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Griechische Skulpturen
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Griechische Skulpturen

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Die Bildhauerei Griechenlands fasst in sich die Seele aller Bildhauerei zusammen. Die ihr wesenhafte Einfachheit entzieht sich jeder Definition. Wir fühlen sie, doch artikulieren können wir sie nicht. Und so bleibt all jenen, die zur Essenz der griechischen Bildhauerei vordringen wollen, nichts als die geduldige, unvoreingenommene und allzeit aufnahmebereite Betrachtung dieser zeitlosen Meisterwerke.
LanguageDeutsch
Release dateSep 15, 2015
ISBN9781783106479
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    Book preview

    Griechische Skulpturen - Edmund von Mach

    Hinweise

    Dipylon-Kopf, Dipylon,

    Athen, ca. 600 v.Chr. Marmor,

    H: 44 cm. Nationalmuseum für

    Archäologie von Athen, Athen.

    Einführung

    Bis vor etwa zweihundertfünfzig Jahren war ein Studium der griechischen Bildhauerei unbekannt. Der Archäologe Johann Joachim Winckelmann[1] war einer der ersten, der sich ihm widmete und 1755 ein Buch zu dem Thema veröffentlichte. Die Ausgrabungen in Pompeji und Herkulaneum, der von Lord Elgin durchgeführte Abbau der Parthenon-Skulpturen und ihr Transport nach London und nicht zuletzt die Erneuerung Griechenlands und die darauf folgenden reichlichen archäologischen Funde fachten die Begeisterung für und das stetig wachsende Interesse an diesem neuen Studiengebiet an. Im 18. Jahrhundert war es auch den Fachleuten noch nicht möglich, antike Kunst richtig zu beurteilen, da sie nur wenige Originale besaßen, die sie daher durch die Brille einer späteren römischen Zivilisation betrachten mussten.

    Angeregt von der wissenschaftlichen Atmosphäre im 19. Jahrhundert wurde weiter geforscht. Der Spaten des Ausgräbers brachte lang vergessene Schätze ans Licht, die Philologen sortierten und klassifizierten das Material, so dass dem Kunstkritiker kaum etwas oder nichts überlassen blieb. Das Thema lag in den Händen der Archäologen, die es in mehr oder minder erschöpfenden Abhandlungen über griechische Kunst oder Bildhauerei darstellten. Alle ihre Publikationen folgten der historischen Entwicklung, sie beschrieben die Geschichte der antiken Künstler. Eine solche Behandlung des Themas machte aber, obwohl sie durchaus eine gewisse Ordnung in das bisherige Chaos des vorhergehenden Jahrhunderts brachte, ein klares Verständnis des Geistes der griechischen Bildhauerei unmöglich, da sie die Publikationen mit nur für die Fachleute wissenswerten Fakten überlud, aber das künstlerisch interessierte Publikum nicht ansprechen konnte. Die Autoren des 18. Jahrhunderts verallgemeinerten, und dies, ohne ausreichende Fakten zur Verfügung zu haben, die Gelehrten des 19. Jahrhunderts sammelten alle verfügbaren Fakten, und daher wird es nun zu unserer Aufgabe, den Leser in den Geist und die Prinzipien griechischer Bildhauerei einzuführen.

    Dieser Geist der griechischen Bildhauerei ist synonym mit dem Geist der Bildhauerei, er ist einfach und widersetzt sich daher der Definition. Wir mögen ihn erfühlen, doch wir können ihn nicht ausdrücken. Der Grund, warum die Bildhauerei heute ihre frühere Macht verloren hat, ist, dass wir auf das gehört haben, was über sie gesagt worden ist, anstatt mit ihr in Kontakt zu treten. Kein noch so großes Bücherwissen macht das Fehlen einer Vertrautheit mit den Originalstücken der Bildhauerei wieder wett. Öffne deine Augen, studiere die Statuen, schau hin, denke, und schaue wieder, so lautet das Gebot für alle, die Kenntnisse über die griechische Bildhauerei erlangen wollen.

