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Volkes Wille?: Warum wir mehr Demokratie brauchen
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Volkes Wille?: Warum wir mehr Demokratie brauchen

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Demokratie ist nur wirklich, wenn sie stetig erneuert und erweitert wird. Doch heute ist das Gegenteil der Fall: Stagnation, Krise der Demokratie, Entwertung demokratischer Prozesse. Wir brauchen eine Demokratisierung der Wirtschaft, transnationale Bürgerrechte und neue direktdemokratische Formen.
LanguageDeutsch
Release dateDec 19, 2014
ISBN9783858696533
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    Volkes Wille? - Stefan Howald

    2014

    Kapitel 1: Postdemokratie und Wutbürger

    »Der wahre Name, den die Demokratie begehrt, heißt Kommunismus«

    Krise und Krisengerede

    Im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 wurden in den westlichen Industrieländern demokratische Institutionen eingeschränkt, geschwächt und ausgehöhlt. Nationale Regierungen sind hilflos gegenüber der Troika – EU-Kommission, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds –, die eine Politik im Interesse von Märkten und Banken verfolgt. Die Parlamente haben an Macht verloren. Die sozialen Proteste werden durchs soziale Elend abgedämpft oder gar erstickt.

    Die Schweiz hat, wieder einmal, besondere Probleme. Sie hat auch besondere Lösungsmittel, die zugleich zu ihren Problemen beitragen. Die Stimmbeteiligung bei Wahlen und Abstimmungen erreicht immer neue Tiefstände, die andere europäische Länder in eine politische Sinnkrise stürzen würden. Die Geldströme in der Politik sind bekannt, aber nicht belegt, dafür akzeptiert. Die Demokratiekritik wird von rechts instrumentalisiert. Ebenso das Instrument der Volksabstimmung. Ja, die Mehrheit verhält sich öfter »unanständig«, wie der Schriftsteller Jonas Lüscher beklagt.¹

    Doch die Kritik am Rückbau der Demokratie reicht weiter zurück als zur Wirtschaftskrise oder zu den jüngsten fremdenfeindlichen Wahlerfolgen der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Der englische Politologe Colin Crouch prägte im Jahr 2003 den Begriff »Postdemokratie«, und der ist seither salonfähig geworden. Die Konstruktion des Begriffs orientiert sich an früheren wie Poststrukturalismus, Postmoderne oder Postfeminismus. Darin steckt eine chronologische wie eine inhaltliche Dimension. Einer gesellschaftlichen Epoche und ihrer Theorierichtung folgt eine Nachphase, die ihre Vorgängerin inhaltlich teilweise überwindet. Die Benennung war in unterschiedlichem Maß negativ oder positiv besetzt. Der Poststrukturalismus wurde wissenschaftsgeschichtlich mehrheitlich als Öffnung eines steril gewordenen Strukturalismus aufgefasst; die Postmoderne galt, heftig umstritten, den einen als lustvoller Ausgang ins Anything goes, während andere sie als Schreckbild einer Beliebigkeit und eines Verrats an der Aufklärung verdammten; der Postfeminismus hinwiederum versucht, ebenfalls umstritten, eine kritische Haltung zu retten, indem einige inhaltliche Forderungen, die dieser Haltung entspringen, preisgegeben werden. »Postdemokratie« ist dagegen ausschließlich negativ gemeint: ein Rückschritt, ein Zerfall.

    »Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«²

    In seinem ursprünglich 2003 veröffentlichten Buch schrieb Colin Crouch, dass sich die Gesellschaft und die Politik »in Richtung der Postdemokratie bewegen«, hielt also erst eine Tendenz fest. Diese Tendenz hat durch die Finanzmarktkrise einen massiven Schub erhalten.

