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Grundwasserstrom
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Ebook275 pages3 hours

Grundwasserstrom

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"Was wir äußern in Briefen, Gesprächen, ist nicht mehr als die Spitze des Eisbergs. Unter Wasser zieht, was uns umtreibt."­

In diesem Buch fügen sich kostbare Weisheiten zu einem poetischen Vermächtnis, das Antworten auf Fragen­ des Lebens und der Kunst gibt. Mal eine Zeile lang, mal mehrere Seiten umfassend, dokumentieren sie die geistig-­seelische Vita einer nachdenklichen, klugen, ja weisen Autorin. Kein Buch, das man von vorne bis hinten durchliest, sondern eines, das man immer wieder zur Hand nimmt.
LanguageDeutsch
Publisheredition fünf
Release dateAug 24, 2014
ISBN9783942374620
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    Book preview

    Grundwasserstrom - Erika Burkart

    Zeit

    Tiefes Licht

    In der Schrift wird das aus der Gedankenpuppe befreite Wort selbständig, der Falter setzt sich ab, hebt sich weg. Der Preis der Freiheit ist Ausgesetztheit. Beim Freischälen von Erinnerungen stoße ich in Dunkelkammern auf Negative, die zu entwickeln ich das schriftliche Wort benötige. Im Prozedere der Niederschrift präzisieren sich die Bilder. Falls Vergessen und Verschweigen natürliche, nicht durch Krankheit bewirkte Vorgänge sind, haben Vergessenes und Verschwiegenes ihre eigene Dichte und teil an der Fülle der Existenz.

    Rosebud hieß der Kinderschlitten des Citizen Kane. Auf dem unsrigen stand Davos, ein magisches Wort, das eingelöst wurde. Als ich, 40 Jahre später, den Ort und seine Region kennen lernte, die Davoser Landschaft, war ich nicht enttäuscht. (Die Zauberwörter unserer Kindheit, verbindlich nur für den Gedenkenden, der kraft ihrer persönliche, nur entfernt mitteilbare Erinnerungen abrufen kann. »Du ahnst nicht, was mir das bedeutete.«)

    »Des Menschen Alter, von innen gesehen, ist ewige Jugend.«

    Hugo von Hofmannsthal

    Die Kunst, Oberflächen zu lesen.

    »Wir müssen lernen, unerkannt zu leben.«

    Ernst Halter, Irrlicht

    Die Wolken zogen weiter, die Schatten blieben.

    An den Menschen, der man gewesen ist, wie an einen Toten denken. »Von Klippe zu Klippe geworfen«, nähern wir uns dem Meer.

    Das weiße und das schwarze Segel. In den späten Lebensjahren erscheint das Weiße grau. Schatten vom Andern Ufer fallen darauf.

    Von der Landschaft, die ich liebe, stelle ich kein Foto auf. Lebendiger anwesend ist sie im Bild eines Malers. Eine sogenannte »Kunstkarte« vom Format einer simplen Postkarte enthält einen Sektor Welt, der in der Umsetzung durch den Künstler Teil eines Ganzen wird, oder: ein Kunstwerk von Rang suggeriert das Ganze, davon es ein Teil ist. (Die Landschaft im Moment, da sie einen Aspekt der Schöpfung darstellt.) In seiner Komposition zeigt der Maler Substanz an einer Oberfläche, die als Palimpsest gelesen sein will. Eine Fotografie erreicht selten die Vielschichtigkeit eines Dokuments. Die gemalte, untermalte, übermalte, weg- und umgemalte ist eine die Zeit integrierende, zeitlose, unverwechselbare, weil durch ein bestimmtes Auge wahrgenommene intime Landschaft.

    Der Prozeß des Entstehens kann durchaus ein spontaner sein. Auch ein einmaliger manueller Akt holt Gestaffeltes und Gestuftes in die Oberfläche. (Was sich nur marginal auf die Verfremdungseffekte der malerischen Perspektive bezieht.) Auf eine Bildfläche übertragene innere Dimensionen erweitern und vertiefen diese zum unabsehbaren Feld.

    Der Künstler selbst ist das Palimpsest. – Die immateriellen Werkpläne gewisser Meister. – Summa: Ernst Ludwig Kirchners Bild zeigt nicht die reale Landschaft, sondern Ansichten dessen, was sie ihm bedeutet.

    Schriftliche Monologe als Dialoge mit definitiv Abwesenden.

    Vorzüglich im Gedicht lassen Worte ihr unbeschränktes Umfeld ahnen.