    Schnelligkeit der Entwicklung

    Die griechische Bildhauerei entwickelte sich bemerkenswert schnell, und dies unter recht unvorteilhaften Bedingungen. Nur wenige Länder haben solch rapide Veränderungen erlebt wie Griechenland, denn die Schnelligkeit, mit der die mykenische Zivilisation möglicherweise von den Doriern hinweggefegt wurde, ist in der Geschichte beispiellos. Die drei oder vier Jahrhunderte, die auf die dorische Invasion (ca. 1000 v.Chr.) folgten – das dunkle Mittelalter Griechenlands – waren voll gewaltsamer politischer Unruhen. In verblüffender Vergänglichkeit bildeten sich Staaten und versanken wieder. Vor der Zeit des Tyrannen Peisistratos (um 600 bis etwa 528 v.Chr.) war Athen nur eine unbedeutende Gemeinde, die in den Dichtungen Homers (8.Jh. v.Chr.) kaum Erwähnung findet. Der Aufstieg der Stadt geht auf die Persischen Kriege (490-480 v.Chr.) zurück, aber schon vor dem Ende dieses Jahrhunderts verblasste ihr Ruhm wieder. Der mazedonische König AlexanderIII., der Große (356 bis 323 v.Chr.), brachte seine Feldzeichen bis nach Indien, und als er starb, war Mazedonien schon keine Weltmacht mehr. Die im Nordwesten Kleinasiens gelegene Stadt Pergamon wurde 241 v.Chr. unter AttalosI. (269bis 179 v.Chr.) beherrschend und verschwand als wichtige Macht bereits 133 v.Chr. wieder von der Bühne. Die Vereinigten Staaten werden von uns als ein junges Land angesehen, doch ist es immerhin fast so alt wie Griechenland, als dieses von Rom verschlungen wurde.

    Der Triumph der Wenigen

    Als Voraussetzungen für eine Periode großer Kunst werden im Allgemeinen Frieden und Muße genannt. Das sind sie sicherlich, doch sollten sie nicht ausschließlich auf die äußeren Bedingungen bezogen werden. Aufschlussreich ist nicht die Umgebung der Menschen, sondern ihr Gemütszustand, und es ist auch nicht notwendig, dass alle mit einem edlen Charakter gesegnet sind. Die Triumphe einer Nation hat oft genug der Tatendrang einiger Weniger erzielt. Es ist ein Fehler, allen Athenern oder auch nur der Mehrheit von ihnen die Liebe des Künstlers zur Schönheit zuzuschreiben. Der einfache, unbedeutende, vielleicht ungerechte Mann der Mittelklasse, so wie er in den Komödien des Aristophanes (um 445 bis 385 v.Chr.) und den Dialogen Platons (427 bis 348 v.Chr.) auftaucht, mit seinem engen Horizont und den argwöhnischen Vorurteilen, kann den plötzlichen Aufstieg Athens nicht erklären, obwohl er vielleicht und sogar wahrscheinlich für den schnellen Fall der Stadt verantwortlich ist. Athen hat seine überlegene Stellung trotz solcher Kleingeister und seinen Genossen erreicht.

    Daher darf auf dem Gebiet der Kunst die Wichtigkeit des einzelnen Künstlers nicht überbewertet werden. Von Sir Robert Ball[2] ist der Ausspruch überliefert, dass wissenschaftliche Entdeckungen dem Gesetz der Notwendigkeit folgen, sie aber durch die Gegenwart großer Männer beschleunigt werden können. Hätte James Watt (1736 bis 1819) nicht die Dampfkraft entdeckt, hätte es ein anderer getan, und einige Männer waren bereit, der Welt Charles Darwins (1809 bis 1882) Theorie vom Überleben des Stärksten mitzuteilen. Aber, so fügte Sir Robert hinzu, was wäre die Welt der Musik, hätte Beethoven nicht gelebt? Was für die Musik wahr ist, ist auch wahr für die Bildhauerei oder für jede der schönen Künste, die Gedanken auszudrücken vermag. Einige der schönsten griechischen Skulpturen wären nie geschaffen worden, hätte im 5. Jahrhundert v.Chr. nicht Pheidias gelebt. Weißt du denn nicht, ruft ein antiker Schriftsteller aus, dass in jedem Stein ein praxitelisches Haupt steckt? Aber, so kann man hinzufügen, es braucht einen Praxiteles (4.Jh. v.Chr.), um es freizulegen. Erst nachdem die verwirrende Masse des umschließenden Gesteins weggeschlagen ist, offenbart der Kopf seine Bedeutung. Um einen Gedanken zu verstehen, brauchen die meisten von uns seinen Ausdruck. Die Wirklichkeit des Gedankens aber kann nicht verleugnet werden, selbst wenn ihm kein Ausdruck gewährt wird, denn er ist unabhängig von unserem Begreifen.

