Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Veganismus: Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?
Veganismus: Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?
Veganismus: Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?
Ebook566 pages11 hours

Veganismus: Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Vorwort: Ein Anarchismus mit Zukunft?


Als ich vor vielen, vielen Jahren den Anarchismus studierte, war für mich
seine anthropozentrische Orientierung - nicht nur wegen der weit verbreiteten
Unfreiheit unter den Menschen -selbstverständlich. Bernd-Udo Rinas gibt diese Fixierung jetzt gut begründet auf und bezieht die Tiere in das von den Menschen aufgespannte Solidaritätsnetz ein - alle Tiere, weil sie, wie die Menschen, Schmerzen erleiden könnten. Eine anarchistische Konzeption, die am Anthropozentrismus festhält, könne keine
neuen Antworten geben. Bernd-Udo Rinas will aber einen Anarchismus mit Zukunft.
Drei Anmerkungen: Die Einbeziehung der Tiere in das Solidaritätsbündnis beinhaltet die Gefahr - die auch Bernd-Udo Rinas gesehen hat - dass die Menschen, insbesondere die Kinder, mehr für eine Zuneigung zu lieben Tierchen als zu armen und hinfälligen Menschen, vom Einsatz zur Beseitigung von Unfreiheit ganz zu schweigen, sensibilisiert werden. Eine zweite Anmerkung, die er nicht problematisiert hat: Können Tiere, alle Tiere, auch aktiv gegenüber den Menschen Solidarität zeigen oder bleibt dies ein einseitig Ding?

Und drittens: Einige Probleme, die ich bei der Einbeziehung auch der einfachsten tierischen Lebewesen in die Fragestellung habe, lasse ich außen vor.
Eine vegan-anarchistische Konzeption und Bewegung in der Postmoderne bleibt im Kern ein Anarchismus, weil das politische Konzept der
Herrschaftslosigkeit nicht aufgegeben wird, im Gegenteil, es wird ausgeweitet: Eine herrschaftsfreie Gesellschaft setze voraus, dass auch keine Herrschaft der Menschen über die Tiere akzeptiert werden kann.
Das Buch von Bernd-Udo Rinas können also "alte" Anarchisten mit Befriedigung lesen, auch weil sie auf eine breite Verarbeitung der anarchistischen Tradition stoßen.

Wenn der Autor einen Zusammenhang zwischen Anarchismus, Postmoderne und Veganismus konstruiert, so will er das traditionelle Anarchismus- Konzept notwendigerweise revidieren. Damit könne der Anarchismus
der Gefahr entrinnen, ein historisches Produkt zu bleiben. Oder anders ausgedrückt: Der Veganismus ist kein Post-Anarchismus, sondern
soll eine Perspektive des Anarchismus sein.
Die Lektüre des Buches kann auch für Veganer eine Bereicherung ein.
Ob sie schon gewusst haben, dass sie Anarchisten sind, dass der Veganismus
eine Perspektive für den Anarchismus ist?
Und warum nicht auch die Pflanzen in ein umfassendes Konzept der Herrschaftslosigkeit einbeziehen? - Ich sehe natürlich die Gefahr, dass Menschen dann (ver)hungern würden, denn irgendetwas müssen sie essen. Diese Gefahr wäre aber bei weltweitem konsequenten Veganismus auch nicht von der Hand zu weisen.
Dies führt zum groben Einschub der Frage, ob die Natur auf dieser Erde sich nicht zum gegenseitigen Fressen der Lebewesen entwickelt hat?

... Halt, da tu ich den Pflanzen Unrecht. - Der Spargel schmeckt mir, dem Menschen, aber trotzdem. Warum nicht wenigstens ein bisschen Holismus? Leben der Lindenbaum oder der Rosenstock nicht? Ist es diesen Pflanzen gleichgültig, wenn ich Äste absäge oder Zweige breche? Soll auch heißen: Wissen wir sicher,
dass sie dabei keine "Schmerzen" erleiden? - wobei der überkommene Schmerzbegriff überdacht werden sollte.

