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Verflucht anders
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Verflucht anders

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About this ebook

Romy Woolf ist ein ganz normales 16-jähriges Mädchen. Sie lebt mit ihren Eltern in Toronto, Kanada. Eines Tages wird sie von einem mysteriösen jungen Mann, Derek, beobachtet und entführt. Damit ändert sich für sie alles. Plötzlich findet sie sich in der Welt der griechischen Götter wieder, die von Mächten des Bösen bedroht wird. Romy erfährt, dass sie als Herrscherin über das Reich der Halbwesen erwählt wurde und gerät in den Strudel der Ereignisse. Auch ihre Freunde aus der realen Welt werden in den Kampf zwischen Gut und Böse hinein gezogen. Um sie zu retten und ihr Reich zu schützen begibt sich Romy zusammen mit Derek, in den sie sich heimlich verliebt hat, der Demeter-Tochter Isabell und dem Hades-Sohn Daniel auf eine gefahrvolle Reise. Schließlich decken sie einen perfiden Plan auf und ihnen wird klar, wer wirklich hinter den Angriffen steckt.
LanguageDeutsch
Release dateAug 3, 2015
ISBN9783739292854
Verflucht anders
Author

Teresa Lexhaller

Teresa Lexhaller ist 16 Jahre alt und wohnt mit ihren Eltern, ihrer Zwillingsschwester Sophie und ihrer kleinen Schwester Marie in der Nähe von München. Sie hat mit zwölf Jahren mit dem Schreiben angefangen und nutzt seither jede freie Minute dafür. Vor kurzem hat sie die Schule mit der mittleren Reife abgeschlossen und besucht ab September den Sozialzweig der FOS, um dort ihr Abitur zu machen.

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    Book preview

    Verflucht anders - Teresa Lexhaller

    hernieder!«

    Kapitel 1

    »Weißt du schon das Neueste?«, meine sensationsgierige beste Freundin Stacy oder auch Black S genannt kam den Gang der St. Edward Highschool auf mich zugerannt. Stacy konnte man ungefähr so viel trauen wie Krankenschwestern in irgendwelchen dämlichen Sitcoms, nämlich gar nicht. Sie liebte es im Mittelpunkt zu stehen. Das konnte sie am besten, wenn sie den neusten Klatsch erzählte. Nur ich konnte ihr vertrauen, denn ich war nun mal die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Black S wurde sie wegen ihrer Kleidung genannt. Wie man sich also schon denken kann, trug sie nur schwarz. Sie war zwar kein Goth oder Emo, aber sie fand, dass Schwarz die einzige Farbe war, die ihr stand. Was natürlich totaler Schwachsinn war, aber da konnte ich sagen, was ich wollte. Sie hatte auch jeden Tag dieselbe Frisur, wobei ich ihre geflochtenen Zöpfchen wirklich süß fand, obwohl ihre blonden Haare dadurch ziemlich dunkel wirkten. Jetzt packte meine beste Freundin mich an den Schultern und hüpfte auf und ab wie ein verrücktes Hündchen.

    »Was ist denn los?«, fragte ich, obwohl man Stacy nicht überschätzen sollte. Sie führte sich wegen jeder Kleinigkeit so auf. Wahrscheinlich hatte Francesca, die Schulschlampe, mal wieder einen Neuen. Ich verstand ja nicht, warum ihr alle Jungs hinterher liefen. Immerhin war sie inzwischen so abgegriffen wie ein uraltes Telefonbuch und man sollte meinen, dass die Jungs wussten, dass sie für Francesca nur einen Zeitvertreib darstellten. Außerdem war sie nicht einmal besonders hübsch. Ihre gefärbten, blonden Haare waren trocken und an den Spitzen total kaputt. Sie hatte einst eine wirklich hübsche Figur gehabt, bis sie sich gedacht hatte, dass Essen etwas ganz Fürchterliches sei und einfach damit aufgehört hatte. Stattdessen kippte sie einen Diätshake nach dem anderen in sich hinein, obwohl jedes Kind weiß, dass sie Unmengen von Zucker enthalten. Auf jeden Fall war sie inzwischen nicht nur ausgesprochen schlank, sondern schon fast krankhaft dünn. Wahrscheinlich lag es an ihrer Ausstrahlung und an ihrer Mainstream-Kleidung, dass die Jungs bei ihr Schlange standen: Schuhe von Nike, Leggings von Zara, gaaaaaanz enges Top von Abercrombie, Push-up BH von Triumph und nicht zu vergessen die riesigen goldenen Ketten von H&M, die jeden Tag ihren trotz der Schlankheit beachtlichen Ausschnitt zierten.