    Für zahlreiche kritische Autorinnen und Autoren ist die »Krise der Demokratie« mittlerweile ein Gemeinplatz, von Wolfgang Streeck über Sahra Wagenknecht, Slavoj Žižek und Giorgio Agamben bis zu Antonio Negri und Jürgen Habermas. Wir sind, sagt Giorgio Agamben »heute Zeugen einer überwältigenden Vorherrschaft von Regierung und Ökonomie über eine sukzessive entleerte Volkssouveränität«.³ »Kein Mensch nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit mehr ernst, wir alle wissen um deren Korruptheit«, meint Slavoj Žižek.⁴ Die Demokratie werde heute »Zug um Zug abgeschafft, indem nicht mehr gewählte Politiker regieren, sondern Finanzinstitute«, heißt es bei Sahra Wagenknecht.⁵ Die Krise des Euro ist zu einer »Krise des demokratischen Kapitalismus« geworden, erklärt Wolfgang Streeck.⁶ Für Jürgen Habermas haben Merkel und Sarkozy einen »postdemokratischen Weg«⁷ eingeschlagen. Der Schriftsteller Ingo Schulze sekundiert: »Eine Situation, in der es der Minderheit einer Minderheit gestattet wird, es also legal ist, das Gemeinwohl der eigenen Bereicherung wegen schwer zu schädigen, ist postdemokratisch.«⁸ Die Volksvertretung, immer schon ein prekäres Konstrukt, werde heutzutage »ausgehöhlt«, da »ihre Möglichkeiten inzwischen radikal zusammengeschmolzen sind«, sagen Michael Hardt und Antonio Negri.⁹ Der Club Helvétique, ein loser Zusammenschluss linker und linksliberaler Politiker und Wissenschaftler beiderlei Geschlechts, meint in Bezug auf die Schweiz, die von rechts propagierte »Scheuklappen-Schweiz« stelle »das Prinzip infrage, auf dem die Demokratie ruht«, mache »Volksherrschaft zur Willkürherrschaft«.¹⁰ Ja, selbst ein bislang unbescholtener Zeuge wie Marc Chesney, Finanzprofessor am Institut für Banking und Finance der Universität Zürich, fürchtet angesichts der überbordenden Macht der Finanzwirtschaft »um das Wohl der Demokratie«.¹¹

    Je nach Interesse richtet sich der Blick dabei auf unterschiedliche Gesellschaftsbereiche. Colin Crouch konzentriert sich auf die Veränderungen der parlamentarischen Demokratie und der öffentlichen Meinungsbildung: Apathie, Personalisierung und Medialisierung, Korruption durch und innerhalb der Parteienfinanzierung. Wolfgang Streeck benennt die strukturelle Veränderung vom sozial umverteilenden »Steuerstaat« zum austeritätsradikalen »Schuldenstaat«.¹² Andere Autoren betonen vor allem die Aushebelung demokratischer Institutionen durch angeblich interesselose Fachleute. Jürgen Habermas spricht von einer »demokratisch entwurzelten Technokratie«¹³. Auch Kristin Ross meint, die EU vermittle ihren Bürgern zusehends die Botschaft, »komplexe Regierungsangelegenheiten den Experten zu überlassen, der Technokratie«.¹⁴ Ein besonderer Aspekt dieser zunehmenden technokratischen Herrschaft zeigt sich im Sicherheits- und Überwachungsbereich. Seit den mörderischen Anschlägen von 2001 auf die Twin Towers in New York hat sich in den westlichen Demokratien durch den »Krieg gegen den Terrorismus« ein industriell-militärischer Repressionsapparat aufgebläht. US-Präsident Barack Obama, 2009 Symbol eines gesellschaftlichen Aufbruchs und emotionaler Hoffnungsträger, hat sich als besonders eifriger Verfechter undemokratischer Praktiken entpuppt. Der Skandal um die US-amerikanische National Security Agency (NSA) hat gezeigt, dass die Überwachung der Bürger durch Geheimdienste in Zusammenarbeit mit großen Technologiekonzernen praktisch schrankenlos geworden ist und keinerlei demokratischer Kontrolle mehr untersteht.

    Mehr oder weniger ausgesprochen und ausgeführt, geht es bei all diesen kritischen Ansätzen um das verschobene Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik. Man könnte geradezu von einem wirtschaftspolitischen Putsch gegen die Politik sprechen. Dieser Putsch ist aber nicht von den Wirtschaftsführern allein durchgeführt worden, sondern im Einverständnis mit den Politikern und unter deren aktiver Mithilfe. Es ist eine »passive Revolution«¹⁵: eine Revolution, weil sie radikale Veränderungen bewirkt, passiv, weil sie von oben durchgeführt worden ist, wobei die zur Beruhigung von Protesten angekündigten Reformen im Finanzsektor weitgehend ausgeblieben sind.

