Geschwindigkeit
By Saint-Pol-Roux and Aurel Schmidt
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Geschwindigkeit - Saint-Pol-Roux
Geschwindigkeit
Saint-Pol-Roux
Geschwindigkeit
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Joachim Schultz
Mit einem Nachwort von Aurel Schmidt
Inhalt
Vorbemerkung
Zeit für Saint-Pol-Roux
Zeit ist Veränderung
Vom Meldeläufer zum elektronischen Medium
Das Leben als Wettlauf
Mit der Eisenbahn begann die Beschleunigung
Mehr Zeit, weniger Raum
Leben und Werk eines Visionärs: Saint-Pol-Roux
Aufbruch und Ankunft im selben Augenblick
Literatur
Anmerkungen zur Vorbemerkung
Anmerkungen zum Haupttext
Vorbemerkung
Das Werk des französischen Dichters Saint-Pol-Roux (1861–1940) besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil, der bis zum Ersten Weltkrieg entstand, ist ganz dem Symbolismus verschrieben, in einer speziellen Form, die Saint-Pol-Roux als Ideorealismus bezeichnet hat. Der Dichter hat für ihn die Aufgabe, die den Dingen innewohnenden Ideen heraufzubeschwören. Im zweiten Teil wendet sich Saint-Pol-Roux modernen Themen zu, wie etwa dem Film¹ und der Geschwindigkeit. Für den ersten Teil muss vor allem ein Hauptwerk genannt werden, die dreibändige Ausgabe seiner Prosagedichte Les reposoirs de la procession (Die Stationen der Prozession²). Der dritte Band erschien 1907 und wird mit dem Text »Le poète au vitrail« - Der Dichter am (Kirchen)Fenster - eröffnet. Die meisten Texte sind datiert, dieser auf das Jahr 1895. Er ist F. T. Marinetti gewidmet, der aber zu diesem Zeitpunkt von seinem Futurismus noch weit entfernt ist. Er lebte damals hauptsächlich in Frankreich und betätigte sich unter anderem als Rezitator von eigenen und anderen Gedichten (von Baudelaire, Verlaine u. a.).
So geht es auch in dem Marinetti gewidmeten Text nicht um Geschwindigkeit. Es geht um eine Flucht aus einer Art Elfenbeinturm in die Freiheit. Die Befreiung vom Symbolismus? So weit wird man nicht gehen dürfen. Es ist auch nicht bekannt, ob sich Saint-Pol-Roux und Marinetti persönlich begegnet sind. Doch man darf wohl annehmen, dass Saint-Pol-Roux Marinettis Werdegang aufmerksam verfolgt und seine futuristischen Manifeste gelesen hat. Und vielleicht war das Gründungsmanifest (1909), in dem es heißt, ein ›Rennautomobil sei schöner als die Nike von Samothrake‹³, für Saint-Pol-Roux der Anstoß, sich mit der Geschwindigkeit zu beschäftigen. Doch hier beginnen die Schwierigkeiten. Es lässt sich nämlich nicht erschließen, wann Saint-Pol-Roux mit diesen Aufzeichnungen begonnen hat. Schon 1909 oder erst in den 1930er Jahren? Gérard Macé beschreibt im Vorwort zur französischen Erstausgabe⁴ die Manuskriptlage: Es sind nur fliegende Blätter erhalten. Für das Buch, das Saint-Pol-Roux schreiben wollte, gibt es nur vage Planskizzen, die letztlich keinen Aussagewert haben. Meine Übersetzung kann nur dieser Erstausgabe folgen, die Macé nach folgenden Themen geordnet hat: Die mechanische Geschwindigkeit, die Reise, Gott, die Einbildungskraft, die Maschine, die Liebe, die Geschichte, die Moral, Raum und Zeit, der Sport und der Tanz, die Wissenschaft, das Meisterwerk. So schreibt er jedenfalls in seinem Vorwort (S. 12), doch offensichtlich hat er diese Ordnung nicht stringent durchgehalten. Für die deutsche Ausgabe ist das nur ein kleines Problem. Wichtiger ist, dass Saint-Pol-Roux in seinen Notizen weit über das eigentliche Thema Geschwindigkeit hinausgegangen ist. Wenn er das Buch vollendet hätte, hätten wir vielleicht seine Auffassung von der modernen Welt. Die von Macé genannten Themen spielen darin eine wichtige Rolle, aber auch andere Themen kommen hinzu: von der Ästhetik bis zur Rechtswissenschaft.