    Kore, Delos, ca. 525-500 v.Chr.

    Marmor, H: 134 cm. Nationalmuseum für

    Archäologie von Athen, Athen.

    Eine kleine Auswahl einfacher Ideen

    Der Gedankenbereich, der in der griechischen Bildhauerei ihren Ausdruck fand, war klar umschrieben und weit entfernt von der Komplexität der Moderne. Den Charme griechischer Kunst machen einige wenige, aber einfach und gut ausgedrückte Konzepte aus. Zeitweise wurde die Angemessenheit der Darstellung tatsächlich als essentieller Teil griechischer Kunst betrachtet, und viele habe Mary Shelley (1797 bis 1851), John Keats (1795 bis 1821), Johann Christian Hölderlin (1770 bis 1843) und andere als ‘Griechen’ bezeichnet, nicht etwa, weil diese Männer wie die Alten dachten, sondern weil sie ihren Gefühlen angemessen Ausdruck verleihen konnten. Dennoch waren sie nur zum Teil griechisch, denn ihnen fehlte der zweite Charakterzug antiker Kunst – die Einfachheit. Die Schönheit des Parthenon ist das Ergebnis intensiven Nachdenkens und richtigen Fühlens. Daher wurde er von allen verstanden und bereits im Jahr seiner Fertigstellung, wie Plutarch (46 bis etwa 120) sagte, ein Klassiker.

    Die Wirkung eines Kunstwerks

    Die Macht, auf alle Klassen von Menschen zu wirken, ist nur wenigen Künstlern gegeben, denn sie erfordert nicht nur großes Können, sondern auch mitfühlende Kenntnis der menschlichen Natur. Diese Tatsache wird oft übersehen. Die Leute vergessen, dass die Wirkung eines Kunstwerks auf die höheren Fähigkeiten des Menschen gerichtet ist, dass sie aber durch seine Augen geleitet wird. Wenige Dinge werden genau so gesehen, wie sie sind. Eine Vertrautheit mit Kunstwerken kann nicht vorausgesetzt werden. Die Diskrepanz zwischen dem Objekt in der Vorstellung und seiner wirklichen Darstellung muss in die Überlegung einbezogen und die Eigenheiten des menschlichen Sehvermögens müssen berücksichtigt werden. Der Künstler darf nicht vergessen, dass er, um seine Gedanken zu vermitteln, Formen aus der objektiven Natur entleiht, und dass er auf den Menschen, also auf die subjektive Natur zu wirken sucht. Er wird aus allen möglichen Themen nur die auswählen, die leicht verstanden werden, und er wird sie auf eine Weise bearbeiten, die dazu angetan ist, den Erfordernissen der menschlichen Auffassungskraft zu genügen.

    Perioden in der griechischen Bildhauerei

    Die Griechen arbeiteten nach diesen Prinzipien. Es ist daher leicht verständlich, dass ihre Bildhauerei entsprechend den unterschiedlichen Phasen ihrer Zivilisation in Perioden eingeteilt werden kann. Der Geist ihrer Kunst änderte sich nie. Sicherlich folgten ihm nicht alle Bildhauer. Wie korrekt auch immer ihre Ideen waren, sie konnten nicht anders, als sie individuell zu interpretieren. Dies macht eine Unterscheidung notwendig zwischen dem, was der Bildhauer zu tun beabsichtigte und dem, was er tatsächlich tat. Die athenischen Tendenzen zur übermäßigen Ausarbeitung beispielsweise und die polykletische Vernachlässigung der edleren Seite der menschlichen Natur sind nur zeitweilige Abweichungen. Sie stehen völlig außerhalb des gleichmäßigen Geistes der griechischen Bildhauerei und finden ihre Erklärung in den vorübergehenden Vorlieben und Abneigungen einiger weniger. Solche Fälle unangemessener Beachtung der einen oder anderen Einzelheit hatten unvermeidlich eine Auswirkung auf den nachfolgenden Ausdruck der Kunst. Es ist notwendig, anzumerken, dass die eindrückliche Feinheit früher athenischer Skulpturen von Pheidias aufgegriffen wurde und dass Polyklet (tätig etwa von 450 bis 410 v.Chr.) mit seiner Missachtung des Edelsten im Menschen sofort von Praxiteles und Skopas (4.Jh. v.Chr.), den größten Meistern im Ausdruck der Leidenschaften der menschlichen Seele, verdrängt wurde.