    »Francesca ist mit Josh zusammen!«, sprudelte es aus Stacy heraus, während sie mich erwartungsvoll ansah. Yeah, hatte ich mal wieder richtig geraten!

    »Welchem Josh?«

    »Der eine Stufe über uns. Der große, blonde …«

    »Also nicht Josh, der erste, oder Josh, der zweite?« Wir gaben den Jungs, mit denen sie zusammen war, inzwischen Nummern, wenn sie denselben Namen trugen. Irgendwann hatte Stacy es sich zum Hobby gemacht Liste zu führen.

    »Nein«, lachte sie jetzt, »ein neuer Josh.«

    Wir hatten inzwischen die Mensa erreicht und steuerten unseren Stammplatz an, an dem sich schon ein paar Jungs aus der Clique niedergelassen hatten. Es fehlten genau zwei: Liam und Brian. Also begrüßten uns Harry, Jace, John, Nail, James, Georg und Zac. Ich war ein wenig enttäuscht, Liam nicht zu sehen, denn er war – TADADAM – mein Freund und zwar schon seit einem halben Jahr. Ich setzte mich also neben Jace (meinem Ex) und legte meine Füße auf den Stuhl neben mir.

    »Also, von wem hast du das gehört?«, fragte ich Stacy, die sich mir gegenüber setzte. »Von Beth und die hat‘s von Leo.« Ah ja, die ewige Kette der Verdrehung.

    »Und der hat‘s von dem Cousin dritten Grades einer entfernten Tante der Schwester seiner Freundin?« Stacy verdrehte die Augen und Jace und ich gaben uns einen Check.

    »Ist er das nicht?«, meldete sich George und nickte mit dem Kopf zum Tisch ein paar Meter weiter links, während Harry antwortete: »Aber hallo! Diesen heißen Körper würde ich überall erkennen!« Wir anderen lachten. George und Harry waren schwul und wir fragten uns schon lange, wann sie sich endlich offiziell als Paar outeten. Einen sexy Körper hatte Josh jedoch in der Tat, es hatte mich schon gewundert, dass Francesca sich so viel Zeit gelassen hatte. Beinahe hatte ich vermutet, sie wäre anständig geworden, aber wieder einmal wurde ich eines Besseren belehrt: einmal Schlampe, immer Schlampe. Wie so oft machte sich mein Mundwerk selbstständig und ich brüllte durch die ganze Cafeteria: »Jooooooosh!« Er drehte uns sein hübsches Gesicht zu und Stacy wedelte mit den Armen.

    »Komm mal rüber!«

    Tatsächlich schlenderte er zu uns und ich nahm schnell die Füße vom Stuhl, damit er sich setzen konnte. Noch bevor er überhaupt irgendetwas sagen konnte, hatte Stacy ihn schon in der Mangel.

    »Also Josh. Es macht keinen Sinn es zu leugnen«, sie kniff die Augen zusammen. Jetzt zog sie wieder ihre »Kommissarin Stacy Porter ermittelt«-Show ab.

    »Wir wissen alles!«, raunte ich ihm über die Schulter ins Ohr. Dann mussten Stacy und ich los kichern.

    »Also nur noch mal für unsere Liste«, keuchte Stacy und kramte in ihrer Tasche nach der »Lover-von-Francesca«-Liste, die sie immer mit sich herum schleppte, um auch ja nichts zu verpassen. »Ihr seid also wirklich zusammen … , ja? Und seit wann?«, fragte sie inquisitorisch. Ich merkte Josh sein Unbehagen deutlich an, er rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.

    »Seit vorgestern, aber wir wollten es eigentlich geheim halten …«

    »Keine Sorge, wir brauchen das nur für unsere Liste«, beruhigte ihn Stacy, auch wenn sie sich am liebsten mit einem Megafon auf einen Tisch gestellt und die Nachricht laut durch die Gegend gebrüllt hätte, das wusste ich ganz genau, aber etwas Anstand hatte sie schließlich doch. Deshalb würde sie stattdessen später durch die Gänge laufen und es jedem unter die Nase reiben, nicht ohne jedoch ein »Aber sag‘s nicht weiter, das will ich nämlich machen« zu vergessen. Ja ja, ich kannte Stacy.

