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Frieden auf vergangenen Wegen: Autobiografischer Roman
Frieden auf vergangenen Wegen: Autobiografischer Roman
Frieden auf vergangenen Wegen: Autobiografischer Roman
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Frieden auf vergangenen Wegen: Autobiografischer Roman

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About this ebook

Mora, eine spirituelle Frau mittleren Jahres auf der Suche nach Wegen aus einer tiefen Lebenskrise, mietet sich für unbestimmte Zeit in einer einfachen Hütte an einem Fluss ein und beginnt mit der Kamera Türen der Fotokunst zu öffnen.
In Fanni, einem kleinen Mädchen, trifft sie sich selbst und erlebt noch einmal, welch tragisches Schicksal ihr einst widerfuhr. Am Fluss begegnet ihr Michael, ein hochspiritueller Mann, den sie über viele Leben kannte und verloren glaubte.
Wie schon einst erweist er sich erneut als ihr geistiger Lehrer. Auf diesem Wege begleiten und beschützen sie gemeinsam die zerbrechliche Seele des Kindes, die durch ein langes Tal der Finsternis getrieben wird. Wie in einem Taifun wird ihr Leben von einer Seite zur anderen geschleudert, doch nur um sie als Kriegerin des Lichtes und der Liebe für ihre Lebensaufgabe zu stärken.
Mora, die ihre schamanischen Fähigkeiten auch in dieses Leben mitgebracht hat, fühlt sich auf besonders innige Weise zur großen Mutter Erde hingezogen und sieht die Heilung ihres geliebten Planeten nur über den Weg der Liebe.
LanguageDeutsch
Release dateSep 15, 2015
ISBN9783739259246
Frieden auf vergangenen Wegen: Autobiografischer Roman

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    Book preview

    Frieden auf vergangenen Wegen - Morgan Maiosi

    Befreiung

    1. Die Ankunft

    Hier musste sie der Beschreibung nach irgendwo sein. Das schwache Licht meiner Scheinwerfer schaffte es kaum, die Schwärze dieser Nacht zu durchbrechen, Mond und Sterne hielten sich hinter Wolken verborgen. Ich war am Rande eines Dorfes gelandet, nicht in einer Stadt, wo die Nächte in einer Scheinhelligkeit erstrahlten.

    Ich holperte einer Ungewissheit entgegen, die mich ängstigte. Diese Dunkelheit hier war echt. »Bio-Nächte« würden mich erwarten, versprach die Vermieterin, deren Hütte ich für unbestimmte Zeit gemietet hatte. Sie stünde direkt am Fluss, nach dem auch dieses Tal benannt wurde. Sein Rauschen und sein Geruch, dieser jedoch nur bei ungünstiger Witterung, würden mich das Ziel kaum verfehlen lassen, damit ergänzte sie die Wegbeschreibung. Das Rattern meines Gefährtes übertönte jedes Wasserrauschen, außerdem bezweifelte ich, dass der angedrohte Geruch gegen den des Auspuffes eine Chance gehabt hätte. Um ganz sicher zu gehen, stellte ich den Motor ab und hörte tatsächlich aus der Ferne dumpfes Wassergurgeln. Nach einer scheinbar endlosen Fahrt erreichte ich ruckelnd die Hütte am Fluss, dessen Ufer nun für einige Zeit mein Zuhause werden würde. Vergebens fingerte ich im Handschuhfach nach Streichhölzern, fand dann zum Glück ein Feuerzeug in meinem Rucksack.

    »Wir haben Oktober, die Tage und Nächte rücken dem Winter entgegen«, sagte die Besitzerin und dass ich selbst für Brennmaterial sorgen müsste, sie hätten nur für heute etwas neben den Ofen gelegt.

    Sollte das wirklich meine neue Adresse werden? In dieser Nacht zweifelte ich daran. Ich fühlte mich hundeelend und allein.

    »Den Schlüssel finden Sie unter der Regentonne. Wenn sie voll sein sollte, werden Sie Kraft brauchen, um sie anzuheben. Morgen früh komme ich vorbei, um Ihnen alles andere zu zeigen«, sagte die Vermieterin knapp. »Ein Bett steht unten, eines oben in der Kammer. Bettzeug sollten Sie dabei haben, ansonsten ist das Nötigste vorhanden. Strom haben wir seit einem Jahr, und sogar ein Bad mit Dusche und Klosett haben wir einbauen lassen.«

    Bevor sie sich für mich entschied, telefonierten wir einige Male, sie hatte meinerseits lange Bedenken. Ich war eine aus der Stadt, derzeit ohne eigenes Einkommen, getrennt lebend, gesundheitlich angeschlagen. Für eine katholische Gemeinde, wie die hiesige, eine riskante Mischung. Sicherheiten konnte ich ihr wahrlich nicht bieten. Zuletzt genügte jedoch die schriftliche Erklärung meines Mannes, für die Mietkosten aufzukommen. Ich schien tatsächlich ein Problem darzustellen, sogar wenn es um die Vermietung einer Holzhütte ging, die schon lange leer stand. Es war nicht die erste Bleibe, um die ich mich bemühte, es gab Gegenden, die mir besser gefielen, doch die geistige Führung sah meine Aufgabe wohl genau hier. Grund genug, sie anzunehmen.