    Drapierte sitzende Frau,

    Grabstein (Fragment), ca. 400 v.Chr.

    Marmor, H: 122 cm. The Metropolitan

    Museum of Art, New York.

    Männlicher Torso, Kopie nach einer Originalbronze

    von Polyklet,der Diadumenos (entstanden um 440 v.Chr.)

    Marmor, H: 111 cm. Musée du Louvre, Paris.

    Herakles Farnese, Kopie nach

    einem griechischen Original aus

    dem 5. Jh v.Chr. Marmor, H: 313 cm.

    Museo Archeologico Nazionale, Neapel.

    Nachdenkliche Athene, Akropolis, Athen,

    ca. 470-460 v.Chr. Marmor, H: 54 cm.

    Akropolis-Museum, Athen.

    Einführende Überlegungen

    Die Griechische Bildhauerei in ihrem Verhältnis zur Natur: Das mentale Bild

    Die griechische Bildhauerei zeigt eine Qualität, die der als Realismus bezeichneten stark entgegengesetzt ist. Da Realismus und Idealismus Gegensätze sind, wurde die griechische Bildhauerei oft idealistisch genannt. Der Realist in der Kunst strebt danach, die Natur mit all ihren Zufälligkeiten und Nebensächlichkeiten darzustellen und wird dabei oft von diesen geringen Größen derart abgelenkt, dass er nicht mehr in der Lage ist, die wahre, wenn auch flüchtige Essenz des Objektes einzufangen. Der Idealist dagegen übergeht bewusst die offensichtlichen Einzelheiten und legt seine Mühe in die Betonung der in dem zur Darstellung ausgewählten Objekt verkörperten Idee. Beider Arbeit liegt das sichtbare Objekt der Natur zu Grunde, das sie reproduzieren möchten. Nicht so aber bei den Griechen.

    Jeder besitzt den Entwurf eines mentalen Bildes oder eine Erinnerung seiner gewohnten Umgebung. Diese mentalen Bilder genau darzustellen, war das Ziel der Griechen. Sie bemühten sich, ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen, daher sind sie eher Realisten als Idealisten. Weil aber diese beiden Begriffe auf die genannte Art Menschen angewandt werden, ist es verwirrend, sie auch für die antiken Griechen zu verwenden. Dies gilt auch für den modernen Gebrauch des Wortes Elimination, mit dem die meisten Autoren ein absichtliches Weglassen oder Unterdrücken von Einzelheiten meinen. Die Abwesenheit unnötiger Details in der griechischen Bildhauerei lag nicht an einem bewussten Eklektizismus, sondern an der Tatsache, dass solche Einzelheiten in den mentalen Bildern keinen Platz haben.

