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Fresh X - live erlebt: Wie Kirche auch sein kann
Fresh X - live erlebt: Wie Kirche auch sein kann
Fresh X - live erlebt: Wie Kirche auch sein kann
Ebook265 pages4 hours

Fresh X - live erlebt: Wie Kirche auch sein kann

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Wie kann die Kirche heute noch Menschen erreichen? Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage hat der deutsche Pfarrer Sebastian Baer-Henney 30 unkonventionelle Gemeinden in England besucht. Seine Einblicke machen Mut: Veränderung ist möglich! Hier erzählt jemand humorvoll und lernbereit von seinen Entdeckungen unter den neuen Gemeindeformen. Spannende Geschichten von Liebe und Mut, von Aufbruch und Veränderung. Genau das, was wir in Deutschland als Inspiration für unsere eigenen Wege brauchen. Hans-Hermann Pompe, Leiter des EKD-Zentrums für Mission in der Region (Dortmund) Baer-Henneys aktuelle Darstellung ist reich an wichtigen Impulsen und Information. Sie stellt ein hilfreiches Angebot für alle dar, die aus dem noch weiter fortgeschrittenen säkularen Kontext in England für unsere Situation lernen wollen. Heinzpeter Hempelmann, Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie
LanguageDeutsch
Release dateOct 1, 2015
ISBN9783765573392
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    Book preview

    Fresh X - live erlebt - Johannes S. Baer-Henney

    Sebastian Baer-Henney

    Fresh X – live erlebt

    Wie Kirche auch sein kann

    Für Dinah.

    Alles Du, alles Dur, das sind Momente wie Geschenke.

    Die Bibelzitate sind i.d.R. entnommen der Lutherbibel,

    revidierter Text 1984, © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

    Ansonsten gilt folgende Kennzeichnung:

    Hfa Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica,

    Inc.® Verwendet mit freundlicher Genehmigung von ’fontis – Brunnen Basel.

    © 2015 Brunnen Verlag Gießen

    www.brunnen-verlag.de

    Umschlagfoto: Shutterstock

    Umschlaggestaltung: Yellow Tree, Jenny Alloway

    Satz: Uhl + Massopust, Aalen

    Gesetzt in der Sabon

    ISBN 978-3-7655-2042-6

    eISBN 978-3-7655-7339-2

    Inhalt

    Vorwort von Michael Moynagh

    1. Annäherungen

    •England

    •All Souls, Langham Place

    •Fresh Expressions of Church – neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens

    •Fresh Expressions und ihre Eigenschaften

    2. Begegnungen

    •St. Gabriel’s Cricklewood (London): Chris Hill

    •St. Luke’s in the Highstreet (London): Frances Shoesmith

    •Moot & Host Café (London): Ian Mobsby & Vanessa Elston

    •St. Andrew’s Fulham Fields (London): Guy Wilkinson

    •All Hallows Bow (London): Cris Rogers

    •St. Mellitus College (London): Graham Tomlin

    •TANGO (Haydock): Christine Kay

    •St. Simon Zelotes (London): Mike Neville

    •Earlsfield Friary (London): Jonathan Sertin

    •Cornerstone Church (Cranbrook): Mark Gilborson

    •Church@Five (London): Helen Shannon

    •The Mighty Shed (Uplyme Church): Irve Davis-Griffiths

    •Kahaila (London): Paul Unsworth

    •Greenwich Peninsula Chaplaincy (London): Malcolm Torry

    •Exeter Network Church (Exeter): Jon Soper

    •Sanctus 1 (Manchester): Alistair Lowe

    •St. Paul’s Shadwell (London): Ric Thorpe

    •Nachhilfestunde (Oxford): Michael Moynagh

    •St. Paul’s Hounslow (London): Libby Etherington

    •Contemplative Fire (White Waltham): Philip Roderick

    •Wolverhampton Pioneer Ministries (Wolverhampton): Deborah Walton

    •Swiss Church London (London): Carla Maurer

    •River in the City (Liverpool): Keith Hitchman

    •Simply (Exeter): Steve Jones

    •Sanctuary (Birmingham): Pall Singh

    •Tubestation (Polzeath): David Matthews

    •Regenerate Rise (London): Mo Smith

    •Zone 2 (Liverpool): Richard White

    •Eden Project und Messy Church (Launceston): Doreen Sparey-Delacassa

    •King’s Cross Church (London): Pete Hughes

    3. Was in England anders läuft

    •Kontextkirche

    •Pioneer-Kirche

    •Kirche mit Auftrag

    •Kirche auf den Knien

    •Gemischtwirtschaft

    •Kirche mit Geschichte

    •Kirche mit Anspruch

    •Spendenkirche

    •Marathonkirche

    •Kirche ohne Angst

    Nachwort

    Dank

    Vorwort

    Unter den Christen unserer Zeit vollzieht sich etwas Bemerkenswertes. Die Kirche findet neue Wege, Gottes Großherzigkeit zu ihrer Sache zu machen und zu einer Gabe für die Welt zu werden. Gemeinschaften, die vom Evangelium leben, sprießen plötzlich mitten im Alltagsleben aus dem Boden – in Cafés, Fitnesscentern, Pubs, Sportklubs und unter Leuten, die ein gemeinsames Interesse verbindet wie Fahrräder reparieren, schneidern oder kochen.

    England spielt bei der Integration dieser neuen Gemeindeformen in die etablierten Kirchen eine Vorreiterrolle. Das war nicht immer ein einfacher Prozess, aber mittlerweile gibt es schätzungsweise an die 4000 Fresh-X-Gemeinden in einem größeren kirchlichen Kontext. Das Institut für Gemeindewachstum („Church Army Research Unit") der Church of England geht davon aus, dass es in 13 % der Gemeinden der Church of England einen Fresh-X-Zweig gibt; zu deren Hauptveranstaltungen kommen im Schnitt 44 Teilnehmer. Drei Viertel davon hatten zuvor keinen Kontakt zu irgendeiner Gemeinde.

    Fresh-X-Gemeinden weisen vier entscheidende Merkmale auf. Sie

    •setzen sich für Menschen ein, die keiner Gemeinde angehören,

    •passen sich an den Kontext an,

    •schulen Menschen in der Nachfolge,

    •bringen die Kirche dorthin, wo sich das Leben abspielt.

    Sie wollen weniger eine Brücke zu bereits bestehenden Gemeinden darstellen, sondern vielmehr Gemeinde für die Menschen sein, die nur sie erreichen. Viele folgen dabei einer einfachen Strategie, die das Liebesgebot (Gott und die Menschen lieben) mit dem Missionsbefehl (Menschen zu Nachfolgern von Jesus machen) verbindet.

    auf der Basis von Gebet, anhaltendem Hören auf Gott und aufeinander und Anbindung an die größere kirchliche Gemeinschaft

    Eine Handvoll Christen findet zusammen und hört auf Gott, auf die Menschen, für die sie sich einsetzen, und aufeinander. Sie finden einfache Wege, Menschen, mit denen sie leben, zu lieben, indem sie etwas für sie tun. Dadurch entsteht eine enge Gemeinschaft untereinander. Mit geeigneten Worten wird Jesus zur Sprache gebracht. Einzelne kommen zum Glauben, und es entsteht eine Art Gemeinde. Im Idealfall (und so geschieht es tatsächlich) werden die neu zum Glauben Gekommenen ermutigt, einen ebensolchen Prozess zu beginnen.

    Fresh-X-Gruppen begegnen Menschen in ihrem normalen Alltagsleben, lieben sie durch konkretes Handeln und bringen ihnen die Geschichten von Jesus nah. Damit verringern sie die Kluft zwischen der heutigen Gesellschaft und der Kirche. Sie ermöglichen der Kirche, in der Welt präsent und als positive Kraft in ihr wirksam zu sein.

    Die theologische Begründung für diese neuen Gemeindeformen liegt im Wesen Gottes selbst. Der Gott, dem wir in der Bibel begegnen, ist ein missionarischer Gott. Das ist ein Wesenszug, der sich durch die ganze Bibel zieht. Fast jede Seite offenbart uns einen Gott, der in Liebe auf diese Welt zugeht. Gott „ist und bleibt derselbe, gestern, heute und für immer" (Hebräer 13,8; Hfa). Es ist daher nicht vorstellbar, dass er sich in seinem Wesen verändern könnte. Wenn Gott heute missionarisch ist, muss er immer missionarisch sein. Das bedeutet: Mission ist für Gott nicht erst der zweite Schritt – deshalb kann sie das auch für die Kirche nicht sein. Fresh-X-Gemeinden zeigen, wie die Kirche Mission an erste Stelle setzen und so das Wesen Gottes spiegeln kann.