    Zum Glück war die Regentonne nur wenig gefüllt, der Schlüssel, zusammen mit einigen Regenwürmern, schnell auszumachen. Meine Hand glitt über die wunde, nackte Erde. Ich war angekommen.

    Es gab noch eine Menge zu tun, bevor ich mich ausruhen durfte. Das Innere der Hütte war dank der funktionierenden Glühbirne, die ohne Lampenschirm armselig in einer Fassung baumelte, hell erleuchtet. Das Erdgeschoss bestand aus einem einzigen Raum, möbliert mit einem älteren Küchenbuffet, E-Herd, altem mächtigen Eichenesstisch und einem unpassenden, heruntergekommenen Campingklappstuhl davor. Über dem hellbraunen, geschnitzten Holzbett hing ein Bücherregal mit ein paar zurückgelassenen Werken über heimische Berge und Täler. Holzböden, Holzwände, Holzmöbel. In einer Ecke ein gusseiserner Ofen, die einzige Heizquelle für die Hütte. Das neu eingebaute Badezimmer wirkte wie ein Fremdkörper. Als läge eine glänzende Kachel zwischen Flechten, Moos, Fichten und Tannen. Über eine steile, schmale Stiege erreichte ich das obere Reich. Das zweite Bett stand unter der Dachschräge, an einer der Stirnseiten ein weißer Kleiderschrank, eine Holztruhe an der anderen.

    Die Seele der Hütte musste einiges an Leid erfahren haben, eine kalte grobe Energie durchzog die Räume, wie ich sie aus meinen Arbeiten mit Klienten kannte, die schwere Krankheiten mit sich herumschleppten, oder wie sie in Wohnungen zu fühlen war, in denen Gewalt geherrscht hatte. Überall, wo Liebe fehlte.

    Wer weiß, was hier geschehen war. Mir war mulmig zumute.

    Gerne wäre ich auf der Stelle von hier geflohen, doch nach langem Ringen siegte die Vernunft. Behutsam packte ich meine Reinigungsutensilien aus, zündete Holzkohle an, nahm eine Handvoll Kräuter und Harze und verteilte sie auf der Glut. Gierig sog ich den Rauch ein, er gab mir das Gefühl, einen Schutzmantel um mich zu haben. Ich öffnete Fenster und Türen, zündete Kerzen an und begann mit der heiligen Schwanenschwinge den Rauch in Ecken, unter Schränke und Betten zu verteilen. Hier hielt sich verborgen, was das Licht scheute. Leise stimmte ich die Melodie an, die auch meine Ahnen schon gesungen hatten, wenn sie gute Geister riefen. Erst danach war es möglich, mich auf die Nacht einzulassen.

    Der große Geist würde mich nicht ohne Grund in die Einfachheit entsandt haben.

    Die erste Nacht war durchzogen von Wachzeiten mit Grübeleien und Tiefschlafphasen, in denen ich mir als Kind begegnete. Das Bettzeug war klamm, die dreigeteilte Matratze hart. Ich sehnte den Morgen herbei.

    »Die Sonne muss erst über die Alm.« So lautete die Antwort der Vermieterin auf die Frage, wann es wohl hell werden würde. Warum stellte ich die Frage nach dem Sonnenaufgang überhaupt? Was taugte ich noch als Schamanin?

    Übernächtigt schlich ich die Treppe hinunter, um mir Kaffee zu kochen. Als ich einen Blick in den Spiegel warf, blickten zwei müde blaugraue Augen in einem zerknitterten, blassen Gesicht zurück. Dass ich erst einheizen musste, alles in der Hütte in Kälte erstarrt schien und nur darauf wartete, von mir erwärmt zu werden, ließ erahnen, was in den nächsten Monaten auf mich zukommen würde.

    »Es kann vorkommen, dass die Zufahrt zur Hütte unter Schneemassen begraben ist. Dann rufen Sie am besten an, mein Mann holt Sie mit dem Traktor ab.« »Und weiter?«, wollte ich fragen, tat es aber nicht. Es würde nicht dazu kommen, und wenn, würde ich mir schon einen Weg bahnen. Der Gedanke bei Fremden wohnen zu müssen, und sei es nur für einen Tag, ließ mich erschaudern. Ich war hier, weil ich es mit keinem mehr aushielt. Menschen wollte ich fürs Erste aus dem Weg gehen.

    Ich hatte den Vermietern bewusst verschwiegen, dass ich schamanisch ausgerichtet war und dass ich mich erst einmal selbst wieder finden musste.

    Nach mehreren dilettantischen Versuchen gelang es mir, Feuer im Ofen zu entfachen, das kräftig genug war, um es mit einem Holzscheit aufzunehmen. Als ich endlich im alten Campingstuhl saß, den ersten Schluck heißen Kaffee trank, wurde es draußen langsam hell. Ich wollte vorerst nicht darüber nachdenken, welche Anlässe mich hierhergeführt hatten. Es zog mich ins Freie. Erst wollte ich die große Mutter begrüßen, die mich hier aufnahm und die nächsten Schritte hier tragen würde. Dankbar wollte ich die vergangene Nacht verabschieden und den neuen Tag in mein Leben lassen. Nichts ist und war selbstverständlich. Blut pulsierte noch in meinen Adern, der große Geist gab mir nach wie vor seinen Herzschlag. Ich wollte nicht eines Tages zurückblicken und den Anfang des Weges noch erkennen.