    Das mentale oder Erinnerungsbild ist der bleibende Eindruck, nachdem man eine ganze Reihe Objekte derselben Art gesehen hat. Es liegt in der Natur der platonischen Vorstellung, gereinigt und befreit von allen individuellen oder zufälligen Beifügungen. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist eine besonders unsichere Fähigkeit, und auf seinen primitiven Stufen zwar schnell in der Reaktion, doch auch sehr ungenau. Es ist leicht, sich an die Form eines viereckigen Blatt Papiers zu erinnern, genauso wie an einen Bleistift oder an jedes andere einförmige oder einfache Objekt. Unser mentales Bild eines Tieres ist weniger deutlich. Wir erinnern uns an den Kopf, an die Beine, an den Schwanz und vielleicht noch an den Körper, wenn dieser ein markantes Teil ist wie im Falle eines Hundes oder Pferdes. Aber all diese Teile sind unverbunden, und wenn zum Beispiel ein Kind gebeten wird, einen Mann zu zeichnen, wird es sich an den Kopf, die Arme und Beine erinnern, es wird aber nicht wissen, wie es sie verbinden soll. Sein mentales Bild des Mannes als Ganzem ist zu undeutlich, um es zu leiten. In der Natur sind die einzelnen Teile in leicht fließenden Kurven verbunden – sie wachsen zusammen; in unserem mentalen Bild sind sie einfach zusammengefügt.

    Dieser Prozess des Zusammenfügens ist völlig unbewusst und macht uns kaum Schwierigkeiten, außer wenn wir gezwungen sind, ihn auf Papier oder in Stein wiederzugeben und ihn mit den wirklichen Objekten um uns zu vergleichen. Professor Löwy[3] zitiert den bemerkenswerten Fall eines verdrehten mentalen Bildes bei den frühen brasilianischen Zeichnern, die von den Schnurrbärten der Europäer sehr beeindruckt waren und diese anstatt auf der Oberlippe als auf der Stirn wachsend wiedergaben. Im mentalen Bild ist die Oberlippe unwichtig, während der breite Streifen der Stirn einen markanteren Platz einnimmt. Deshalb wird der Schnurrbart auf der Stirn dargestellt, obwohl dies im Gegensatz zur Natur steht und selbst mit dem hastigsten Blick als falsch bewiesen werden kann.

    Allgemeinen Prinzipien folgend, sollten unsere mentalen Bilder vertrauter Objekte genauer sein. Doch ist dies nicht immer der Fall. Nur wenn wir ein Tier zum ersten Mal sehen, betrachten wir es sehr genau; bei jedem weiteren Hinsehen wird der Blick immer flüchtiger. Schließlich tragen wir ein mentales Bild bei uns, dessen Unschärfe in den Details der Unaufmerksamkeit entspricht, die wir zuletzt darauf verwenden. Dargestellt in einer Zeichnung, hat es wenig Ähnlichkeit mit dem Tier, dessen mentales, von der Natur gezeichnetes Bild uns so vertraut geworden ist, dass es aufgehört hat, von Interesse zu sein. Kein mentales Bild wird je so auf Papier oder Stein dargestellt, wie es wirklich ist. Gerade die Aufmerksamkeit, die ihm mit dem Bestreben zuteil wird, es wirklichkeitsgetreu darzustellen, beraubt es eines großen Teils seiner Spontaneität; und weil es das Ergebnis des unbewussten Betrachtens sehr vieler Objekte ist, wird es im bewussten Ausdruck viele Lücken und verschwommene Verbindungslinien aufweisen, die der Künstler nach bestem Vermögen füllen muss.

    Ein weiterer Grund, warum mentale Bilder nicht genau wiedergegeben werden können, ist, dass die Gesetze des materiellen Universums, zu dem die Objekte gehören, keine Verbindlichkeit in der Welt der mentalen Bilder haben. Löwy zitiert als Beispiel dafür die Tatsache, dass das Erinnerungsbild eines Mannes im Profil zwei Augen haben kann, und bei primitiven Völkern auch tatsächlich hat. Man kann sie aber wegen des begrenzten Platzes nicht beide im Bild darstellen und muss daher vom mentalen Bild abweichen.

    Solche Fälle zwingen den einfachen Künstler, sich an die Natur als Informationsquelle zu halten. Dies kann er auf zwei Arten tun - entweder durch intensiveres Betrachten, aus dem heraus er ein klareres mentales Bild gewinnt, oder durch tatsächliches Kopieren der fehlenden Teile von einem Modell. Auf letzteres, so natürlich es scheinen mag, wird nicht so einfach zurückgegriffen wie auf ersteres, wahrscheinlich, weil es eine völlig andere Qualität in die Arbeit bringen würde - das Individuelle anstatt des Typus. Außerdem ist weithin bekannt, dass im Malen talentierte und gewitzte Kinder oft keine erkennbaren Kopien eines bestimmten Modells zustande bekommen.