    Gottes Mission ist im Wesentlichen Großherzigkeit. Ihm geht es immer darum, uns zu beschenken. Die Kirche macht sich diese Mission zu eigen, indem sie durch Gottes Geist ein Geschenk für die Welt wird. So wie Jesus sein Leben hingab, bietet auch die Gemeinde das, wovon sie entscheidend lebt, anderen an: Gemeinschaft mit Jesus. Und wie bei jedem Geschenk muss auch dieses auf diejenigen zugeschnitten sein, denen man es anbietet. Für manche Leute ist es das Richtige, sie in eine bereits bestehende Gemeinde einzuladen. Aber wenn eine Gemeinde sich zu einer unpassenden Zeit oder an einem unpassenden Ort trifft oder Ausdrucksformen hat, die Außenstehenden schwer verständlich sind, muss das Geschenk eine neue Art von Gemeinschaft mit Jesus sein. Und genau darum geht es den Fresh-X-Gemeinden.

    Die Kirche wird dann zu einem Geschenk für andere, wenn sie missionarisch ist, und zwar als Gemeinschaft. Gott will nicht, dass jeder sein eigenes Programm fährt. Gott, der Vater, der Sohn und der Geist, handeln gemeinsam, nicht jeder für sich. Sie sind in ihrem missionarischen Handeln verbunden. Dementsprechend sollen auch Christen, wo immer möglich, gemeinsam missionarisch aktiv sein – und zwar mitten im alltäglichen Leben. Als Jesus seine Jünger darin schulte, Boten für das Evangelium zu sein, und sie zu zweit losgehen ließ, schickte er sie nicht in die Synagogen. Er schickte sie in die Dörfer und Städte, dorthin, wo das Leben stattfand. Fresh-X-Gemeinden folgen diesem Beispiel. Sie sind Missionsgemeinschaften mitten in unserer Welt.

    Diese neuen Gemeindeformen ergänzen die bestehenden Kirchen. Sie sind nicht besser als traditionellere Gemeinschaften; sie sind anders. Sie sind ein Geschenk für Menschen, die andere Gemeinden nicht erreichen. Sie strecken Menschen, die kaum Berührung mit der Kirche haben, die liebenden Arme von Jesus entgegen, und tragen so zu einer größeren Vielfalt im Reich Gottes bei. Sie nehmen eine Zeit vorweg, in der Jesus „mit seiner ganzen Fülle in der Kirche lebt und Gott „in allem wirkt (Epheser 1,23; 1. Korinther 15,28; Hfa).

    Die Kirche macht sich auf, verlässt ihre wohnliche Insel und kommt mitten im Alltag in Kontakt mit den Menschen. Das kann jeder.

    •Suchen Sie sich einen oder zwei andere Christen.

    •Fangen Sie gemeinsam an, etwas für die Menschen in Ihrem Umfeld zu tun.

    •Bauen Sie Beziehungen auf.

    •Bringen Sie Jesus ins Spiel.

    •Fragen Sie gemeinsam danach, was es bedeutet, Jesus zu folgen.

    Es ist wirklich so einfach wie das ABC.

    Sebastian Baer-Henneys Buch ist für dieses Unternehmen sehr lesenswert. Lassen Sie sich durch die Geschichten, die er erzählt, inspirieren. Bitten Sie darum, dass Gottes Geist Sie leitet. Und dann tun Sie etwas Ähnliches in einem Bereich, der für Sie stimmig ist.

    Reverend Dr. Michael Moynagh

    Fachberater für UK Fresh Expressions und Autor mehrerer Bücher. Sein Grundlagenwerk „Church for Every Context erscheint auf Deutsch unter dem Titel: „Fresh Expressions of Church. Eine Einführung in Theorie und Praxis.

    1. Annäherungen

    England

    England ist für mich das Land der Teetrinker und eines etwas altmodischen Lebenswandels mit karierten Sakkos und Hüten beim Pferderennen. England ist Höflichkeit und Linksverkehr. Viele weitere Klischees drehen sich in meinem Kopf, wenn ich an die Insel denke.