Sollte ich nicht die Konsequenz ziehen, der Liebsten den lebenden Rosenstock statt der gebrochenen, bald welkenden, also sterbenden, Rose zu schenken?

Prof. Dr. Franz Neumann
LanguageDeutsch
PublisherHirnkost
Release dateJan 1, 2012
ISBN9783943612356
Veganismus: Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?

Related to Veganismus

Related ebooks

Vegetarian/Vegan For You

View More

Related articles

Reviews for Veganismus

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Veganismus - Bernd-Udo Rinas

    zuzuweisen.

    I. GESAMTGESELLSCHAFTLICHE SITUATION

    1. DER JUGENDSOZIOLOGISCHE KONTEXT

    „Definiert man Soziologie als Wissenschaft von den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Handeln zwischen Menschen in diesen Verhältnissen, dann befasst sie sich mit dem Phänomen Jugend insofern, als sie in diesen Verhältnissen vorkommt und handelt und in beiderlei Hinsicht eine Funktion erfüllt." (Sander 2000: 76)

    In diesem Sinne befasst sich mit der Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir und damit auch Veganer_innen leben. Sie sind als solche Bestandteil dieser Gesellschaft und somit auch handelnde Akteur_innen im Rahmen der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und werden in dieser Arbeit als „Untersuchungsgegenstand" herangezogen. Sie sind aber nicht nur deshalb interessant, weil sie Anarchist_innen und/oder Veganer_innen sind, sondern weil sie durch ihre spezifische Art der Kommunikation, ihre speziellen Handlungsformen und ihre eigenen soziokulturellen Ausprägungen die Gesellschaft und den jeweiligen Veränderungsprozess punktuell beeinflussen. Sie gestalten durch ihre spezifischen Praktiken und Äußerungen einen Diskurs, der sich zu anderen, herrschenden Diskursen als gegensätzlich erweist. Etwas wissenschaftlicher formuliert:

    „Fasst man Diskurs als Fluss von Wissen durch die Zeit, der sich eindämmen, stauen, umleiten lässt wie jeder andere Fluss oder Bach auch, dann begreift man von Beginn an, dass die Diskurse eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft haben. … dass zum Verständnis gegenwärtiger Diskurse die Kenntnis vergangener gehört …" (Jäger 1994: 5)

    Für Foucault haben Diskurse „als solche" Macht, können sich verselbständigt auf die Wanderschaft begeben und unabhängig von den einzelnen Subjekten sehr machtvoll werden. Mein Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ist demnach auch beeinflusst durch den Bezug auf den historischen Anarchismus, also die Vergangenheit.

    Insgesamt gesehen interessieren mich im Wesentlichen die Veränderungen in den letzten drei Jahrzehnten, die diese Gesellschaft erfahren hat und mit denen wir es auch heute noch zu tun haben. Ich beziehe mich deshalb auf die letzten drei Jahrzehnte, weil sich die sog. 68’er-Generation trotz Horkheimer und Adorno nie ernsthaft mit Tierrechten befasst hat und erst mit der 78’er-Generation (Rinas 1995), also der Nachfolgegeneration der 68’er, das Thema der Tierrechte Einzug in die politische Diskussion gefunden hat.

    Dabei scheint es so zu sein, als ob Veganer_innen in ihrer inhaltlichen und theoretischen Radikalität von den gesellschaftlichen Veränderungen profitiert haben. Eine Gesellschaft, die sich in vielen Bereichen im Umbruch befindet, bietet genügend Freiraum und Andockstationen für bisher Undenkbares und für bisher Uniebbares. So ist der Veganismus Bestandteil dieser „Gesellschaft im Umbruch" und als solcher besitzt er auch erst einmal eine ihm manchmal zugewiesene und natürlich auch angenommene Funktion in der postmodernen Gesellschaft.