    Michael Hardt und Antonio Negri fassen die verbreitete Kritik mit rhetorischem Aplomb zusammen. »Verschuldete«, »Verwahrte«, »Vertretene« und »Vernetzte«: Damit benennen sie die vier Opfer der gegenwärtigen kapitalistischen Apokalypse und deren entleerte Demokratie. Drei der vier Opfer sind einschlägig bekannt. Die aktuelle Finanzmarktkrise hat die Verschuldung und »Verschuldeten« unübersehbar gemacht. In den westlichen Ländern nimmt die Zahl der in Institutionen »Verwahrten«, insbesondere im Asylbereich, zu. Die »Vernetzten« der neuen sozialen Medien fangen sich, nach dem ersten basisdemokratischen Überschwang, zunehmend in allgegenwärtigen Datenströmen und alle überfordernden sozialen Beziehungen. Mit dem Begriff der »Vertretenen« wird schließlich spezifisch die Krise der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie gefasst, die das Volk entmündigt.

    All diese Beschreibungen und Befürchtungen haben den unmittelbaren Anschein für sich. Doch mit welchem Bezugspunkt wird der aktuelle Verfall der Demokratie gemessen – geografisch und historisch? Im Weltmaßstab gesehen, verliert die These ihre vordergründige Evidenz. Bei allen Widersprüchen und Rückschritten, die der Arabische Frühling erlebt hat, ist im arabischen Raum die Demokratie zumindest als Versprechen weiterhin präsent. Die Rede von der Krise der Demokratie meint vor allem die westlichen Industriegesellschaften.

    Zeitlich gesehen, lief der Demokratieabbau parallel mit der Herrschaft des Neoliberalismus seit Anfang der 1980er-Jahre, der den Nachkriegskonsens aufgekündigt und den Sozialstaat attackiert hat und der seit dem Zerfall des Sowjetimperiums die kapitalistische Wirtschaftsweise als alternativlos präsentieren konnte. Dahinter wird eine weiter reichende Entwicklung angedeutet: Errungenschaften seit dem Aufkommen der Arbeiterbewegung drohen verloren zu gehen. Wir kehren also ins 19. Jahrhundert zurück, zu Manchesterkapitalismus und Imperialismus.

    Refeudalisierung?

    Oder sogar noch weiter zurück? Die Aushöhlung demokratischer Rechte ist in den letzten Jahren verschärft worden zur These einer »Refeudalisierung« der Gesellschaft. Auch diese These hat einen Anschein für sich. Ein neuer »Geldadel« kauft Kunstbilder und Fußballklubs für Rekordsummen und stellt seinen Reichtum schamlos zur Schau. Die immer zahlreicheren Leiharbeiter werden quasi als Leibeigene gehalten. Das gutbürgerliche Leistungsprinzip arbeitsamer Unternehmer wird durch die schrankenlose Aneignung des Mehrwerts durch Finanzspekulanten ersetzt, die auch den arg gebeutelten Mittelstand aussaugen. Kurzum: Wir kehren zu feudalen Zuständen zurück. Das Wort stammt vom österreichischen Soziologen Sighard Neckel aus einem 2010 veröffentlichten Aufsatz Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft. Er katapultierte den Titelbegriff in die öffentliche Diskussion. Seither wird er in Feuilletons verwendet; sogar in der bürgerlichen Welt beklagte Chefideologe Thomas Schmid im Sommer 2011 die »Refeudalisierung der Politik«. Auch Marc Chesney spricht ganz selbstverständlich von einem neuen »Geldadel«; und der Kampf gegen Abzocker und Heuschrecken greift gelegentlich auf die Metapher fürstlicher Gehälter und feudaler Entartung zurück.

    »Refeudalisierung« ist zweifellos ein süffiger Begriff, weil er sofort Bilder handfester Unterdrückung und unmoralischer Völlerei hervorruft. Bei genauerer Betrachtung aber ist er nicht haltbar.¹⁶ Die Einkommensschere hat sich zwar in den letzten dreißig Jahren massiv geöffnet, ist aber nicht größer als vor hundert Jahren. Der französische Ökonom Thomas Piketty, dessen Bestseller Le capital au XXIe siècle verdienstvollerweise die wachsende Vermögens- und Einkommenskluft in den letzten drei Jahrzehnten des Neoliberalismus dokumentiert, belegt gleichzeitig, beinahe verschämt, dass die Ungleichheit Anfang des 20. Jahrhunderts, in der Belle Époque noch ungleich größer war.¹⁷