    Das erste Dämmerlicht, Zeitenwechsel, eine neue Chance etwas zu lernen und zu verändern. Die Luft war kalt und klar, der Atem sichtbar. Ich lebte!

    Erste Lichtstrahlen trafen auf das Tal und ließen die Silhouette des mächtigen breiten Bergrückens erkennen. Auf dem Fluss tanzten leuchtende Sterne. Träge und nachtschwer zog das Wasser an mir vorüber. Bald würde ich Kontakt mit seinem Geist aufnehmen und ihn bitten mich zu lehren. Die Sonne hatte sich über den höchsten Punkt des Berges geschoben und leuchtete nun auf ein großes Maisfeld, das direkt vor mir lag. In den ersten, bereits abgeernteten Reihen zogen sich Reifenspuren bis hierher. Ich war heute Nacht tatsächlich vom Weg abgekommen.

    Endlich konnte ich deutlicher wahrnehmen, was mich umgab. Zwei Höhenzüge bildeten den Saum des breiten Tales, nach Süden hin ragten in der Ferne schroffe, graue Felsen in den Himmel und in nördlicher Richtung erhoben sich sanft ansteigende grüne Almen. Am Flussufer waltete die Natur. Ein Dickicht aus Haselbüschen, dünnstämmigen Silberweiden, Erlen, Efeuranken, herbstdürre Waldreben und hohes Sumpfgras waren ineinander verwoben und verheddert. Schon jetzt wünschte ich mir, dass dies so bliebe und nicht eines Tages einer menscherdachten Ordnung zum Opfer fiele.

    Ein Geländewagen rollte auf das Grundstück. Ich eilte zurück. Eine kleine, zierliche Frau schwang sich aus der Fahrerseite und hinkte mir entgegen. Ihr rechtes Bein war deutlich kürzer. »Frau Urben?«, fragte ich. Sie streckte mir energisch die Hand entgegen, ihr kräftiger Händedruck wirkte ehrlich.

    »Wie war die erste Nacht?«

    »Ich werde mich eingewöhnen müssen«, antwortete ich unsicher.

    Dann humpelte sie vor und gab mir Zeichen, ihr zu folgen. Nebenbei deutete sie auf den Maisacker. »Der wird morgen geerntet, wir sind dieses Jahr im Verzug. Haben Sie schon einmal Maiskolben gesehen?«

    Ich nickte.

    Dann zeigte sie mir die Klärgrube und wies auf eine Markierung. »Wenn die Suppe hier angekommen ist, müssten Sie jemand bestellen, um sie zu leeren«, sagte sie salopp. Dann überreichte sie mir den Mietvertrag und eine Liste mit Adressen und Telefonnummern von Firmen und Ärzten aus der Umgebung. »Vielleicht brauchen Sie mal was. Meine Nummer haben Sie ja. Dann wünsche ich Ihnen eine gute Zeit. Haben Sie noch Fragen?«

    »Nein, vorerst nicht.«

    Bevor sie sich in ihren Wagen hievte, drehte sie sich noch mal zu mir um und deutete mit der Hand in nördliche Richtung.

    »Ich habe viele Pfauen. Wenn es Regen gibt, dann schreien sie besonders laut. Sollte Sie nicht erschrecken. Haben Sie schon Pfauen gesehen?«

    »Ja, und auch schon gehört. Machen Sie sich keine Gedanken. Danke für den Hinweis«, rief ich ihr zu.

    Sie grinste, startete ihren Wagen und knatterte davon. Ich wünschte mir, dass sie meine Unsicherheit nicht bemerkt hatte.

    Willkommen fühlte ich mich nicht. Die bestimmende, herrische Art dieser Frau prallte auf mein derzeitiges desolates Nervenkostüm. Sie strahlte Stärke aus, die mir früher ebenfalls nachgesagt und oft zum Verhängnis wurde. Im Laufe meines Lebens lernte ich viele Menschen kennen, die mit ihrer Schwäche bewusst kokettierten. Meist merkte ich dies zu spät, meine Hilfe war da längst zur Selbstverständlichkeit geworden.

    »Du bist so stark, ich wäre gerne wie du. Du bist mutig und gehst deinen Weg.« Eingebrannte Worte bis in alle Ewigkeit. Stärke und Mut folgten Neid und Einsamkeit. Gedanken, die mich quälten und sich nur mühsam abschütteln ließen, besonders an diesem Morgen. Doch die Schritte auf dem Weg am Fluss entlang, das Rascheln des Herbstlaubes, hie und da leiser Vogelgesang und das stetige Plätschern des Wassers erreichten, dass langsam Ruhe in mein aufgewühltes Dasein einkehrte. Unsere Erdenmutter berührte mich mit ihrer Zartheit und Stille.

    Wie sehr sehnte ich mich nach Sicherheit und Verlässlichkeit.