    Kore von Auxerre, ca. 640-630 v.Chr.,

    Kalkstein, H: 75 cm. Musée du Louvre, Paris.

    Kore, ex-voto (Votivgabe) von Nicander,

    Heiligtum Delos, ca. 650 v.Chr., Marmor, H: 175 cm.

    Nationalmuseum für Archäologie von Athen, Athen.

    Kleobis und Beton, ex-voto, um 590-580 v.Chr.

    Marmor, H: 218 und 216 cm.

    Archäologisches Museum, Delphi.

    Kore 671, Akropolis,

    Athen, ca. 520 v.Chr. Marmor,

    H: 177 cm. Akropolis-Museum, Athen.

    Kore 593, Akropolis, Athen,

    ca. 560-550 v.Chr. Marmor,

    H: 99,5 cm. Akropolis-Museum, Athen.

    Kore 685, Akropolis, Athen,

    ca. 500-490 v.Chr. Marmor, H: 122 cm.

    Akropolis-Museum, Athen.

    Der mäßige Künstler ist der Übersetzer der allgemeinen Tendenzen seines Volkes. Wenn er zum ersten Mal seine und dessen mentale Bilder darstellt, dienen diese Kopien einem bedeutenden Zweck in der Entwicklung des Volkes. Wenn sein Volk aufrichtig ist und erfüllt von einer Suche nach Wahrheit, wird die Genauigkeit oder Ungenauigkeit dieser verkörperten mentalen Bilder durch unbewusste Vergleiche mit natürlichen Objekten überprüft werden, und dies resultiert in einer Angleichung der zuerst inkorrekten mentalen Bilder. Die neuen Ideen werden wiederum von späteren Künstlern ausgedrückt, und der Prozess der Angleichung wiederholt sich. Dies war der Fall bei den Griechen. Die Ära historischer griechischer Kunst war zwar kurz, aber dennoch lang genug, um es den Griechen zu ermöglichen, zu dem Punkt zu gelangen, an dem die mentalen Bilder der für die bildhauerische Darstellung geeigneten Objekte so fein sind, dass ihr Ausdruck mit dem Kopieren der Natur fast identisch ist.

    Die Entwicklung in Griechenland war derjenigen in Ägypten oder Assyrien diametral entgegengesetzt. Die frühesten Kunstwerke in diesen Ländern waren den rohen Versuchen der Griechen weit voraus. Ägyptische oder assyrische Bildhauerkunst späterer Zeiten kann nicht für sich beanspruchen, echter Ausdruck der Ideale dieser Völker zu sein. Während wir eine griechische Skulptur untersuchen und dabei etwas über die moralische und intellektuelle Haltung der Griechen in der Zeit ihrer Entstehung erfahren, können wir das nicht bei einem ägyptischen oder assyrischen Relief – zumindest nicht im gleichen Ausmaß. Dies trifft auch weitgehend auf die Bildhauerei in der Moderne zu. Dem modernen Künstler steht der gesamte Reichtum der Bildhauerei der Antike und der Renaissance zur Verfügung, und oft ist er gern bereit, sie zu kopieren oder ihre Formen anzupassen und dabei nur solche Veränderungen vorzunehmen, die der Geschmack seiner Zeit zwingend verlangt. Die amerikanische Bildhauerei zum Beispiel, so schön sie in einigen Phasen auch ist, zeigt ein schnelles und bemerkenswertes Wachstum an Kunstfertigkeit, es kann aber kaum von ihr behauptet werden, sie zeige die allmähliche Entwicklung der Ideale des Volkes.