    Das heutige Prekariat und die Leiharbeit erzeugen allerdings keine Leibeigenschaft, sondern treiben kapitalistische Prinzipien auf die Spitze. Es fehlt gerade die persönliche Beziehung der Abhängigkeit. Im Gegenteil: Bei der Leiharbeit wird das Vermögen, die Ware Arbeitskraft einzukaufen, seinerseits zur Ware, von Firma zu Firma weitergegeben, und alle Vermittler schneiden sich ein Stück vom Mehrwert ab. Insgesamt meint »Refeudalisierung« bloß: Es ist schlimmer als vor dreißig Jahren geworden. Was zutreffend und schlimm ist. Aber braucht es dafür einen neuen Begriff, der vieles behauptet und nichts erklärt? An der Refeudalisierungsthese zeigt sich, wie Details über einen groben Leisten geschlagen werden und Schlagworte statt präziser Analysen politisch entwaffnen.

    Wäre denn alles vergebens? Der Provokateur Slavoj Žižek, der gelegentlich auch den Pragmatiker mimen kann, meint in dieser Rolle: »Es gibt keinen Grund, demokratische Wahlen zu verachten; es ist nur wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass sie nicht per se ein Indikator der Wahrheit sind.« Doch dann fährt er fort: »Gewöhnlich spiegeln sie mehr oder weniger die von der hegemonialen Ideologie bestimmten Doxa [Meinungen] wider.«¹⁸ Das steht in Gefahr, der alten Priestertrugtheorie zu verfallen, und kann auch kulturpessimistisch zugespitzt werden. Der französische Philosoph Alain Badiou, einst Maoist, spricht verächtlich von der »grenzenlosen Einfalt der Demokratien unserer Zeit«.¹⁹ Etwas elaborierter Hardt und Negri: »Heute findet politische Beteiligung im Dunkeln statt: Entweder wird sie von Lobbys kontrolliert, oder sie ist gleich krimineller Natur. Die Vertretenen leben in einer verblödeten Gesellschaft, manipuliert durch die lärmende Idiotie der Medienspektakel, erstickt von der undurchschaubaren Informationsflut, und ständig im Angesicht der zynisch zur Schau gestellten Macht der Reichen, die sich vor nichts und niemandem verantworten müssen.«²⁰

    Verblödet, Idiotie: In solchen Aussagen äußert sich ein – theoretisch längst überholt geglaubter – Bildungsdünkel. Ideologie als »Opium für das Volk«. Die falsche Erinnerung an das Marx-Wort ist weiterhin wirkungsmächtig: von oben durch trügerische Priester verabreicht. Bei Karl Marx aber ist die Religion als damals wirkungsmächtigste Ideologie »Opium des Volkes«²¹: funktional fürs Überleben wichtig und zuweilen von den Konsumenten eigenverantwortlich eingenommen. Was Kritik nicht überflüssig, aber einen komplexeren Ideologiebegriff notwendig macht.

    Auftritt der Wutbürger

    Es stimmt ja: In den westlichen Industriestaaten hat das Interesse am politischen Prozess abgenommen. Alle Politiker jammern über sinkende Stimmbeteiligungen und zunehmende Apathie. Aber man kann das auch anders lesen. Der französische Politologe Pierre Rosanvallon beispielsweise meint bezüglich der Gegenwart: »Als Souverän haben die Bürger ihre Fähigkeit, sich einzumischen und ihren Einfluss geltend zu machen, beständig erhöht. […] Noch die Heftigkeit, mit der sie das parlamentarische System attackieren, zeugt von ihrer Entschlossenheit, das demokratische Ideal mit Leben zu erfüllen.«²²

    Der scheinbare Gegensatz zwischen der Krise der Demokratie und der Stärkung des demokratischen Ideals lässt sich leicht auflösen. Die politische Beteiligung verläuft nicht mehr in den traditionellen Bahnen, ist unberechenbarer, auch diffuser geworden. Im deutschen Blätterwald tauchte im Herbst 2010 für dieses Phänomen der Begriff »Wutbürger« auf. Die zähen Proteste gegen den neuen Bahnhof S 21 in Stuttgart sowie die breite Zustimmung, die Thilo Sarrazins Polemik gegen die Einwanderung und den despektierlich abgewerteten »Multikulturalismus« hervorgerufen hatte, wurden von Dirk Kurbjuweit im Spiegel kurzerhand zusammengezwungen: Hier zeige sich eine neue Schicht aktiver Menschen, die bereit seien, sich öffentlich und heftig zu exponieren. Es seien überwiegend gut situierte, konservative, ältere Menschen. Enttäuscht von den Politikern und der herkömmlichen Politik, wehrten sie sich gegen den Wandel, seien »Ausdruck einer skeptischen Mitte, die bewahren will, was sie hat und kennt«.²³