    »Wenn es um eine poetische Komposition geht, muß man die Existenz, ja sogar das Primat dessen in Rechnung stellen, was Wordsworth ›das großartige elementare Prinzip der Freude‹ nannte – und diese Freude rührt von der Versprachlichung bestimmter Dinge her.«

    Seamus Heaney

    »Man sieht sich nicht mehr, trifft sich nicht mehr. Nur ist da eben etwas, was nicht aufhören will und worüber man keine Macht hat.«

    Peter von Matt, Liebesverrat

    Auf dem Brunnenrand der gemauerten, laubüberdachten alten Zisterne finden sich folgende zu einem Stilleben angeordnete Gegenstände: zwei Tannzapfen, ein großes und ein kleines Schneckenhaus, vier leere Nußschalen, zwei Mörtelbrocken.

    Das der Obhut des Betrachters überlassene Sinn-Bild aus objets trouvés hat die anspruchslose Eindringlichkeit eines anonymen Kunstwerks; Gabe eines Kindes. Solange man sie betrachtet, solange der Blick auf ihr ruht, scheint gerettet, wofür wir uns in Unruhe abquälen. Was? Die letzte Insel? Ein Funken der Energie, die die Welt »im Innersten zusammenhält«? Das Signet einer mehr denn je verborgenen Instanz?

    Anschauungsmaterial der Hoffnung. Die vier rahmenden Kiesel plazierte der vierjährige Junge zuletzt: »Die Steine sind die Wächter, sie wachen, daß niemand kaputtmacht oder wegnimmt, was ich dir schenke, mein Schatz.«

    Für Robin

    Gefunden im Gras unter einem Baum der Wilden Hecke ein bis auf ein kleines Hackloch intaktes längliches (»oblonges« hätte mein Vater gesagt), haselnußbraun und meergrün gesprenkeltes Vogelei, evozierend das sehnliche Grün des Meeres, auf welchem, von Botticelli gemalt, die Muschel schwimmt, die Aphrodite an Land trägt.

    Formal erinnert das Ei an den Kopf eines afrikanischen Idols. Ein gefundenes Vogelei ist ein Idol.

    Drösle ich nachts mein Lebensgarn auf, weil ich nicht schlafen kann, oder kann ich nicht schlafen, weil die Überprüfung der einzelnen Fäden und Fasern (Abschnitte, Knoten, Risse) nicht zu umgehen ist, soll der dunkle Rest des Knäuels sich nicht verwirren. – Der Kern, um den das Garn gewunden war, wird erst sichtbar, wenn dieses bis auf ein Netz abgewickelt ist.

    Die Gestirne im April. Nachts hypnotisches Mond-, am Tag irr grelles Sonnenlicht. Die Luft knistert von Wachstums-Energien. Fühlen Knospen die Spannung im wachsenden Zellgewebe? – Stille, sobald das, was sie enthielten, als grüner Schleier ausliegt. Indem er verhüllt, bringt der einem lichtgrünen Nebel ähnliche Flor die Bäume einander näher. – Kahle Bäume sind Solitäre. (Die Einsamkeit des toten Baums, dem keine Blätter mehr sprießen.)

    21. Mai 94

    Von Südwesten schiebt sich eine Warmluftschicht über einen Kaltluftbereich aus Nordwesten. Vier Tage, vier Nächte Dauerregen.

    Die Felder des Muri-Mooses sind lokal überschwemmt. In den im Tageslicht kaum wahrnehmbaren Senken der schwarzen Äcker und grünen Weiden haben sich Regenpfützen und Grundwasserlachen zu Weihern erweitert, erinnernd die Teiche im Torfland von einst. In ihnen spiegelt sich der strichweise leergeregnete Abendhimmel, primelgelb, trübrot, silbergrau, während ich am Fenster stehe, von welchem aus das Kind auf die Moorteiche hinunterschaute.

    Die brennenden Wasser verlöschen zu weißen Augen, die noch lange offenstehn. Von entgegengesetzten Seiten kommend, halten der Nachtgänger und die Abendgängerin im Moor draußen aufeinander zu, berühren sich, gehn Seite an Seite über einen Torfacker (wie der damals federte unter unsern jungen Füßen), entfernen sich über das Wasser.

    Es sind die Schatten, die wir nicht sehen wollten, die uns einholen.