    England ist aber noch etwas anderes: England ist Aufbruch. In Deutschland gab es in den letzten Jahren immer wieder Diskussionen, als es um den Umbau des Bildungssystems ging. Und brachte wer auch immer dabei das „skandinavische Modell ins Gespräch, so war dies ein Totschlagargument, mit dem man nur punkten konnte. In der Öffentlichkeit weniger prominent, aber mit demselben Effekt kann man in eine Debatte um kirchliche Veränderungsprozesse das Wort „England einbringen. England ist das Gelobte Land, das die Antworten auf sämtliche Fragen und Probleme der Kirche zu bieten scheint. Natürlich ist das übertrieben. Aber es hat einen wahren Kern.

    Tatsächlich sind in den letzten Jahren von dort zahlreiche Impulse nach Deutschland gekommen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe interessanter Veröffentlichungen darüber, was in der Kirche drüben in letzter Zeit alles passiert ist, welche Veränderungsprozesse angestoßen wurden und warum es auf einmal wieder bergauf zu gehen scheint mit der Kirche dort. Ein deutscher Pfarrer meinte mal zu mir, dass die Entwicklung in England der in Deutschland um sieben Jahre voraus sei. Ich bin nicht sicher, woher er diese Zahl nahm, habe aber den Eindruck, dass er tendenziell recht hat.

    Ob sich in England Antworten auf die Fragen finden lassen würden, die mich und viele andere umtrieben, mit denen ich im Vikariat zu tun hatte? Wie kann man Menschen ansprechen, die die Kirche nicht mehr erreicht? Wie begeistert man innerhalb der Kirche Menschen für Veränderungen? Was muss verändert werden? Und was nicht?

    Um der Sache näher auf den Grund zu gehen, bewarb ich mich für ein Auslandsvikariat in einer großen und florierenden anglikanischen Gemeinde in London. Meine Landeskirche war hierfür offen, und so war relativ schnell klar, dass ich ab Sommer 2013 in „All Souls" am Langham Place arbeiten würde. Hier sollte meine Expedition starten, denn hier hoffte ich, Antworten zu finden und dem Aufbruch zu begegnen. Und so wurde All Souls ein Jahr lang Ausgangsbasis für meine Erkundungen auf der Insel.

    All Souls, Langham Place

    All Souls ist spannend, ohne Frage. So bin ich anfangs überwältigt von dem, was hier läuft. Dass die Gemeinde mir in meiner Suche nach Antworten nicht substanziell weiterhelfen kann, wird erst mit der Zeit klar. Am Anfang steht das Staunen, denn die bloßen Zahlen beeindrucken: fast sechzig Angestellte, davon sechzehn minister, also Pfarrerinnen und Pfarrer im weitesten Sinne. Zweitausend Menschen jeden Sonntag im Gottesdienst. Zwölftausend Pfund Kollekte – pro Woche. Bei der letzten Zählung waren Menschen aus siebenundsechzig Ländern Mitglied der Church Family, der Familie, als die sich die Gemeinde versteht. Und all das im Zentrum von London.

    Wenn man sich London wie eine Schallplatte vorstellt, dann sollte ich fortan dort arbeiten, wo das Loch ist: direkt am Oxford Circus, zehn Meter Luftlinie zur BBC, dem Zentrum der englischen Mediengesellschaft. Ich muss zugeben, dass mich diese Dinge beeindrucken, als ich meine Stelle hier antrete. Nun bin ich Mitglied des ministry teams dieser riesigen Gemeinde, mit dem Ziel herauszufinden, wie man zukunftsorientiert Innenstadtgemeinde sein kann. Was genau ich denn sei, werde ich oft gefragt. Pfarrer? Besucher? Spion? Oder alles zusammen? Anfangs weiß ich es selber nicht. Schließlich bin ich ja nicht bei All Souls angestellt, sondern bei der Evangelischen Kirche im Rheinland.

    Ich bekomme schnell einen Schlüssel für die Kirche und ein DienstiPhone. Jeder hier hat eines, denn es gibt kaum feste Büros. Platz ist ein Problem im Londoner Zentrum, deswegen arbeiten die meisten Geistlichen von zu Hause oder in der Bibliothek, aber größtenteils sind sie eh unterwegs. London ist schnell, schneller als ich es anfangs bin. Wenn ich aus der U-Bahn steige, dann ziehen die Menschen an mir vorbei. Eiligen Schrittes überholen sie mich rechts und links, als wäre ich ein Pausenzeichen im Rhythmus dieser Stadt. Die ersten Wochen sind unglaublich anstrengend. Und sie vergehen schnell.