    Der neue Begriff war zuerst einmal Ausdruck einer Verwunderung: dass da überhaupt jemand trotz laufender Finanzkrise wagte, aufzumucken. Dass es vor allem gutbürgerliche Kreise waren, die aufmuckten. Aber die Wortprägung war zugleich diffamierend gemeint. Dafür wurde gezielt das Wort »Wut« gewählt, das Zeichen des Emotionalen, Irrationalen, und nicht etwa Zorn. Wut gilt als dumpfer denn Zorn. Wut teilt nach allen Seiten aus, ist blindwütig, heißrot. Zorn dagegen ist zielgerichtet, kalt, stahlblau. Der Vorwurf sollte zugleich davon ablenken, dass auch die aktuelle Parteipolitik populistisch wie selten zuvor mit Emotionen arbeitet. Und prophylaktisch könnte die Diagnose in anderem Zusammenhang, treuherzig seufzend, den Einsatz von Emotionen und Wut rechtfertigen: Seht, die Bürger wollen und brauchen das.

    Entsprechend trieb die Debatte skurrile Blüten, wurde demokratischer Aufbruch ins Gegenteil umgedeutet. In der Zeit sah Adam Soboczynski die Wutbürger auch an andern Fronten des Protests am Werk, etwa wenn sie die weltweite Geheimdiplomatie aufdeckten. Die neue Protestbewegung wolle, meinte er indigniert, keine Regierung mehr, die »auf diskrete Kommunikation angewiesen ist, sondern feiert Wikileaks«.²⁴ Und er argumentierte von rechtslibertärer Seite her: Auch die Kampagnen gegen Migranten seien wie die gegen Raucher Ausdruck eines Wunschs, Minderheiten zu gängeln, solange der Staat diese noch schütze. In solcher Publizistik wurde unter dem Stichwort Antidemokratismus Unterschiedliches grotesk zusammengeworfen und zu einem trüben Brei verrührt, jenseits der Realität. Der Protest gegen S21 zeichnete sich ja gerade durch demokratische Offenheit aus, dadurch, dass er verschiedene Schichten und Interessen zusammenbrachte. Er war gerade nicht wütend auf konservative Ressentiments beschränkt, sondern zielgerichtet. Der lokale Anstoß des Zorns schloss Bemühungen um eine übergreifende Perspektive – zur Verkehrspolitik, zu kapitalistischem Wachstum – nicht aus. Und die Protestbewegung erkundete verschiedene Formen: Die Rückeroberung der Straße ging einher mit Mischformen der repräsentativen und direkten Demokratie, mit gelegentlichem Seitenblick auf die Volksabstimmungen der Schweiz. Soboczynski sah darin in kalkulierter Verkehrung eine antidemokratische Tendenz. Die neuen Protestierenden wollten sich »nicht in den Niederungen der Parteien engagieren, sondern den Meinungsbildungsprozess in Volksabstimmungen abkürzen«.

    Umgekehrt versuchte Barbara Supp im Spiegel, das Wort »Wutbürger« durch die positive Ergänzung »Mutbürger« aufzuwerten.²⁵ Sie wies auf eine Tradition friedlicher Straßenproteste hin und erklärte, »dass die Mitte der Gesellschaft mit mehr Misstrauen betrachtet, wie ihre Regierungen regieren«, dass sie »über Ursachen, Risiken und Nebenwirkungen von Beschlüssen« informiert werden wolle und dass dazu »frühe Bürgerbeteiligung, Volksentscheide« nötig seien.