    Der Verschollene. In der Kunst der Selbstverflüchtigung kam ihm niemand gleich. Mich begleitete ein grauer, blauer, grüner Schatten, spürbar als Lufthauch an der linken Schläfe, falls er neben mir ging; trat er hinter mich, fröstelte es mich im Nacken –, lautlos weht es mich an, kein Wortwechsel, Hermes schweigt. Seine Mission ist das Geleit über Wege, die er selbst nicht kennt. Weniger denn je in diesem Jahrhundert der Schmach.

    Hermes. Seine nicht beflügelten Schuhe tippen den Boden an, er rollt die Sohle nicht ab, tritt nicht auf. Ein Zehenspitzengänger, der sachte abhebt und streckenweise in der Luft geht, eine Spanne Leerraum unter sich? Oder schrumpft er ein, bleibt er zurück, ist er voraus? – Plötzlich fehlt auch der Schatten; an seiner Stelle eine Figur aus Glas, ein Profil, durchsichtig auf jede Umgebung, jeden Hintergrund, deren Farben und Strukturen er automatisch annimmt bis zur Unkenntlichkeit, Unsichtbarkeit seiner selbst. Legt sich eine Tarnkappe zu, wer sich in der Kindheit kleinmachen lernte, wer zum Seepferdchen wurde? einem Wesen, das Arme und Beine versteckt im Körper? Bloß keine Tentakel. Fühler sind verletzlich.

    Jäger oder Wild? Seiner Anwesenheit versuchte ich mich zu versichern, indem ich mich nach der Seite wandte, wo er zu gehen pflegte: Niemand, nahezu niemand. Geblieben waren die Augen, Angst war darin, Unruhe, eine schwarze zuckende Ader spaltete die Stirn.

    Wenn ein Wort fällt – Worte fallen, wie Steine die einen, andere wie Samen –, hat es Mühe, nicht verlorenzugehn in der Zone des Schweigens, in die schon das Kind sich zurückzog, mit Schnecken spielend, Kartenhäuser bauend, die sie dir zerstörten, die du zerstören lerntest, Architekt von Türmen aus Wolken und Wind.

    2. Juni 94

    Depressiver abnehmender Drittelmond zwischen 3 und 4 Uhr nachts im bleichen Osten. Globale Stille einer Welt, in der die Menschen nicht schlafen, sondern tot sind.

    Impuls. Von der einen zentralen Erschütterung gehen die Bewegungen aus, die das Ganze erregen. – Oder: ein Stein schlägt in eine Scheibe. Die Risse bilden eine Spinne, einen bizarren Stern, der sich über die Einschlagfläche verzweigt. – Gehen unentrinnbare Lebensmuster auf Einschläge zurück?

    »… ist es nicht bloß ein Wahn unsrer Natur, daß wir dann, wenn vieles Unglück zusammentrifft, uns vorbilden, das Beste sei nah?«

    Goethe, Das Märchen

    Unter dem Schnee. Nie haben wir herausgefunden, woraus die vulkanartige Ausstülpung im Weidehang oberhalb des Wanderweges bestand. Unter hohem, in tiefem Schnee verbarg sich ein Körper, dessen durch die weiche Ummantelung entschärfte Form sich mehrdeutig abhob von den Höcker und Dellen ausgleichenden Schneedecken auf der Kuhtrift. Schnee auf Schnee. Eine verharschte kam unter eine weiche Decke zu liegen, bis auch letztere so hart wurde, daß ein Reh, ohne einzusinken, entfliehen konnte in Sprüngen, die im Kristall der Landschaft noch eine Weile sichtbar blieben als nachschwingende Wellenlinie.

    So hätte er ausgesehen, der Vulkan des Kleinen Prinzen, wäre je Schnee gefallen auf dem Planeten, wo es die Rose zu schützen und die Streusaat des sternsprengenden Giganten auszureuten galt. Keine zum eisigen Todessymbol erstarrte Schneeplastik, sondern ein über alle Maßen vollkommenes, von anfühlsamem Stoff verhülltes Objekt: Erdaufschüttung, Stein- oder Dunghaufen, ein Pneuring (Salzlecke der Kühe), ein Bottich oder ein altertümliches, uns nicht mehr bekanntes Gerät, das im Herbst infolge überraschenden Schneefalls liegengeblieben war? – Verpackungsmagier Schnee.

    Der lavendelblaue Morgenschatten füllte die weiche Gipfelmulde, die durch ihn erst eigentlich in Erscheinung trat und durch den violetten Abendschatten zum Krater vertieft wurde.