    Nach einigen Wochen bemerke ich, dass ich an Tempo gewonnen habe. Getrieben werde ich von dem ständigen Versuch, die Übersicht zu gewinnen und zu behalten. Gar nicht so einfach in einer Gemeinde, in der es unzählige strikt voneinander getrennte Arbeitsbereiche gibt, in der jeder Pfarrer seine Zuständigkeit hat und es kaum Zeit zur Abstimmung gibt. Die für die Berufstätigen zuständige Pfarrerin weiß rudimentär, was in der Studierendenarbeit passiert; die beiden Musikpastoren haben eine grobe Ahnung davon, was Kinder- und Jugendpfarrer gerade machen; es gibt Evangelisten, eine Seelsorgerin, Pfarrer, die für Fortbildungen und Ausbildung innerhalb der Gemeinde zuständig sind – und es gibt den Rektor, Hugh Palmer. Er ist von der Queen persönlich ernannt und somit einer ihrer Hofgeistlichen. Hugh hat die Übersicht, denn bei ihm laufen die Fäden zusammen. Wie ein Kapitän steuert er dieses riesige Schiff mittels unzähliger Gespräche, disziplinierter Teambesprechungen und durch geschicktes Verteilen von Zuständigkeiten.

    Nach und nach werde ich den einzelnen Mitarbeitern persönlich vorgestellt. Dabei werde ich von mehreren Seiten gefragt, was denn genau meine Aufgabe sei. Ich sage, dass es in erster Linie darum gehe zu erfassen, wie man eine solche Gemeinde leite, ich wolle die Strukturen verstehen. Als die erste Person witzelt, dass es dann wenigstens einen gebe, der das verstünde, lache ich herzlich. Als eine zweite denselben Witz macht, lächle ich höflich. Doch als der Witz zum dritten Mal innerhalb einer halben Stunde kommt, fange ich an nachzudenken. Durchschauen die Mitarbeitenden am Ende vielleicht wirklich nicht, wie ihre Gemeinde läuft?

    Die Antwort liegt zwischen Ja und Nein. Tatsächlich haben alle eine sehr genaue Vorstellung davon, was ihr Aufgabenbereich ist, und genießen auch viele Freiheiten. So wird während meiner Anwesenheit beispielsweise die Studierendenarbeit grundlegend modernisiert, ohne das in der Gemeindeleitung besonders zu diskutieren. Die Gemeinde ist schlicht zu groß und zu diffus, um alle Dinge zentral zu besprechen. In einem Unternehmen dieser Größe muss wohl auf Effizienz geachtet werden, was die einzelnen Arbeitsbereiche auch tun. Jeder kennt die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, keiner darf auf Dauer defizitär arbeiten, alle berichten regelmäßig dem Rektor, der wiederum dem Gemeindekirchenrat. Und dennoch fehlt es an vielen Stellen an Professionalität.

    Mit der Zeit weicht meine erste Euphorie einer immer stärkeren Ernüchterung. So wird mir zunehmend deutlich, dass es keine wirkliche übergeordnete Strategie gibt, keine stringente Konzeption und erst recht kein Forum, in dem ein Austausch über den inhaltlichen Kurs stattfinden könnte. Diese Feststellung überrascht mich zunächst. In meiner Landeskirche hat fast jede Gemeinde eine eigene Konzeption, anhand derer sich die Verantwortlichen überlegen können, was denn eigentlich das Ziel der Gemeindearbeit ist, wie man daran arbeiten möchte – und was dann vielleicht auch nicht in die Zuständigkeit der Gemeinde fällt.

    In All Souls bekomme ich davon allenfalls Ansätze zu spüren, so in dem Slogan der Gemeindearbeit: Growing an international community to reach a multicultural society for Christ – eine internationale Gemeinschaft werden, um eine multikulturelle Gesellschaft für Christus zu erreichen. Auf der schick gestalteten Homepage der Gemeinde gibt es einige Leitsätze, aber ich habe nicht den Eindruck, dass diese bei strategischen Überlegungen innerhalb der Pfarrerschaft relevant wären.