    Behutsam nahm ich das herbstbunte Ahornblatt auf, das gerade vor mir auf die Erde schwebte und hielt es der Sonne entgegen. Mein Blick fiel auf das feine Adergeflecht, durch das noch vor wenigen Augenblicken der Saft des Lebens strömte. Das weiche, goldbraune Licht der Herbstsonne kappte die scharfen Spitzen meiner Gedanken. Augenblicke des Friedens, wie ich sie nur in der Natur finden konnte. Mit dem Blatt in der Hand schlenderte ich noch eine Weile neben dem Fluss in südlicher Richtung, bis ich an eine Brücke kam, über die eine asphaltierte Straße verlief und sich als erste Möglichkeit anbot, ans andere Ufer zu gelangen. Der Wanderpfad setzte sich auch hinter der Straße fort, eines Tages würde ich auf ihm weitergehen. Es war mittlerweile fast Mittag geworden. Auf dem Rückweg sammelte ich für die abendliche Ofenwärme ein paar dürre Zweige und kleinere Äste, noch wusste ich nicht, wie ich so über den Winter kommen würde. »Es gibt am Stadtrand eine Fabrik, die Pellets und Pressholzbriketts vertreibt und auch anliefert. Dann müssten Sie kein Holz mehr sammeln und hätten für den Winter ausgesorgt, zumindest für einen«, sagte Eva Urben am Telefon, nachdem ich sie wegen des Brennmaterials anrief. Sie nannte Namen und Telefonnummer, konnte mir jedoch keinen Preis nennen. Mein Budget war begrenzt, jedes Stück Brot, das ich mir kaufte, schmälerte meine Ersparnisse, von denen ich derzeit lebte. Immer wieder drängten sich Existenzängste vor, ich konnte mir nicht vorstellen, wie, womit und wann ich jemals wieder Geld verdienen würde. Zu viel war in der Vergangenheit geschehen, die Hoffnung sank mit jedem Tag, dass ich die nächste Zeit wieder zu Kräften kam. Das Vertrauen in meine Stärke und mein Können war auf eine harte Probe gestellt. Ob ich es noch einmal schaffte, mich aus dem tiefen Graben zu ziehen, war ungewiss.

    Das Feuer im Ofen war erloschen, die herbstliche Kühle in der Hütte ließ mir keine Wahl. Am nächsten Vormittag fuhr ich auf den großen Hof der Papierfabrik, die aus Bäumen auch Heizmaterial herstellte. In der Hauptsache jedoch Kartonagen und Produkte aus Zellstoff, das mir ein freundlicher Mann während eines Rundganges erzählte. Er führte mich durch eine riesige Halle, in der es nach Schwefelwasserstoff roch. »Sie sind fremd hier?«, fragte er mich unverblümt, als wir die Besichtigung im Inneren beendet hatten und quer über den Hof marschierten, um sie außen fortzusetzen. Dabei deutete er auf mein Auto, das als Einziges auf dem Besucherparkplatz stand.

    »Ja, ich bin gestern angekommen.«

    »Wo wohnen Sie, wohin sollen wir liefern … sollte es zu einer Lieferung kommen?« Der Anblick der gigantischen Menge an toten Bäumen, die hinter der Fabrik darauf warteten, zu Kartons, Küchenrollen oder Taschentüchern verarbeitet zu werden, bestürzte mich. Ich fühlte mich mitverantwortlich für den Schmerz der großen Mutter. Nun stand ich hier und versuchte einen guten Preis dafür herauszuschlagen. Ich schämte mich und spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Irritiert fragte der Mann nach meinem Befinden, doch es wäre sinnlos gewesen, ihm meine Traurigkeit zu erklären.

    »Holzstaub«, sagte ich und wischte mir die Augen trocken.

    »Ja, das kenne ich«, erwiderte er und reichte mir zwei Pakete Papiertaschentücher, die er triumphierend aus den Hosentaschen zog. »Kosten mich nichts, dürfen wir vom Band nehmen«, sagte er augenzwinkernd.

    Unverrichteter Dinge fuhr ich zurück. Mittlerweile wusste ich auch, dass die Fabrik für den Geruch des Flusses zuständig war.

    Noch lagen genügend herabgefallene Äste unter den Bäumen, ich könnte nehmen, was ich brauchte, denn das Land rundherum gehöre ihr, sagte Eva Urben bei ihrem gestrigen Besuch. Dabei deutete sie mit ihrem Zeigefinger stolz in jede Himmelsrichtung. Gerne würde ich ihr irgendwann meine Philosophie näherbringen, dass nicht wir die Erde besitzen, sondern sie uns ermöglicht, unsere Lektionen zu absolvieren.

    Ich hatte keine Wahl und musste das Angebot annehmen, ihren Besitz zu verheizen, damit ich nicht fror. Zudem würde ich damit Kosten sparen.

    Ich bat die große Mutter, mir von ihrem Holz zu schenken. Als Gegenleistung streute ich Kräuter, Mais oder Tabak auf die Erde.

    Schon am Nachmittag begann ich damit, es heranzuschaffen und im kleinen Schuppen hinter der Hütte aufzustapeln. Drei Tage widmete ich allein dieser Tätigkeit. Im Gegensatz dazu verringerten sich meine mitgebrachten Vorräte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als in einem der zwei Läden im Ort das Nötigste einzukaufen. Ich war menschenscheu geworden, außerdem hatte es sich herumgesprochen, dass jemand Fremdes in die Hütte eingezogen war.