    Angesichts dieser medialen Aufgeregtheiten wurde »Wutbürger« zum »Wort des Jahres« 2010 erkoren, in den Duden aufgenommen und als Gegenreaktion gleich auch noch zum »Unwort des Jahres« erklärt. Eine Studie gab erste vage Aufschlüsse über die soziale Zusammensetzung der Protestbewegung: Vor allem aber wurde vor Verallgemeinerungen gewarnt. Seither ist der Begriff ein wenig verweht, jedoch kürzlich vom österreichischen Schriftsteller und Publizisten Robert Menasse wieder aufgegriffen worden. Ja, das Phänomen des Wutbürgers ist eine der beiden Triebfedern seines weit herum diskutierten Plädoyers für eine demokratisierte Europäische Union. Schon im Untertitel stellt er die »Wut der Bürger« gegen den »Frieden Europas«. Der Wutbürger, so Menasses Arbeitshypothese, sei derjenige, der die einfache innenpolitische Alternative von denen da oben gegen die hier unten nach außen projiziere: die seelenlosen, Geld verschlingenden Bürokraten in Brüssel gegen die hart arbeitenden Menschen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Menasse beschreibt scharfsinnig einige Positionen der xenophoben EU-Gegner und einer auf die eigene Haustür beschränkten Politperspektive, übernimmt allerdings die medialen Vorurteile gegen die neuen Protestformen, verallgemeinert sie unzulässig und kleistert sie mit der Vokabel vom Wutbürger zu. Dabei übersieht er auch, welches Potenzial in den neuen Protesten gerade für seine durchaus honorable Vision eines »nachnationalen, subsidiären Europa der Regionen«²⁶ steckt.

    Die schlechteste aller Regierungsformen

    Es gibt ein bekanntes Bonmot des langjährigen britischen Premierministers Winston Churchill aus dem Jahr 1947: »Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, ausgenommen alle anderen.« Darin äußert sich, so die Mär, der englische Pragmatismus, dank dessen die Britinnen und Briten sich während des Zweiten Weltkriegs gerade gegen den Kriegsapparat der mörderischsten Ideologie der Weltgeschichte behauptet hatten. Doch in den Kontext gestellt, in dem es geäußert wurde, beginnt das Bonmot zu schillern und verkehrt sich beinahe ins Gegenteil. Churchill, der Britannien siegreich durch den Zweiten Weltkrieg geführt hatte, war bei den Parlamentswahlen im Juli 1945 mit seinen Konservativen überraschend von der Labour Party unter Clement Attlee geschlagen worden, und zwar deutlich mit 39,8 gegen 47,8 Prozent Wählerstimmen. Offensichtlich traute eine Mehrheit der Briten dem Kriegshelden Churchill nicht zu, sie gleich erfolgreich durch den Frieden zu führen. Tatsächlich hatte er sich in früheren Regierungen als radikaler Konservativer und Reaktionär gebärdet, hatte als Kriegsminister 1919 die antirevolutionäre Weiße Armee in Russland unterstützt, während der Zwischenkriegszeit entschieden eine Klassenpolitik gegen die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften propagiert und sich noch während des Zweiten Weltkriegs für die Fortführung der britischen Kolonialherrschaft ausgesprochen. Laut dem erklärten Urdemokraten Churchill waren offenbar nicht alle Menschen der Demokratie gleich würdig.

    Nach der Wahlniederlage 1945 blieb Churchill konservativer Parteichef und Oppositionsführer. 1947 präsentierte die Regierung Attlee einen moderaten Reformvorschlag für das Oberhaus, die jenseits aller demokratischen Verfahren ernannte zweite britische Parlamentskammer. Churchill fürchtete, zu Recht, dadurch werde eine konservative Bastion geschwächt. In einer langen Rede vor dem Unterhaus griff er die Pläne der Regierung an und warf dieser vor, nicht das Volk zu vertreten, ja, dieses durch ihre Sozialpolitik und die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien in die Knechtschaft zu führen: »Wir nähern uns in diesem Land einer Diktatur an«, meinte er und bot als Antithese dann den berühmten Satz über die Demokratie an.²⁷ Indem eine linkssozialdemokratische Politik als diktatorisch verleumdet wurde, wollte er den Einsatz für einen antidemokratischen Zustand als Verteidigung der Demokratie verkaufen.

    Es blieb dann der Labour-Regierung vorbehalten, Mitte 1948 endgültig das demokratische Prinzip »Eine Person, eine Stimme« einzuführen, indem das Doppelwahlrecht der Universitäten und der City of London beseitigt wurde. Als Churchill im Oktober 1951 erneut Premierminister wurde, hatten seine Konservativen mit 48 Prozent zwar weniger Volksstimmen als die 48,8 Prozent der Labour Party erhalten. Aber wegen des britischen Majorzwahlrechts reichte das für 321 Sitze gegenüber 295 für Labour. Zuweilen gesellt sich Demokratie offensichtlich zu allen anderen schlechtesten Regierungsformen.

    Die Demokratie trägt ein zentrales Problem schon im Namen: demos-kratia, »Volks-Macht«, »Volks-Herrschaft«. Wer ist das Volk, und wie erringt und sichert es seine Herrschaft?