    Der Blick auf die gesamtgesellschaftliche Situation wird von mir bewusst durch den Filter „Jugend" eingeengt, da die vegane Bewegung im wissenschaftlichen Diskurs als jugendrelevante Szene und eigenständige Jugendkultur bezeichnet und diese Jugendkultur als eigenständiges Lebensstilkonzept (Breyvogel 2005: 73) anerkannt wird.

    „Eine jugendkulturelle Verortung des Veganismus ist mit Blick auf Szenen wie Hardcore/Metalcore, aber auch andere, geradezu evident …" (Breyvogel 2005: 155)

    Auch dies wird in dieser Arbeit noch näher erläutert. Innerhalb der Jugendforschung wird auf jeden Fall verstärkt auf die Notwendigkeit einer Gesellschaftsanalyse hingewiesen:

    „Jugendsoziologie ist immer eingebettet in eine Theorie der Gesellschaft. In der Jugendsoziologie dürften explizite und implizite Vorstellungen über eine wahre Gesellschaft besonderes Gewicht haben, da sie sich auf die Generation richtet, die all das realisieren könnte, was bis dato nicht realisiert worden ist." (Sander 2000: 77)

    Dieses Zitat beschreibt nicht etwa den theoretischen Anspruch, sondern den Anspruch an die Theorie, eine Zeitdiagnose mit einem politischen Praxiskonzept zueinander in ein Verhältnis zu bringen. Es wurde schon erwähnt, dass in postmodernen Zeiten Pluralisierung und Differenz als Möglichkeit und Chance zu sehen sind und deshalb der Blick nicht nur eindimensional auf die gesellschaftliche Ebene gerichtet sein kann, sondern mit der Mikroebene der handelnden Akteur_innen verknüpft werden muss. In den neuesten jugendsoziologischen Studien wird dies deutlich:

    „Das Verhältnis von Jugend und Gesellschaft ist einem permanenten Wandel unterworfen und muss nach verschiedenen Gesellschaftsbereichen ausdifferenziert werden." (Bingel/Nordmann/Münchmeier 2008: 9)

    Trotz (oder gerade wegen) dieser Erkenntnis scheint es die Jugendforschung mit einem nicht einfachen Problem zu tun zu haben. Auf der einen Seite gibt es eine Fülle von Jugendstudien und Veröffentlichungen über „die Jugend", mit der

    „man erschlagen werden kann. Wir haben nie mehr Veröffentlichungen über Jugend gehabt, als wir sie momentan haben." (Hübner-Funk 2003: 14),

    auf der anderen Seite

    „ist die Grundstimmung von Ratlosigkeit, Verwirrtheit und Resignation haften geblieben – vor allem das Gefühl des ‚Schwindens‘ von klaren Begriffen, wichtigen Fragen und handlungsleitenden Normen, sei es im forschungspolitischen, praktischen oder politischen Feld." (ebd.: 13)

    In einer der aktuellsten Veröffentlichungen zum Thema „Strukturbedingungen jugendlicher Lebenslagen" bestimmt Claus Tully die Situation der Jugend kurz und knapp:

    „Die Aufforderung, sich in einer modernen hochkommunikativen und mobilen Gesellschaft zu verorten, wird von den Jugendlichen direkt beantwortet – Unterwegssein gehört zum Aufwachsen." (Tully in: Bingel/Nordmann/Münchmeier 2008: 171)

    Zu der Ratlosigkeit, Verwirrtheit und Resignation einiger Wissenschaftler und dem Problem des „Schwindens von klaren Begriffen (s. o.) kommt nun das „Unterwegssein der Jugend hinzu. Dies bedeutet, dass sich Jugendliche nicht mehr auf einen Schonraum berufen können, in dem sie über Jahre von den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen verschont bleiben. Jugendliche müssen sich rechtzeitig und permanent auf den Weg machen, der in keiner Weise wirklich planbar und absehbar ist.