    »Kümmern Sie sich nicht um das Geschwätz der Leute hier, alles was neu ist, wird von oben bis unten beäugt. Sie werden sich schnell an Sie gewöhnt haben. Sind halt einfache Menschen, die von schwerer Arbeit leben. Mit mir haben sich die meisten auch arrangiert. Alle kriegt man nie auf seine Seite.«

    Dies waren Sätze, die Eva Urben beiläufig aussprach.

    2. Die erste Begegnung

    Es gab zwei Wege zum Zielort. Der eine führte mitten durch die Siedlung, ein anderer direkt über das Gehöft von Eva Urben. »Ich würde an Ihrer Stelle anfangs den Weg durch das Krähenwäldchen wählen. Er ist zwar weiter, wird Ihnen aber besser gefallen.« So ihr zusätzlicher Tipp.

    Zeitig machte ich mich auf den Weg. Nebelschwaden zogen auf den abgeernteten Feldern wie Schleier durch mich hindurch. Ich überquerte den gepflasterten Hof des Anwesens, ging vorbei an den Bäumen, auf den die Pfauen wie Spatzen saßen und herunterglotzten. Es roch nach Kühen, die gerade aus dem Stall auf die Weide getrieben wurden. Ein kleiner, schmaler, glatzköpfiger Mann mit gerötetem Gesicht lief um die Herde herum und klatschte den Tieren vereinzelt auf Hals oder Schenkel, um sie auf dem Pfad zu halten. Dabei bereitete ihm »Walli«, eine selbstbewusste, temperamentvolle Kuh, die größte Mühe. Wir winkten uns zu, als wären wir uns vertraut. Eine Geste, die mir guttat. Er schien zu wissen, wohin ich wollte, wies mit einer weiteren Handbewegung die Richtung ins Dorf. Bevor ich in den Wald einbiegen konnte, hatte ich ein paar Meter auf einer Bundesstraße zurückzulegen. Die Autos fuhren mit rasanter Geschwindigkeit dicht an mir vorbei, kaum jemand hielt es für nötig auszuweichen. Fußgänger und Radfahrer waren bei der Errichtung der Straße scheinbar nicht bedacht worden. Endlich konnte ich in das Stück Wald fliehen, das die Menschen hier seit ewigen Zeiten Krähenwald nannten, da unzählige Kolonien von diesen Vögeln hier brüteten und dem Ort bis heute treu blieben. Die alteingesessenen Bewohner des Dorfes lebten mit dem Lärm der schwarzen Vögel und auch in dem Augenblick, als ich in den Wald eintrat, herrschte aufgeregtes Gekrächze. Fasziniert blickte ich nach oben in das Geäst der Laubbäume, wo sich unzählige turmartige Nester in den Astgabeln befanden. Bedächtig schritt ich den verschlungenen Pfad entlang. Fichten teilten sich den Platz mit Lärchen und Kiefern, dazwischen ragten Buchen und Birken gegen den Himmel. Das bunte Herbstlaub bedeckte kleine moosbewachsene Hügel, dazwischen ragten grünes Farnkraut, Heidelbeersträucher, Walderdbeerkraut hervor und ließen diesen Ort märchenhaft erscheinen. Dass es hier Elfen und Zwerge gab, daran zweifelte ich nicht. Immer wieder strich ich über das weiche Moos, hob Baumfrüchte auf, um sie zu bestaunen. Sie lagen wie Schätze auf dem Waldboden verstreut. Ich atmete den Duft der Erde tief in meine Lungen. In diesem Moment hatte mich die große Mutter zu sich eingelassen, ich fühlte die Erlaubnis, Teil der Natur und des Waldes zu werden. In großer Dankbarkeit setzte ich meinen Weg fort, als ich ganz aus der Nähe Geräusche von knackenden Zweigen und raschelndem Laub hörte, dazu flüsterte eine Kinderstimme Worte, die ich nicht verstand. Regungslos harrte ich einige Minuten auf der Stelle, dann schob ich vorsichtig einen Zweig zur Seite und lugte in die Richtung, aus der das Stimmchen kam. Ein Mädchen, kaum älter als drei oder vier Jahre, hockte auf dem Boden zwischen Flechten und Reisig, daneben stapelten sich bunte Laubblätter und kleine dünne Zweige, fein säuberlich aneinandergereiht. Konzentriert baute sie mit Blättern und Hölzchen winzige Häuschen. Vorsichtig nahm sie mit ihren kleinen Fingern einen Käfer vom Boden auf, hielt ihn an den Mund, flüsterte ihm was zu und legte ihn unter das Blätterdach. Sie hatte mich nicht bemerkt und schien alles um sich herum zu vergessen. Noch stand ich versteckt hinter einem Baum und beobachtete jede Bewegung dieses Kindes, bis ein schriller Schrei diesen Zauber zerstörte. »Fanni«, brüllte eine Frau aus der Ferne. Das Kind ließ alles aus den Händen fallen und eilte mit kurzen schnellen Schritten aus dem Wald in die Richtung, die auch meine war. Doch zuvor betrachtete ich die Laubgebilde näher. Vier an der Zahl reihten sich aneinander – wie Reihenhäuschen, ausgekleidet mit Moos und trockenem Gras. Es schien öfter hierherzukommen und ich hoffte, den Platz mit meiner Neugier nicht entweiht zu haben.