    Fern lag der Gedanke, sich durchzugraben, durchzuschaufeln. Einem sakralen Mal in Weiß tritt man nicht nahe. Schon eine Spur darauf zu wäre einer Verletzung gleichgekommen. Heiliges sähe man gerne von einer dem Zutritt entzogenen Zone geschützt.

    Wer durch einen Krieg gegangen ist, sieht anderes unter dem Schnee. Jeder sieht, was er kennt oder zu kennen glaubt. Manche sehen gar nichts.

    »Die Regel schreibt den Bergasketen vor, nichts von dem, was den Zauber dieser Berge ausmacht, anderen zu verraten. Dieser will auch ich mich fügen: ich lege meinen Pinsel nieder und berichte nicht weiter …«

    Bashô

    Gartenparadies. Zeuge sein, wie der anonymgraue Fliegenschnäpper den lichtgelben, heraldisch mit blauen und roten Insignien geschmückten Schwalbenschwanz, den einzigen in diesem Revier, schnappt und zerhackt.

    In die offensichtlichen Muster des Lebensteppichs sind die geheimen so eingewoben, daß sie nur erkennt, wer an ihnen teilhat. – Vorkommnisse, die dem Vergessen nicht anheimfallen, weil sie das Leben im Verlauf mit Reimen und Assonanzen bestätigt.

    Aus einem polit. Essay. »… Wölfe kriechen als Lämmer unter dem Sessel des gestürzten Diktators hervor.«

    Der Abenteurer. Bei einem Abendgang vom Reitwald herkommend, vernahmen wir im Hochmoor auf der Moräne Gepaff und Gebrüll. Offenbar spielte, getarnt vom undurchdringlichen Gebüsch, das sich in der sumpfigen Senke zum Urwald verdichtet hatte, eine Bande von Jungens einen Fernseher-Western. Synchron mit dem Knallen der Kapselrevolver erschallten pausenlos Schreie. Schreck-, Angst- und Todesschreie dämonisierten das stille, sonst nur von Naturstimmen belebte Gehölz. Die Naturschutzzone war zu einem Distrikt roher Gewalt verkommen, und knöcherner starrte das Bleiweiß der toten Birkenstämme im Weidendschungel. Als wir an der Weide vorüber waren, in deren strahlig sich verzweigendes Geäst die untergehende Sonne jeweils ein Loch brennt, gewahrten wir einen Steinwurf von uns entfernt einen halbwüchsigen Jungen. Auch auf Distanz ließ sich ausmachen, wie peinlich es ihm war, Zeugen seines Kampfes mit imaginären Gegnern aufkreuzen zu sehn. Fraglos hatte sich der Bandit / Rächer / Töter / Tote / Held allein, vormärzlich sonntäglich einsam geglaubt in einem Wildgestrüpp in Arizona oder Mexiko. Mit hängenden Schultern trollte er sich nicht in die Büsche, sondern durch gelbes Riedgras ins offene Feld. Die Verlorenheit des Kindes war die kläglichste. Verlegenheit und Scham, zielloses Staken in fahlem Gras. Einmal schaute er zurück, vermutlich um sich zu vergewissern, daß niemand ihm folgte, niemand ihn verfolgte.

    Gerne wäre ich dem traurigen Jungen nachgegangen. Warum, hätte ich ihn gefragt, dieses Einmanngefecht? – Auf wen hatte er gezielt? Wem hatte er aufgelauert – und wer hatte ihn gereizt, verletzt, verwundet, fertiggemacht? Wer hatte wen und warum getötet? – Vermutlich hätte das Kind die Antwort verweigert. – Aus Verstocktheit? – Der Bub wäre die Antwort schuldig geblieben, weil, mit 13, die Worte fehlen, die einen Jugendlichen aus der Mördergrube seiner selbst befreien, in die er, wir wissen nicht wovor, floh.

    »The heart is a lonely hunter.« Das Herz ist ein einsamer Jäger.

    Carson McCullers

    Die zu Quadern gepreßten und verschnürten Strohballen der Gerste stellen im nackten heftigen, flache Felder überschwemmenden Hochsommerabendlicht (die Sonne ein Rad) goldene Koffer dar. Hundert verheißungsvolle Koffer auf goldenem Stoppelfeld. Die können allesamt fliegen.