    Jean-Jacques Rousseau, der erste und einflussreichste Demokratietheoretiker der Moderne, stellte sich am Beginn seines grundlegenden Werks Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts die Frage, wie sich individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse vereinen ließen.²⁸ Gegen alle Vorstellungen eines Gottesgnadentums begründete er das Konzept der Volkssouveränität: In einem ursprünglichen Akt der Vergesellschaftung entäußern sich die Individuen ihrer natürlichen Freiheit durch eine freiwillige Verbindung zugunsten des Gemeinwillens. Nur diesem Gemeinwillen als der gesetzmäßigen, selbstgegebenen Macht schulden die Menschen Gehorsam. Der Gemeinwille begründet auch die Gleichheit aller. Freilich muss er konkret ausgeprägt und umgesetzt werden. Rousseau erkannte das Dilemma, dass sich der Gemeinwille als Willensäußerung zwar theoretisch begründen lässt, dass daraus aber nicht naturwüchsig konkrete Vorschriften, Handlungsanleitungen und Gesetze folgen. Dafür braucht es einen Gesetzgeber. Das Volk als der Souverän bleibt diesem übergeordnet. Allerdings gilt: »Niemals kann das Volk korrumpiert werden, doch oft wird es betrogen.«²⁹ So muss es zuweilen zu seinem Glück angeleitet werden. Der Gesetzgeber hat den Souverän von der Güte seines Entwurfs zu überzeugen. Dabei kann er sich zuweilen auch eines »Tricks« bedienen.³⁰ Rousseau mühte sich mit unterschiedlichem Erfolg ab, dieses Spannungsverhältnis zwischen Souverän und Gesetzgeber zu lösen. Da seine Vorstellungen unter den kleinräumigen Bedingungen der damaligen Republik Genf entstanden, war ein direkter, rational argumentierender Meinungsaustausch noch vorstellbar.

    Damit sind in der Demokratie von Beginn an zwei Bedeutungen angelegt: die als grundsätzliche Form einer Gesellschaft und die als konkrete Ausgestaltung des Zusammenlebens. Demokratie ist einerseits die »Verfassung des Gemeinwesens«, andererseits eine »Regierungstechnik«, einerseits die grundsätzliche Konzeption des öffentlichen Rechts und andererseits konkrete Verwaltungspraxis, zugleich »eine Legitimationsform der Macht wie auch die Art und Weise ihrer Ausübung«³¹. Vereinfacht ließe sich sagen, dass Rousseaus »Gemeinwille« der Legislative und sein »Gesetzgeber« der Exekutive entspricht.

    Wovon wird also gesprochen, wenn heute von Demokratie gesprochen wird? Offensichtlich von unterschiedlichen Dingen auf verschiedenen Ebenen, je nach Kontext und Absicht. Einerseits ist Demokratie als Gesellschaftsform zum nicht hinterfragbaren »Wahrzeichen«³² der westlichen Gesellschaften geworden: Wir alle sind jetzt Demokratinnen und Demokraten, und es gibt keine Alternative dazu. Andererseits ist sie, gleichzeitig, als Regierungstechnik in der Form des Sozialstaats zunehmend umgebaut und ausgedünnt worden. Die Debatte findet im demokratischen Raum statt: Wir denken unser (nicht nur politisches) Leben demokratisch. Als »Wahrzeichen« gibt die Demokratie der Kritik ihren Raum vor: Ihre jetzige konkrete Form mag gefährdet, »postdemokratisch« sein, aber wir alle wollen doch bloß eine bessere Demokratie (können doch nichts anderes als eine bessere Demokratie wollen). So kann noch während ihres Abbaus ihre Macht weiterhin beschworen werden.

    Auch global bewegen wir uns diskursiv im Rahmen demokratischer Vorstellungen. Diese Vorstellungen sind mehr oder weniger real. Große Teile der Weltbevölkerung, etwa in China oder Russland, leben in Verhältnissen, die nicht westlichen demokratischen Vorstellungen entsprechen. Aber diese Vorstellungen bleiben der Referenzpunkt. Einzig die fundamental-islamistische Version eines Zusammenfallens von Religion und Staat vermag eine beschränkte Gegenvorstellung zu entwickeln. Die Attraktion des chinesischen oder russischen Modells ist dagegen »nur« der ökonomische Erfolg, und in China ist das Fehlen sozialer und politischer Mitbestimmung zusehends umstritten.