    Die Erscheinungsformen einer postmodernen Gesellschaft sind demnach übertragbar auf die Lebensform/den Lebensstil der Jugend, zu der Unterwegssein dazugehört und zu dem auch dazugehört, sich einer genauen Verortung zu entziehen.

    Stellt die Zeitdiagnose relevante Veränderungen fest, muss dies auch in den unterschiedlichsten Konzeptentwicklungen und Politikansätzen wiederzufinden sein. Und so soll in diesem ersten Kapitel nicht nur deutlich werden, wie stark sich die Gesellschaft verändert hat, sondern auch, dass dieser allgemeine gesellschaftliche Veränderungsprozess etwas mit der jungen Generation der Veganer_innen zu tun hat, die den Veränderungsprozess durch ihr Lebensstilkonzept verstärken. Aufgenommen ist damit auch die Aussage von Thomas Schwarz, dass der Veganismus „nicht als eine ‚Ernährungslehre‘ (unter vielen) verstanden werden … (Thomas Schwarz in: Breyvogel 2005, S. 157) muss, sondern als ein Lebensstilkonzept mit polarisierendem Potenzial, mit dem „gravierend in unsere traditionellen Gewohnheiten … eingegriffen wird und damit alle gesellschaftlichen Bereiche und Entwicklungen tangiert.

    Klaus Hurrelmann (2007) analysiert „die Jugend" unter dem Gesichtspunkt, dass sich in den letzten 50 Jahren die Lebensphase Jugend stark ausgedehnt hat und zu einer der wichtigsten Phasen im Leben eines Menschen geworden ist. Dabei stellt er fest:

    „Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung befinden sich über die gesamte Lebensspanne hinweg in wechselseitiger Abhängigkeit, aber in der Jugendphase erreicht dieses Beziehungsverhältnis eine einzigartige Dichte. Viele Merkmale und Probleme der Jugendphase spiegeln Erscheinungen wider, die typisch für künftige Entwicklungen der gesamten Gesellschaft und für alle Altersgruppen sind." (Hurrelmann 2007: 7)

    So ist es nicht verwunderlich, wenn Hurrelmann die These vertritt, dass Jugendliche als Vorreiter einer modernen Lebensführung anzusehen sind,

    „die auf ökologischen, kulturellen und ökologischen Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft jeweils eine spontane und intuitive Antwort geben." (a. a. O.: 8)

    Für diese Arbeit bedeutet dies ganz konkret, die Mikroebene der Veganer_innen zu betrachten. Sie haben, wie ich noch zeigen werde, innerhalb der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse eine besondere Funktion übernommen. Dabei wollen sie den gesellschaftlichen Wandel durch ihren veganen Lebensstil mitgestalten und dynamisieren ihn durch die Auseinandersetzung um eine nicht-anthropozentrische Ethik, eine ökologisch ausgerichtete Lebensweise und um die Weiterentwicklung einer politischen Theorie – des Triple-Oppression-Ansatzes.

    Dabei greifen Jugendliche die Möglichkeiten auf, die sich in der Postmoderne ergeben haben und die Hurrelmann als besondere „Chancenstruktur" bezeichnet. Für Jugendliche sieht er u. a. im Freizeit- und Konsumbereich, im Bereich der unmittelbaren sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen, im Bereich des politischen Handelns und im religiösen Handeln und Denken einen relativ großen Spielraum für selbstbestimmtes Agieren.