    Sätze, die keines Kontexts bedürfen, aus sich selbst leuchtende, auch in der Isolation des Zitats selbständige Gebilde. (»Der Wind schien hartnäckig seinen Willen durchsetzen und Ljewin in seinem Lauf hemmen zu wollen; Blätter und Blüten von den Lindenbäumen reißend und in schauriger Weise die weißen Äste der Birken entblößend, bog er alles nach einer Seite hin: die Akazien, die Blumen, die Klettenblätter, das Wiesengras und die Baumwipfel.« Tolstoi, Anna Karenina.)

    Andere Wortgefüge wiederum ergeben erst einen Sinn in Verbindung mit den angrenzenden Sätzen oder Abschnitten. – Und da gibt es den Satz, dessen umfassende, ein Gesamtes sowie Einzelheiten erhellende Bedeutung nur versteht, wer das ganze Buch kennt. Der herausgeschälte Kern-Satz; Formel, Essenz und Illuminator.

    Die Mattscheibe Zauberspiegel aktueller Torheiten.

    Wider besseres Wissen erscheinen einem in der Depression Sätze und Worte auf den Tod bezogen, die, unter anderen Umständen, keinerlei Assoziationen in jener Richtung wecken. Wir fokussiern falsch. Dunkler, sich alles angleichender Sammelpunkt.

    August 94.

    In Windstille jährt sich der Todestag. Die ersten gelben Blätter lösen sich ab, fallen, der Schwerkraft gehorchend. Schwüle Hitze. Mich friert. Im Windbruch, wo sie früher die toten Tiere verscharrten, spiegeln Tollkirschen den weißen glanzlosen Himmel über dem von dürftigen Jungtannen durchsetzten Wasengrund wider. Feuchtigkeit, Schatten; Dünste, doch keine Knochen, kein Geruch mehr außer jenem der Pilze und des moderverbrämenden Mooses.

    »Owê muoter.«

    Inschrift Wolframs in einer Fensterlaibung der Ruine Wildenburg. Odenwald

    Todestag meiner Mutter.

    20. Aug. 1972

    Im Wald. Schmerzlicher Zorn, der einen überkommt beim Anblick von Zerstörungen (Kahlschlag, brutales Niedermachen von alten gesunden [!] Königsbäumen im »Trend« einer einzig auf Gewinn und Nutzen ausgerichteten Forstwirtschaft) organischer Verbände, die für jenen, der mit ihnen lebt, sakralen Charakter haben. Bereits Störungen erwecken Unmut. – Die meisten Waldgänger beobachten, sehen und ahnen wenig. Weshalb ihnen denn auch nichts geschieht. Weder werden sie der eigenen Vergänglichkeit inne angesichts von Jahrhundert-bäumen, noch beunruhigt sie das Glück, von einem Schläfe oder Schulter streifenden Zweig angerührt zu werden, gleichsam von »langer Hand«, wissen wir doch nicht, wessen Gegenwart sich mitteilt durch die Berührung einer vegetabilischen Instanz.

    »… Da werden Sie den Alten (Baum) doch nicht um Ihrer Blumenbeete willen einfach umlegen, sondern Ihre Beete so anordnen, daß sie sich sogar den Baum selbst nach Möglichkeit zunütze machen.«

    Tolstoi, Anna Karenina

    Taunacht. Der Weg unter den Bäumen führt zum offenen Tor. Der Eindruck, draußen erwarteten uns die Sterne, geht in die Kindheit zurück.

    Wer ist das? – Mich hat es stets beeindruckt, einem Menschen nachzublicken, einem Einzelgänger entgegenzusehn, der, ab von der Straße, über Grasland, Ackerland, Sand, Fels oder Schnee geht, kommt, weglos; seine Erscheinung verändert das Gelände, sein Gehen ist sein Weg.

    Die Quelle einer unversieglichen Trauer. Nahrung, die nicht stillt, Wunde, die nicht heilt. Nie hat es aufgehört zu bluten. – Sterben und Tod der Mutter, Abgang und Wegtauchen von Menschen, die man sich nahe glaubte (»wähnte«). Mit Verspätung, meist zu spät, erkennen wir das Wesen zwiegesichtiger Naturen. Wer ist er, der dir stets die helle Seite zukehrt? Nur Engel und Dämonen werfen keinen Schatten. – Die Zeit löst Rätsel, indes das Geheimnis sich mehr und mehr verpuppt.

    Mondlicht. Grünes ergraut, ein Stein, ein Stuhl, Birkenstämme und blaßrosa blühende Büsche abstrahieren sich zu extraterrestrischen Fremdkörpern. Mit perlgrauer Holzasche ist die Straße bestreut und führt anderswohin als bei Tag.