Es dürfte klar sein, dass diese oft zusammenhangslos angeordneten Notizen nicht leicht zu übersetzen sind. Saint-Pol-Roux hat einige Überlegungen nicht zu Ende gedacht, die somit dunkel oder schwer verständlich geblieben sind. Er liebte entlegene Wörter und Wörter aus den oben genannten Wissensgebieten. In der Übersetzung sind diese sperrigen und dunklen Passagen bewusst stehen geblieben, nicht zuletzt um die Poetizität des gesamten Textes zu erhalten.*
Joachim Schultz
* Ich danke Ute Eckelkamp⁵, mit der ich diese und andere Passagen durchgegangen bin. Ich danke auch Chantal Strasser, mit der ich Anfang der 1980er Jahre Saint-Pol-Roux’ Reisebericht La Randonnée⁶ übersetzt habe. Einige Gedanken zur Geschwindigkeit hat Saint-Pol-Roux in diesen Bericht übernommen. Die damals formulierte Übersetzung dieser Gedanken habe ich größtenteils beibehalten. Die endgültige Übersetzung habe ich natürlich alleine zu verantworten.
Reisen haben mich nie interessiert. Auf dem Kai von Camaret* höre ich das Gerede der alten Matrosen: »Damals, als ich in China war … Damals in Madagaskar …« Und mit ihren Gesten formen sie märchenhafte ferne Landstriche.
Ich aber reise von meiner Düne viel weiter, in eine Welt, die von einer Schläfe zur anderen reicht. Aber ich traue mich nicht, ihnen zu sagen, dass ich von einem neuen Stern komme, so groß ist meine Angst, dass sie mich, von Backbord nach Steuerbord oder von Steuerbord nach Backbord schlingernd, Tabak kauend, in irgendeine Anstalt in Quimper einweisen.
Der 7 CV: Leben in der Brieftasche.
Der 7 CV: gezähmter Tod.
Der 7 CV gefällt wegen seiner choreographischen Eleganz, mit der er sich mit unseren Begierden vermählt und sich dabei von unseren Ängsten befreit.
Nach seiner herrlichen Ernte von Kilometern erinnert der 7 CV an eine ruhende Sense auf der Schulter.
Den Ingenieuren von Citroën gewidmet: Der 7 CV ist nur der Vater des 8 CV und der Großvater des 9 CV.
Gefährliche Kurve: geiler, ordinärer Tanz von Freund Hein.
Ab 100 in der Stunde: Freund Hein räkelt sich.
Wenn man es eilig hat, kommt man in eine todessehnsüchtige Geschwindigkeit.
Diese rasenden Autos da unten: ein Rennen der noch lebenden Toten.
Zwei Autos, die ineinander rasen, bilden einen Leichenwagen.
Rasen: es mit dem Tod treiben.
Noch schneller rasen: den Tod genießen.
Übermäßige Geschwindigkeit: der lachende Tod.
Katastrophe: Wahnsinnsgeschwindigkeit, die zeigen wollte, was ihr Steckenpferd im Bauch verbirgt.
Der Tod im Auto ist ein Kaiserschnitt.
Das Auto ist die Wiege des Todes.
Das Auto ist ein Sarg voller Lebender.
Das Auto ist ein Sarg, der, wie die Toten, schnell unterwegs ist.
Wenn wir mit dem Auto bremsen, sehen wir mit den Augen unserer Vorfahren ein Pferd, das sich auf den Hinterbeinen aufbäumt.
Das Pferd ist das Hypotenusenquadrat seines Reiters.
Mit dem Pferd besaß der Reisende den ganzen Körper der Natur, mit der Maschine hat er nur noch die Zeit, um ihr mit der Hand durch die Haare zu fahren. Das Pferd lässt uns das Gemälde der Gegenden, durch die die Reise geht, genießen. In der Maschine sehen