    Etwas Seltsames ging in mir vor. Ein intensives Gefühl der Verbundenheit und des Berührtseins hielt mich hier fest. Wer war dieses Kind, das für Käfer Häuser aus Blätter und Zweigen baute und mit ihnen sprach? Ich hoffte sehr, ihm noch öfter in diesem Wald zu begegnen.

    Mit realen Kindern hatte ich in meinem Leben nur wenig Erfahrung, umso mehr mit den inneren Kindern Erwachsener.

    Vielleicht würde ich im Laufe der Zeit herausfinden, was dieses Mädchen so besonders erscheinen ließ.

    Der Pfad endete am Waldesrand und führte mich auf eine schmale Straße. Auf der einen Seite reihte sich Haus an Haus, dahinter führte eine weitere Straße durch den alten Dorfkern.

    Noch hatte ich die Worte Frau Urbens im Ohr: »Wenn Sie aus dem Wald sind, gehen Sie rechts bis zur Bundesstraße, an der Ecke sehen Sie eine Tankstelle, das erste Geschäft liegt versetzt dahinter. Wenn Ihnen jemand dumm kommt, grüßen Sie ihn herzlich von mir.« Sie schien sich für mich verantwortlich zu fühlen.

    Nach weiteren zehn Minuten stand ich vor dem Laden, eine Menge Leute gingen ein und aus, keiner schien von mir Notiz zu nehmen. Den Rucksack bis zum Rand mit unverbindlichen Dingen wie Mehl und Nudeln, Kartoffeln und Brot gefüllt, verließ ich das Geschäft.

    »Eine gute Zeit hier im Ort. Wenn Sie was brauchen sollten …«, rief der Ladenbesitzer mir freundlich hinterher. Es klang ehrlich, aber ich glaubte den Menschen nicht mehr. Gut gemeinte Vorschläge oder Hilfsangebote verstand ich schnell als Einmischung oder als Unterstellung, mir nichts zuzutrauen.

    Kurz bevor ich wieder im Wald verschwand, winkte mir eine Frau zu, die die Dorfstraße entlanggeradelt kam. Sie trug eine grün-blau karierte Kittelschürze, die sie hochgerafft mit der Hand festhielt, und mühte sich ab, das Fahrrad geradeaus zu steuern. »Warten Sie«, rief sie von Weitem. Schmunzelnd wartete ich. Auch der Abstieg schien eine Hürde darzustellen, sie ließ den Zipfel ihrer Schürze los und hüpfte noch während der Fahrt vom Sattel. Die letzten Meter strauchelte sie mir entgegen, besorgt lief ich ihr entgegen und fing sie mit den Händen auf.

    »Sie dürfen nicht denken, dass ich alles so schlecht kann wie Radfahren.« Eine Frau um die sechzig, das schlohweiße Haar als geflochtenen Kranz um den Kopf gewunden, lachte mir entgegen. »Mein Otto hatte die Schnapsidee, mir in meinem Alter das Radfahren beizubringen. Als Kind hatte ich nicht die Gelegenheit. Nun übe ich schon seit Wochen und dies war meine erste größere Fahrt, auch nur weil ich Sie kommen gesehen hab.« Sie drehte sich um und deutete auf ein fahlgelbes Haus, etwa zweihundert Meter von hier. »Da wohnen wir: Otto, Hilde und ich. Hilde ist unsere Ziege und verwöhnt wie ein Einzelkind. Ach ja, und ich heiß Martha. So nennen sie mich alle hier. Wir waren die ersten, die hier bauten, da gab es diese Straße noch nicht. Von meinem Schlafzimmer kann ich Ihre Hütte sehen, seit ein paar Tagen stieg Rauch aus dem Kamin. Und nun kam meine Nachbarin angerannt und erzählte, dass Sie bei Buggelmeier einkaufen waren. Da ich Sie nicht verpassen wollte, blieb mir keine Wahl als das hier«, und zeigte auf das Fahrrad. Wir lachten beide. »Bei Eva Urben sind Sie gut aufgehoben, wir verstehen uns gut.« Marthas direkte Art gefiel mir. Sie glich einer Hünin, ich schätzte sie auf eins achtzig. Sie redete und gestikulierte, ich beobachtete und lauschte den stillen Worten zwischen den lauten Sätzen.

    »Wie lange wollen Sie bleiben?«, fragte sie direkt.

    »Ich bin erst vor fünf Tagen gekommen. Ein paar mehr sollen es schon noch werden.«

    »Woher kommen Sie?«

    »Hamburg.«

    »Und dann hierher?«

    »Ja.«

    »Erzählen Sie mir von der Stadt? Früher wollte ich gerne mal nach Hamburg. Otto sagte, dass es da nur die Reeperbahn gäbe, und was ich da wollte. Jetzt bin ich zu alt für so etwas, man gibt sich mit der Neugier zufrieden.«

    »Langsam muss ich«, sagte ich, »der Rucksack zieht schon mächtig. Bitte entschuldigen Sie.«

    Sie bot mir an, ihn auf das Rad zu laden, der Weg zur Hütte wäre über die Straße durchs Dorf eh viel kürzer, aber ich lehnte ab. Ich erklärte, wie gerne ich zu Fuß ging und heute den Weg durch den Wald bevorzugte.