    Tiefe Schatten liegen auf den Stufen, die weiterführen.

    Die Stätten von Sagen wie auch die Plätze persönlicher Lebensmythen unterscheiden sich gründlich von geschichts- und geschichtenlosem Land, sind sie doch magisch aufgeladen bis in ihre Erdbrocken und Steine hinein.

    Die aus diesen von verschiedenen Generationen bedachten, vielleicht gefürchteten, vielleicht verehrten animistisch besetzten Orten hervorgehenden Pflanzen zeigen sich Menschen, die sich zur richtigen Stunde einfinden, in einem andern Licht. Dies betrifft nicht nur sogenannte »Heilige Bäume«, sondern auch Efeu und Nesseln. Beide verwachsen sie mit der Substanz, die sie zudecken. Ihr dunkles Grün scheint für Prozesse nicht nur organischer Art zu zeugen. Eine Täuschung, gewiß, aus poetischem Bezug. Bald sehen wir zu viel, bald zu wenig.

    An P. M.

    Der mit dem aufrechten Gang

    bricht auf

    geht vorwärts

    geht zu weit

    fällt

    erhebt sich

    geht im Kreis

    bleibt stehn

    sieht um sich

    sieht sich um

    setzt sich

    sitzt

    legt sich nieder

    liegt darnieder

    bleibt liegen

    steht nicht mehr auf

    einige sagen

    er steht wieder auf

    aufersteht

    geht

    geht fort

    geht allein

    weiß keiner wohin

    »Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen …«

    Apostelwort

    »Der Zug überquerte gegen Ende des zweiten Tages die Beresina – die Sonne sank granatrot in verwunschener Langsamkeit schräg zwischen den Ästen hindurch und tauchte die Gewässer, die Wälder und weiten Ebenen, noch immer von Waffen- und Fahrzeugtrümmern übersät, in ein blutrotes Licht.«

    Primo Levi, Die Atempause,

    ein Buch über die Würde des Menschen im äußersten Elend

    Die Begebenheiten (»es begab sich …« lesen wir im Märchen) im Leben, die eines Tages »schon bald nicht mehr wahr sind«; die andern, die immer wahrer werden. Jahrzehnte nach seiner Rückkehr aus Auschwitz starb Primo Levi 1987 durch Freitod in Turin.

    Leid höhlt Stollen bis ins Urleid, geboren zu sein, bis in die Urangst, sterben zu müssen. Unser Teil, Partikel einer Staubwolke und zugleich einsame Gestalt zu sein.

    In der inhumanen menschlichen Welt ist der Kosmos der Kunst die Gegenwelt.

    »Unaufrichtig nenne ich Dinge, die gemacht werden, um Aufsehen zu erregen, und auch diejenigen – beachten Sie das wohl, es ist wichtig –, die nicht eine fundamentale metaphysische Idee enthalten, das heißt, durch die nicht, wenn auch nur wie ein Windhauch, eine Ahnung von Ernst und Geheimnis des Lebens hindurchgeht.«

    Fernando Pessoa, aus einem Brief

    »… Als Sá-Carneiro in Paris eine große geistige Krise durchmachte, die ihn zum Selbstmord führen sollte, habe ich die Krise hier gespürt, ist über mich eine plötzliche, von außen kommende Depression hereingebrochen, die ich in jenem Augenblick mir nicht zu erklären vermochte.«

    Fernando Pessoa, aus einem Brief

    Irritation. Obwohl er sich in einem Gespräch befand, hatte der Unbekannte, der einem Freund aus einer vergangenen Lebensepoche bestürzend ähnlich sah, mich gegrüßt. Der Gruß des Fremden, auswärts in einem nicht heimischen Haus, irritierte mich so sehr, daß ich ihn weder mit Nicken noch mit Lächeln beantwortete. Im Moment der Begegnung von Auge zu Auge hatte ich den jungen Mann in einer blitzkurzen Fahndung nach Bildern identifiziert mit dem Andern, der er nicht war.

    Es vergingen einige Tage, bis das Gesicht des Zwillings in mir verblaßte, verging in der Art, wie in Science-fiction-Filmen die Figuren verschwinden: einmal Teil- um Teilstück sich entziehend, ein andermal erlöschend wie eine Wolke, aus der die Sonne weicht; zurück bleibt der Leichnam einer Wolke, ein toter Fisch.

    Der verwirrende Vergleich zwischen den Mienen

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