    In einer Studie im Auftrag der Evangelischen Kirche im Rheinland, „Egotaktiker-Neue-Spießer-Generation-Nett: Kinder und Jugendliche im Licht neuerer Jugendstudien" (Sparschuh 2003), wird über die Situation der Kinder und Jugendlichen folgende Verortung vorgenommen:

    „Die heutigen Jugendlichen sind die erste voll ‚postmodern‘ aufgewachsene Generation, für die uns die so genannten ‚pluralisierten Lebenslagen‘ immer auch als große Chance offeriert wurden für jeden Einzelnen, seinen individuellen Weg zu finden (wenn er es denn schafft, die Orientierung angesichts der vielen Möglichkeiten nicht zu verlieren)." (Sparschuh 2003: 8)

    Dies gilt dann ebenso für Jugendliche aus der veganen Bewegung, die es geschafft haben, ihren individuellen Weg zu finden, indem sie in einer postmodernen Welt einen eigenen Lebensansatz gefunden haben. Lebenslage verstehe ich als einen erweiterten Begriff im Zusammenhang einer kontroversen Diskussion um die Bedeutung des Begriffes der „sozialen Schicht", mit der Konsequenz, dass damit im 20./21. Jahrhundert zu den klassischen Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Kirche und Beruf einige neue hinzugekommen sind: Kindergarten, Jugendgruppen, Cliquen und insbesondere die neuen Technologien mit Fernsehen, Internet, Handy, SMS und MMS. Das früher eher Private der Sozialisation hat sich zunehmend in die Öffentlichkeit verschoben. Das Lebensumfeld, der Lebensalltag ist vielfältiger, aber auch widersprüchlicher geworden und damit entwickeln sich komplexere Anforderungen an den Einzelnen und besonders an die angebliche Ur-Sozialisationsinstanz Familie.

    Die so genannte Statuspassage, also der Übergang zum Erwachsen-Werden, wird im 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (Bonn 2002) mit der Eigenständigkeit als Konsument definiert und gekennzeichnet. Wer ein eigenständiges Einkommen besitzt und darüber selbständig als Konsument verfügen kann, ist demnach erwachsen. Diese Definition scheint bewusst ungenau gehalten zu sein, denn die langen Ausbildungswege, der verspätete Übergang ins Berufsleben, hält Jugendliche nicht davon ab, erwachsen zu werden (und umgekehrt). Der Lebensalltag ist gekennzeichnet von einem insgesamt liberalen Klima, bei dem die Grenzen offen, aushandelbar und damit natürlich auch mit Unsicherheiten verbunden sind. Nicht zuletzt schreibt Ute Sparschuh (2003) über das „Postideologische Jahrzehnt", in dem gesellschaftliche Utopien zumindest aus dem Alltag verschwunden zu sein scheinen, obwohl die Problemlagen deutlich zugenommen haben. Globalisierung, Ressourcenschwund, ökonomische Instabilität, Erwerbslosigkeit und die Grenzen des so genannten Wohlfahrtsstaates schreien geradezu nach neuen, utopischen Alternativen. Rolf Schwendter formuliert dies etwas deutlicher, wenn er über die Utopie schreibt:

    „Alles scheint unterschiedslos pulverisiert zu werden, was mit den hegemonialen Interessen nicht im elektronifizierten Gleichschritt marschiert und der Verwertbarkeit der neuen Djangos kostengünstig ausgesetzt werden kann: Jeder für sich und der Weltmarkt gegen alle." (Schwendter 1994: 105)

    Schwendter sieht nur zwei Möglichkeiten, sich eben nicht pulverisieren zu lassen und sich gegen den Selbstlauf des Weltmarktes zu wehren. Eine Möglichkeit ist, sich bis zur Unkenntlichkeit den dirigierenden Konzernen anzupassen und dies dann mit kompensierendem Konsum zu demonstrieren

    „und dem Ganzen einen postmodernen Überbau überzubraten, und wer dabei Pech hat, die Reihe der weltweiten Armutsbevölkerung zu verstärken, den beißen halt die Hunde." (ebd.)

    Die andere Möglichkeit ist, schlicht und einfach an der Wiederauferstehung einer in die Zukunft tragenden neuen Utopie zu arbeiten. Diese in die Zukunft tragende Utopie versuchen Veganer schon heute zu leben, und damit handeln sie genau nach dem, was Schwendter in seiner zweiten Möglichkeit andeutet.