    »Otto und Hilde werden auch schon warten. Geben Sie mir noch einen Schups?«

    Sie faltete wieder ihren Schürzenzipfel, klemmte ihn zwischen Hand und Lenker und schwang sich auf das Gefährt. Ich stieß sie ab.

    Während sie sich bemühte, nicht von der Straße abzukommen, rief sie laut: »Ich hab Sie nicht einmal nach Ihrem Namen gefragt.«

    Auf dem Heimweg dachte ich über die Begegnung mit Martha nach. Als ich am Spielplatz des Mädchens vorbeikam, spürte ich, dass alles seine Richtigkeit hatte.

    Jeder Mensch, der mir hier begegnete, jeder Weg, den meine Füße betraten, jeder Baum, dessen Rinde ich berührte, jede Blume, die hierhergesandt war, um zu blühen, würde mir helfen, mich zu finden.

    Die Pfauen hatten ihren Schlafplatz auf dem Baum inzwischen verlassen und stolzierten auf dem Hofgelände umher. Sie schienen keine Angst zu haben, als spürten sie, dass man sie in Ruhe ließ, denn sie waren Eva Urbens ganzer Stolz.

    Obwohl mir das Feuermachen inzwischen besser von der Hand ging, konnte ich meiner einfachen Behausung nichts abgewinnen. Ich träumte davon, in einer Luxuswohnung zu leben und der Sicherheit, mir das dauerhaft leisten zu können.

    Ich verurteilte mich für diese Wünsche und fühlte mich einer Schamanin nicht würdig. Ständig schwankte ich zwischen müssen und wollen, Erlaubnis und Verbot. Was mir wahrhaftigen, ersehnten, inneren Frieden verschaffte, wusste ich nicht. Ich war hier, um es herauszufinden. Es war kaum Zeit vergangen, als ich im Wald Zuversicht spürte, genau an der Stelle, wo das Kind in seinem Spiel versunken war. Wohin war dieses Gefühl geflohen?

    Ich sah mich in der Hütte um … Wie tief war ich gefallen? Wenn innerer Reichtum äußeren nach sich zog, hatte das hier nichts mit alldem zu tun. Sah es so in meinem Seelentempel aus? Ein Klappstuhl vor einem zerkratzten Eichentisch. Es gab in meinem Leben schon bessere Zeiten. Allen guten Ratschlägen zum Trotz blickte ich mehr nach hinten als nach vorne und trauerte dem Verlorenen hinterher. Ich hatte eine Schwäche für schöne, edle Dinge, ließ es mich was kosten, wenn es von guter Qualität war und ausgefallen genug. Mein Leben bestand aus Aufbau, Mühsal und plötzlichen Verlusten. Auch dieses Mal hatte mich das Schicksal von hinten überfallen und mir keine Chance zu handeln gelassen. Meine Lebensphilosophie, hinter allem einen höheren Sinn zu finden, geriet ins Wanken. Mit diesen Gedanken schlief ich ein.

    Die Nacht war kalt, kälter als die Nächte davor, ich fürchtete den Winter. Was, wenn die Kräfte nicht mehr reichten?

    Es dauerte immer länger, bis es die Sonne über den Berg schaffte. Die Tage waren kurz, das Licht spärlich, auf den Bergkämmen leuchtete es schon länger weiß, doch an diesem Morgen war die Schneegrenze deutlich gesunken.

    Frau Urben kam früh, der Raum kaum geheizt, ich bot ihr den Campingstuhl an und lud sie auf eine Tasse Tee ein. Sie schüttelte sich, tränke Tee, nur wenn sie krank wäre, und schon gar nicht ungesüßt. Ob ich nicht wenigstens Instantkaffee hätte. Sie strahlte, als ich ihr einen dampfenden Becher voll davon reichte. Ich blieb am Türrahmen angelehnt stehen.

    »Schon verdammt kalt. Der Ofen bringt´s wohl auch nicht mehr so richtig. Müssen uns was überlegen. Sie sollen ja nicht erfrieren«, sagte sie und hielt sich am heißen Becher fest. »Haben Sie schon Bekanntschaft mit Leuten im Dorf gemacht?«

    »Nur mit Martha. Martha …«

    »Ach, die gute Martha, das hätte ich mir denken können. Bauer heißt sie mit Nachnamen. Martha ist in Ordnung. Und unser Mädchen für alles, Herr Sterner erzählte, er habe sie über den Hof laufen sehen, als er die Kühe auf die Weide trieb. Er lebt mit Frau und Tochter im dunkelbraunen Holzhaus, sie sind direkt daran vorbeigegangen. Frau Sterner hat sich auf Fuchsien spezialisiert, im Sommer stehen überall Kübel herum, mit den tollsten Sorten. Sie werden sehen, so verkehrt sind die Leute hier nicht.«

    »Daran zweifle ich nicht.«

    Sie raffte sich auf, brachte den Becher zur Spüle, blickte kurz aus dem Fenster.