    War ich mit der Erwartung hierhergekommen, dass ich eine moderne Gemeinde treffen würde, professionell geleitet wie ein Unternehmen, so wird diese Erwartung enttäuscht. In dieser Hinsicht sind viele deutsche Gemeinden besser aufgestellt. Ich spreche in All Souls mit vielen Leuten und versuche zu ergründen, woran das liegt. Letztlich glaube ich, dass es wohl einfach nicht nötig ist. Die Gemeinde funktioniert. Fünfhundert Ehrenamtliche machen hier jede Woche bei der Arbeit mit; am hausgemachten Glaubenskurs Christianity Explored nehmen immer mindestens siebzig Menschen teil, an der einjährigen Ehrenamtlichenausbildung Springboard rund einhundert. Engagement wird von den Gemeindegliedern gefordert – und es wird geliefert. Wer sich nicht einbringt, ist kein richtiger Christ, so lautet die Botschaft, die nicht immer nur unterschwellig vertreten wird.

    In Deutschland wie in England sind viele Modernisierungsprozesse der vergangenen Jahre aber gerade aufgrund von zunehmender Not in den Gemeinden entstanden. Never change a winning team, hat einmal ein Engländer gesagt. Wenn es doch läuft, warum soll man dann etwas an der Strategie ändern? Übrigens gilt das in ähnlicher Form wohl auch für die anderen großen evangelikalen Kirchen in London: „Holy Trinity Brompton und „St. Helen’s Bishop’s Gate. Und trotzdem habe ich den Eindruck, dass die Probleme, die kleinere Gemeinden in London haben, auch hier spürbar werden. So ist es heute mühsamer als noch vor ein paar Jahren, für Veranstaltungen genug Ehrenamtliche zu gewinnen, und nach einer aufwendig gestalteten Missionswoche konnten weniger Menschen als erwartet an die Gemeinde gebunden werden. Es sind nur kleine Anzeichen, aber auch bei All Souls tauchen langsam Probleme auf, die sich in den kommenden Jahren wahrscheinlich verstärken werden. Probleme, die woanders schon brennen, schwelen hier noch unter der Erde.

    Vielleicht liegt es an der sehr engen, „bibeltreuen" Theologie, dass es All Souls gelingt, nach wie vor viele Menschen an sich zu binden, sodass die gesellschaftlichen Veränderungen hier langsamer Raum greifen als in anderen Gemeinden. Mir selbst bleibt diese Theologie an vielen Stellen fremd, und doch habe ich großen Respekt vor dem Bemühen, den biblischen Texten so eingehend auf den Zahn zu fühlen, dass sie das komplette Leben nicht nur beeinflussen, sondern auch bestimmen.

    Mark, einer der Pfarrer, sagt einmal in einer Predigt, dass die All-Souls-Gemeinde in ihrem Bibelverständnis fast schon „pharisäisch sei. Er meint dies im Sinne einer übermäßigen Gesetzlichkeit. Gesetzlichkeit sei eine Bedrohung, die an vielen Stellen schon konkret Gestalt annehme. In allem wird hier ein sehr wörtliches Bibelverständnis zum Maßstab – mit unbequemen Konsequenzen, die sich oft unserer Kultur entgegenstellen. Frauen predigen hier nicht in den Sonntagsgottesdiensten, Homosexualität wird strikt abgelehnt, und mehrfach werde ich ernsthaft mit der Frage konfrontiert, wie ich als Pfarrer denn die Existenz der Dinosaurier erklären könne, die doch im Schöpfungsbericht keinen Platz hätten. Für Menschen, die wie ich ein offeneres Bibelverständnis teilen, klingt das befremdlich. Doch diese Abgrenzung von der „Kultur verbindet, führt dazu, dass sich die Gemeinde zusammentut, um gemeinschaftlich eine „bessere Gesellschaft" zu formen und möglichst viele Menschen aus ihrer diagnostizierten Gottlosigkeit zu befreien.

    Ich stoße hier theologisch oft an Grenzen. Vor allem aber sehe ich, dass die Organisation einer solch erfolgreichen Gemeinde nicht unbedingt modern sein muss. Die Arbeit ist zwar größtenteils straff organisiert,

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