    Auch aus diesem Grund tritt die vegane Bewegung besonders in den Mittelpunkt dieser Arbeit, da sie als Bewegung in postmoderner Zeit eine eigenständige Bewältigung der hier nur kurz angedeuteten veränderten Lebenslagen vermuten lässt und ein Hoffnungsschimmer auch für R. Schwendter sein könnte. Mit der veganen Bewegung verbindet sich der konkrete und sofort umsetzbare Versuch einer veränderten (auch politischen) Lebenspraxis. Die Welt, in der die Veganer_innen leben, muss verstanden und diagnostisch erfasst werden, damit die vegane Lebenspraxis zumindest nachvollziehbar wird. Dabei ist schnell festzustellen, dass eine Diagnose der Gegenwartsgesellschaft weder einfach noch eindeutig sein kann. Demnach kann auch die Diagnose des Veganismus nicht einfach oder eindeutig sein. Auf jeden Fall werden sehr unterschiedliche Erklärungsversuche für die von allen als kompliziert empfundene Lebensrealität herangezogen. Die jenseits aller Klassen-, Schichten- und Milieutheorien völlig unterschiedlichen Lebensentwürfe, Wert- und Moralvorstellungen stehen deshalb in besonderem Fokus der (Sozial-)Wissenschaften und sollen erklär- und deutbar gemacht werden.

    Die in dieser Arbeit untersuchte Gruppe der Veganer_innen stellt dabei nur eine der Teilgruppen aller veganen Gruppen dar. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf den sich anarchistisch verstehenden Veganer_innen.

    Dieser Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass in Zeiten der Postmoderne viele Deutungsmuster ihre Relevanz verloren haben und neue Erklärungsansätze oder Deutungsmuster nicht sofort erkennbar sind. An dieser Stelle und in diesem Sinne habe ich mich der Aufforderung von Zygmund Bauman angeschlossen und beschreibe die Gegenwartsgesellschaft aus meiner Arbeitsperspektive. In diesem Fall ist es die Darstellung der Gegenwartsgesellschaft, wie sie sich für Jugendliche darstellt. Die Grundfragen, die in den nächsten Kapiteln beantwortet werden sollen, lauten:

    Welche Gegenwartsgesellschaft finden jugendliche Veganer vor?

    Wie sieht das soziale und gesellschaftliche Umfeld aus?

    Dabei erhalten diejenigen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen eine Beachtung, die im Rahmen dieser Arbeit auch für die Veganer von Bedeutung sind.

    2. VEREINTES DEUTSCHLAND – GETEILTE JUGEND

    Für Menschen in den neuen Bundesländern hat sich nach dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland sehr vieles verändert. Gab es zu DDR-Zeiten generelle Versorgungsschwierigkeiten, so stand den Menschen nach der Wende scheinbar alles zur Verfügung. Für die Elterngeneration bestand in dem Beitritt zur Bundesrepublik der Fortschritt unter anderem in genau dieser scheinbaren Unendlichkeit neuer Möglichkeiten, auch und gerade was die Lebensmittelversorgung anging. Für Jugendliche hingegen trat eine noch bedeutendere Ausweitung hinzu. Nicht nur die vielfältigeren Konsummöglichkeiten standen zur Verfügung, sondern auch eine neuartige „Reduktion in der Vielfältigkeit, indem sie nun in der Ernährungsfrage auch eine gesellschaftspolitische Handlungsmöglichkeit sahen. Den scheinbar unendlichen Variationen des Fleischkonsums konnte eine vegetarische Lebensweise entgegengesetzt werden, und damit wurde, neben der Absicherung der Ernährungsvielfalt, auch ein neuer Zugang zu bisher nicht gekannten Lebensformen ermöglicht. Doch auch 20 Jahre nach der „Wiedervereinigung sind die Lebensverhältnisse zwischen den neuen und alten Bundesländern noch immer sehr unterschiedlich. Auf jugendliche Lebenswelten bezogen potenzieren sich die Konsequenzen der unterschiedlichen Verhältnisse und müssen deshalb besondere Beachtung erhalten.