    »Bald wird Schnee in den Fluss fallen«, sagte sie melancholisch. Dabei tätschelte sie den Oberschenkel ihres kurzen Beines. »Mein Barometer.«

    Bevor sie ging, sah sie sich in der Hütte um. »Brauchen Sie Äpfel für den Winter?«

    »Aus eigenem Bestand?«, erkundigte ich mich.

    »Die Bäume hinter dem abgeernteten Maisfeld gehören alle zum Gut. Es sind noch alte Apfel- und Birnensorten. Hinter meinem Haus steht noch ein Maulbeerbaum. Haben Sie schon mal Maulbeeren gegessen? Wir lassen die Bäume wachsen, wie sie wollen, manchmal tragen sie viel, manchmal wenig. Dieses Jahr war gut was dran.«

    »Ja, ich kenne Maulbeeren. Ob Sie’s glauben oder nicht, sogar am Hamburger Hafen stehen Maulbeerbäume. Aber ich kenne sie auch aus meiner Kindheit.«

    »Sollte ich mich in Ihnen geirrt haben?«, fragte sie und humpelte zur Tür hinaus.

    »Morgen bringe ich Ihnen ein paar vernünftige Stühle vorbei.«

    Eva Urben gab sich Mühe, nach und nach bekam ich zwei stabile Holzstühle, einen Heizradiator und eine neue Matratze.

    Es war Anfang Dezember. Das Land lag unter einer dünnen Schneeschicht. Mein Radius hatte sich nicht nennenswert erweitert. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, ging ich zu Buggelmeier, ansonsten begnügte ich mich mit dem Weg am Wasser. Der Fluss war mir längst ein Freund geworden, oft stand ich am Ufer und lauschte. Die Menschen waren in Vorweihnachtsstimmung. In den Fenstern leuchtete es in allen Farben, in manchen Vorgärten hingen bereits Lichterketten. Fanni ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Wenn ich durch den Wald stapfte, schielte ich an die Stelle, wo ich sie spielen sah, und hoffte, sie bald wiederzusehen. Gerne hätte ich Näheres über sie erfahren.

    An diesem Morgen sollte der Weg mich direkt durch die Siedlung führen, ich fühlte, dass es an der Zeit war, mich den Menschen hier zu zeigen. Bis zu den ersten Häusern gab es keinen öffentlichen Weg, ich stolperte über das abgeerntete Maisfeld und überquerte die Wiese mit den alten Obstbäumen der Urbens. Immer wieder rutschte ich auf gefrorenen Äpfeln aus, die zu spät vom Baum gefallen waren.

    Die Kälte hielt die meisten Menschen in den warmen Stuben. Bald erreichte ich Marthas Haus, die Ziege stand im Garten und nagte an der Rinde eines Astes, den man ihr hingelegt hatte. Außer einem rötlichen Bärtchen war sie fast weiß, alles an ihr schien gepflegt, ihr Fell gekämmt, die Hörner poliert. Ich sprach sie an und erreichte, dass sie an den Zaun gestakst kam. Während ich ihren Kopf kraulte, klopfte es an der Scheibe. Martha gestikulierte, ich solle warten. Die Kittelschürze über dem Arm, kam sie aus dem Haus geeilt. »Ich freu mich Sie wiederzusehen. Oft hab ich an Sie gedacht. Es ist bald Weihnachten, haben Sie schon einen Baum in Aussicht? Otto hat seine Quellen, wenn Sie wollen, sag ich ihm Bescheid.«

    »Das ist wirklich sehr nett, aber ich mache mir nicht so viel aus Weihnachten.«

    »Wie, Sie machen sich nicht so viel aus Weihnachten, sind Sie keine Christin? Glauben Sie nicht an die Geburt Jesu?«

    »Oh, doch.«

    Martha merkte, dass sie zu weit ging, und lenkte ein. »Hilde geht nicht zu jedem, von Ihnen will sie gar nicht mehr weg.«

    »Ich liebe Tiere.«

    »Dabei wollte ich Sie gerade zum Kaffee einladen. Ich habe jetzt schon so viele Kekse gebacken, aber wenn Sie Weihnachten nicht mögen …« Sie wirkte enttäuscht.

    Es war ein kritischer Moment, ich wehrte mich, in die alte Fahrrinne zu gelangen und mich fremdbestimmen zu lassen.

    »Danke. Wir haben noch so viel Zeit. Es ist ja noch nicht mal Nikolaus.«

    Martha senkt ihren Kopf, sie stand vor mir, wie ein Schulkind, das sich schämt.

    Sie schlüpfte in ihre Kittelschürze und murmelte: »Ihren Namen weiß ich immer noch nicht.«

    »Ich heiße Mora.«

    »Martha – Mora, klingt irgendwie ähnlich«, fand sie und grinste breit.

    »Ist Mora eine Abkürzung?«

    »Nein.«

    Mora war mein schamanischer Name, doch ihr davon zu erzählen, erschien mir zu früh.

    »Sie gehen heut das erste Mal durchs Dorf? Dann sehen wir uns in Zukunft öfter?«

    »Möglich.

    »Morgen ist Nikolaus. Passen Sie auf, es könnte am Abend laut werden. Verriegeln Sie

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