (2011 erfolgten 50 Prozent aller Einbürgerungen unter Beibehaltung der vorherigen Staatsbürgerschaft; Bundesamt für Statistik 2012: Tabelle 11).

    Auch hier handelte es sich um Abwägungen vor der Folie gesellschaftlichen Kohäsionsstrebens, das darin bestehen kann, rechtliche Diskriminierung zu vermeiden, Loyalitätskonflikte gar nicht erst zu erzeugen und überhaupt den Bevölkerungsanteil, der politisch nicht partizipiert, durch Einbürgerung zu verringern und das Funktionieren des demokratischen Gemeinwesens zu sichern. Nach dem Jahr 2000 war die Einbürgerungsentwicklung über Jahre hinter den Erwartungen, die an die neue Gesetzgebung geknüpft worden waren, zurückgeblieben. Die jährlichen Einbürgerungszahlen gingen ab 2001 zunächst zurück (vgl. Weinmann, Becher und Babka von Gostomski 2012: 25), lagen allerdings noch immer über dem Niveau der 1990er-Jahre. Außerdem bestehen unter Umständen völkerrechtliche Probleme mit der deutschen Regelung, da die Voraussetzung der Aufgabe der alten vor dem Erwerb der neuen Staatsangehörigkeit Staatenlosigkeit erzeugen kann. Überhaupt ist international der Trend zur Hinnahme von Mehrstaatlichkeit festzustellen (Thränhardt 2008: 4).

    Obwohl die Entwicklung der Einbürgerungszahlen nicht monokausal erklärt werden kann, zeigen Befragungen von in Deutschland ansässigen Ausländern doch klar, dass die fehlende Möglichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit als bedeutendes Hemmnis für die Entscheidung zur Einbürgerung zu begreifen ist. Für zwei Drittel der ausländischen Menschen in Deutschland, die hinsichtlich Aufenthaltsstatus und -dauer die Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen, ist dies der Grund, den Schritt noch nicht gegangen zu sein (Weinmann, Becher und Babka von Gostomski 2012: 361 f.). Die Studienlage ist hier sehr konsistent. Auch eine Befragung unter Türkeistämmigen in Nordrhein-Westfalen weist die fehlende Möglichkeit des Doppelpasses als bedeutenden Hinderungsgrund für die Einbürgerung nach (Sauer 2013: 68).

    Die Schwierigkeiten, die bei Einbürgerungsinteressierten mit der Aufgabe der Herkunftsstaatsangehörigkeit bestehen, finden ihre Entsprechung in den Identitäten und Lebenswirklichkeiten von Einwanderern, indem die Übernahme einer »rein deutschen« Identität die Ausnahme ist und sich stattdessen mehr oder weniger konsistente Doppelidentitäten herausbilden (Badawia 2002). Und vor allem ist die »deutsche« Identität nicht Folge ansonsten erfolgreicher Sozialintegrationsprozesse (Sauer und Halm 2009: 117). Die Einbürgerungsdebatte im vergangenen Jahrzehnt zeigt damit anschaulich, wie die

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