    „So wird die Integration der ostdeutschen Jugend in die neue Bundesrepublik nach wie vor erschwert durch sozial relevante Phänomene im deutsch-deutschen Transformationsprozess und die Nachhaltigkeit intra- wie intergenerationeller Erfahrungszusammenhänge." (Andersen/Bock/Otto 2004: 227)

    Jugendliche aus den neuen Bundesländern haben neben den Problemen der allgemeinen Veränderungsdynamik auch noch vereinigungsbedingte Probleme zu bewältigen, die z. B. in der deutlichen Verurteilung eines diktatorischen SED-Regimes einerseits und der nicht abnehmenden positiven Erinnerungskultur (Ostalgie) von angeblichen „DDR-Schätzen" anderseits liegen. Jugendliche, die auf Grund ihres Alters die ehemalige DDR nicht erlebt haben können, sprechen jedoch über diese Zeit in durchaus positiven und mit eindeutig tradierten Bewertungen. So wird in der Sozialarbeit mit Jugendlichen deutlich, dass innerhalb der (ehemaligen DDR-)Familien kaum Auseinandersetzungen über die verschiedenen Gesellschaftssysteme geführt, sondern lediglich punktuelle Meinungen weitergegeben werden. Daneben sehen Jugendliche in den ostdeutschen Bundesländern ihre Eltern und auch sich selbst immer mehr als Verlierer_innen der Wiedervereinigung und werden mit der Verarbeitung und der, ihrer Meinung nach, Ungleichheit der Lebensverhältnisse sowie der sich daraus ergebenden Chancenlosigkeit alleine gelassen (siehe auch: neue praxis 3/2004).

    Im Zeitalter eines nun benennbaren Turbokapitalismus ist zu befürchten, dass in den neuen Bundesländern eine bisher nicht bekannte Form von Verlierer- und Gewinnergeneration produziert wird. Gewinner sind in diesem Fall all die, die nicht unbedingt zwei oder mehr Jobs benötigen, um überleben zu können. Es sind auch diejenigen, die einen ausreichend bezahlten Arbeitsplatz in ihrem Heimatort erhalten haben, und diejenigen, die aus dem Speckgürtel Berlins oder den „Entwicklungskernen" stammen. Hinzu kommen Familien, die aus dem Westen zugezogen sind und feste Arbeitsverhältnisse besitzen und nicht durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen laufen müssen, um sich ein angemessenes Leben leisten zu können.

    Innerhalb dieser Arbeit bleibt leider nur für den Hinweis Platz, dass unter gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen Jugendliche in den ostdeutschen Bundesländern besonderen Belastungen unterliegen, und es hat

    „in der nunmehr 15-jährigen Geschichte der ‚neuen Bundesrepublik‘ bereits zu gravierenden jugend- und sozialpolitischen Fehlschlüssen geführt." (ebd.)

    Einer dieser gravierenden Fehlschlüsse ist die Prognose der schnellen Angleichung der Lebensverhältnisse gewesen. Die ehemaligen DDR-Bürger haben sich im Wesentlichen auf das Beste der Welt („DM-Demokratie) mehr oder weniger eingelassen, „gleichzeitig wirken sowohl der Umbruch als auch der Transformationsprozess nach. (neue praxis 3/2003: 233) Erstaunlich ist die in den Lebensalltagen festzustellende Beobachtung, dass sich gerade die nachwachsende Generation mit „Null-DDR-Erfahrung" (also ab Jahrgang 1990) in eine Auseinandersetzung über Grenzen und Möglichkeiten aus dem Vereinigungsprozess begibt. Deshalb müsste heute mehr denn je auf die Nachhaltigkeit des Transformationsprozesses geachtet werden und die Langzeitfolgen eines Systemwechsels für ostdeutsche Jugendliche auf die Agenda gesetzt

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1