    Bis jetzt wurde stillschweigend angenommen, dass das Können des Künstlers es ihm zu jedem beliebigen Zeitpunkt ermöglicht, seine mentalen Bilder genau darzustellen. Dies war jedoch bei den Griechen nicht immer der Fall. Ihre ungewöhnlich geistreiche mentale Entwicklung ließ die technischen Fertigkeiten der Künstler nicht Schritt halten, und bis in den Herbst ihrer Kunst blieben diese im Allgemeinen hinter den Idealen zurück. Sobald ein Darstellungsproblem gelöst war, schaffte die zunehmende Genauigkeit der mentalen Bilder ein weiteres; und als alle Probleme der begrenzten Anzahl zuerst dargestellter Themen ihre Lösung gefunden hatten, drängten neue Themen lautstark auf ihre Darstellung. Das Ende griechischer Bildhauerei war gekommen, als alle technischen Probleme gelöst waren und die geistige Degeneration des Volkes es unwillig machte, die moralischen und religiösen Ansichten einer neuen Ära anzunehmen.

    Unvollkommenheit oder Exzellenz im Können jedoch haben andere Einflüsse. Da mentale Bilder das unfreiwillige Ergebnis häufiger Konfrontation mit großen Objekten sind, werden sie sowohl von den zahlreichen Skulpturen von Menschen als auch von Menschen selbst beeinflusst. Dies trifft besonders auf die Zeit zu, in der die puritanische Nicht-Achtung des Körpers ein Klima geschaffen hatte, in dem es manchmal besonders schwer war, sich intelligente Vorstellungen vom menschlichen Körper zu machen, die nicht auf Bildern und Skulpturen beruhten. Die Derbheit einiger Akte in der modernen Kunst kann vielleicht damit erklärt werden, dass die Künstler sich verpflichtet fühlten, die bestmöglichen Modelle zu kopieren, anstatt ihre eigenen und verfeinerten mentalen Bilder durch Betrachtung idealer Körper zu schaffen. Der Effekt der Skulpturen auf die mentalen Bilder der Griechen war wahrscheinlich weniger stark als er es für uns ist, da die Griechen mit Nacktheit, sowohl männlicher wie weiblicher, vertrauter waren.

    Ein Künstler drückt daher zuallererst die Gedanken seines Volkes aus, und damit beeinflusst er sie zum Besseren oder Schlechteren. Der nächste Künstler, der aufbricht, die mentalen Bilder seiner Zeitgenossen darzustellen, findet sie nicht länger als primitives Produkt einer rauen Naturbetrachtung vor, sondern stattdessen als eine Kombination originaler Konzeptionen und neuer Ideen. Diese neuen Ideen rühren zum Teil von den Eindrücken aus der Arbeit des ersten Künstlers her, zum Teil kommen sie aus dem allgemeinen Wandel, der im Charakter des Volkes dank seines moralischen und intellektuellen Fortschritts stattgefunden hat. Die schnelle Entwicklung der griechischen Bildhauerei lässt sich nicht leugnen; das erste Ziel der Künstler aber scheint immer dasselbe gewesen zu sein - die klarsten mentalen Bilder der Zeit wahrhaft darzustellen.

    Kapitolinische Venus, römische Kopie nach einem

    griechischen Original von Praxiteles, ca. 3. Jh. v.Chr.

    Marmor, H: 193 cm. Musei Capitolini, Rom.

    Die Wirkung der griechischen Bildhauerei

    Selbst der unnachgiebigste Materialist räumt ein, dass eine Welt reiner knochentrockener Fakten überflüssig und uninteressant ist. Gedanken, die sich in der abendliche Ruhe entwickeln, sind real. Derartige Betrachtungen treffen auf die vertraute Umgebung ebenso zu wie auf einige seltene Augenblicke im Leben eines jeden. Unsere Freunde bedeuten uns mehr als das bloße Vergnügen, das die Betrachtung uns bringt. Tatsächlich betrachten wir diese nur selten genau. Ein Blick genügt, um uns ihrer Anwesenheit zu vergewissern, und danach wird unsere Freude fast ganz psychisch. Das, was für Freunde gilt, lässt sich auch genauso für weniger bekannte Personen und selbst für Fremde sagen. Sie zu sehen, bedeutet sehr viel mehr als einen Tisch oder Stuhl zu betrachten, denn letztere Objekte deuten in der Regel nicht über das hinaus, was wirklich gesehen wird. Keine aufmerksame Person kann ein Individuum wahrnehmen, ohne – in gewissem Maße – mit seiner Persönlichkeit in Kontakt zu treten.

    Deshalb ist ein Bild,

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