    Wie hältst du’s mit dem Kapitalismus?

    Historisch gesehen, war es das bürgerliche Versprechen, dass der aufkommende Kapitalismus an Demokratie gekoppelt sei. Die Freiheit der Wirtschaftssubjekte ist auf die freien politischen Subjekte angewiesen. Und umgekehrt. Der Kapitalismus garantiert Wachstum und Wohlstand, die Demokratie garantiert die tätige Mitgestaltung des öffentlichen Lebens. Wenn wir Demokratie wollen, müssen wir den Kapitalismus in Kauf nehmen. Und umgekehrt. Das war zur ideologischen Beruhigung gedacht, um den Kapitalismus zu zähmen, hatte aber auch reale Bedeutung. In der Nachkriegszeit hieß das ein – unterschiedlich stark ausgebauter – Sozialstaat und gegen das angelsächsische Modell eines schrankenlosen wirtschaftsliberalen der rheinische Kapitalismus mit einem korporatistischen Einbau der Gewerkschaften. Letzterer unternahm damit schüchterne Versuche, ins Reich der Wirtschaft einzudringen; in der Schweiz blieb die Wirtschaftsdemokratie vollkommen ausgespart, während ansatzweise direktdemokratische Mittel bewahrt wurden.

    Bereits 1973 nach dem Militärputsch von General Augusto Pinochet in Chile wurde mit Hilfe von US-Ökonomen versucht, eine forcierte kapitalistische Entwicklung von der Demokratie abzukoppeln. Systematischer wurde dieser quasi naturwüchsige Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Demokratie mit dem Wirtschaftserfolg ostasiatischer »Tigerstaaten« widerlegt, in denen rasantes Wachstum durch autoritäre wirtschaftspolitische und soziale Instrumente erreicht wurde. Der langjährige, von 1959 bis 1990 diktatorial regierende Premierminister Lee Kuan Yew von Singapur berief sich in diesem Zusammenhang auf spezifische »asiatische Werte«, etwa ein rigides »konfuzianisches« Arbeitsethos, die auf westliche Demokratien nicht angewiesen oder sogar damit unvereinbar seien. In vielfach vergrößertem Maßstab trifft dasselbe heute für China zu, wo sich kapitalistisches Wachstum ohne demokratische Entscheidungen vollzieht. Seit Neustem gilt diese Beziehung auch im Westen als gekappt. Slavoj Žižek stellt apodiktisch fest: »Heute dagegen ist diese Verbindung zwischen Demokratie und Kapitalismus unterbrochen.«³³ Jürgen Habermas spricht etwas zurückhaltender von einem »Auseinanderdriften von Kapitalismus und Demokratie«.³⁴ Grundsätzlich befinde sich »Europa im Widerspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus«, meint ein Artikel im Argument-Sonderband zu Europa.³⁵

    Nur: Mit welcher Demokratie hatte der Kapitalismus eine so enge Beziehung? Vielleicht hilft ja doch ein Abstecher in die gesellschaftstheoretische Forschung.³⁶ Idealtypisch lassen sich »thin democracies« von »strong democracies« unterscheiden, schwache von starken Demokratien. Ideengeschichtlich entspricht das dem liberalen beziehungsweise dem republikanischen Gesellschaftsverständnis, dem Vorrang des Individualwohls gegenüber dem Gemeinwohl und konkreter geht es um negative »Freiheiten von etwas« (Zwang, Not, Zensur) oder positive »Freiheiten zu etwas« (Meinungsäußerung, Niederlassung, Koalitionsbildung).

    Im gegenwärtigen »Wahrzeichen«, das die westliche Demokratie darstellt, steht die Freiheit im Vordergrund. Das ist aber nicht zwingend, sondern Resultat der historischen Entwicklung. An ihrer Stelle könnte auch die Gleichheit stehen. Freiheit und Gleichheit sind die beiden imaginären Punkte der Demokratie, jene Vorstellungen, die Diskurse und Handeln bestimmen und deren jeweiliger Stellenwert aus der aktuellen politischen Konstellation entspringt.

    Gerade die gegenwärtige Unterordnung der Gleichheit unter die Freiheit als Hauptkennzeichen der Demokratie bestreitet Pierre Rosanvallon. Sein neustes Buch rückt schon im Titel die Gleichheit in den Vordergrund, gegen jeden

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