    »Du bist also Josh, der Dritte?« Josh runzelte die Stirn, aber Stacy hatte ihn schon dazu geschrieben.

    »Stacy führt Liste, mit wem Francesca zusammen ist, und du bist der dritte Josh«, klärte ich ihn auf.

    »Hey«, protestierte Stacy und gab mir einen Stoß mit dem Ellbogen, »versuch nur nicht, dich da raus zu reden, du steckst genauso mit drin wie ich!« Und an Josh gewandt sagte sie: »Sei froh, dass du nicht Tim heißt. Dann wärst du nämlich schon der sechste!«

    »JOOOOOSH!«, konnte man Francesca in diesem Augenblick über zehn Tische hinweg f löten hören. Er erhob sich, warf uns noch einen letzten, befremdeten Blicken zu und dackelte dann zu Francesca hinüber. Stacy und ich grinsten uns triumphierend an. Eins zu Null für uns!

    Endlich bewegten sich auch Liam und Brian mit ihren Tabletts zu uns herüber. Wie immer sah Liam übertrieben gut aus mit seinen blonden Locken und den braunen Bambi-Augen. Er trug eine senfgelbe Hose und darüber ein graues Sweatshirt mit dem blauen Schriftzug: »I am number one«. Er stellte sein Tablett ab und schob mir meinen Salat herüber. Ich liebte seine kleinen Aufmerksamkeiten. Er schenkte mir nicht jeden Tag einen Rosenstrauß oder teure, goldene Kettenanhänger (dem Himmel sei Dank!), aber er schickte mir jeden Abend eine »Gute Nacht«-SMS und jeden Morgen eine »Guten Morgen«-SMS, egal wie lange wir vorher schon telefoniert hatten. Und wie gesagt, er brachte mir meinen Salat. Ich fand, er war einer der bestaussehenden Jungs der Schule und er spielte noch dazu im Footballteam. Zwar nicht als Kapitän oder Quarterback, aber das war mir egal, ich war ja auch keine Cheerleaderin. Was auch so ein blödes Klischee ist: dass der Football-Kapitän und die Cheerleader-Chefin unbedingt zusammen sein müssen und dass es immer ein riesiges Tamtam um die Cheerleader gibt. An unserer Schule ging nur zu den Cheerleadern, wer sich gerne lächerlich machte oder komplett schmerzfrei war. Denn bei Mrs. Dumkin lernte man nichts außer Radschlagen, Radwende, Rädern auf einer Hand, das war‘s. Jeder lachte unsere Cheerleader aus, wenn sie vor einem Spiel auf den Platz liefen, was auch kein Wunder war, denn sie waren nur zu fünft. Mehr Mädchen hatten sich nicht gefunden, die sich trauten, Räder vor Hunderten gaffender Jungs zu schlagen. Aber ich schweife ab.

    Liam beugte sich zu mir herunter und gab mir einen kurzen Begrüßungskuss. Dann setzte er sich neben mich und fing an, sein Hähnchen-Curry in sich hinein zu schaufeln. »Was wolltet ihr denn von Josh?«, fragte er zwischen zwei Bissen. Stacy machte ein geheimnisvolles Gesicht.

    »Wir …«, fing sie an und wedelte mit dem Blatt Papier vor Liams Nase herum, »mussten nur jemanden unserer Lover-von-Francesca-Liste hinzufügen!«

    Liam versuchte den Namen auf der Liste zu entziffern, aber es gelang ihm erst, als ich sie Stacy entriss und vor ihm auf den Tisch legte.

    »Aha«, sagte Liam interessiert, »Josh, der dritte also.« Stacy kicherte und nickte.

    »Das hat ja lange gedauert …«, brummte Liam und Stacy lachte nun laut los und hieb mit den Handflächen auf den Tisch. Liam und ich sahen erst sie, dann uns an und zogen die Augenbrauen hoch. Ihr war wirklich nicht zu helfen.

    Nach dem Mittagessen hatten wir noch ein wenig Zeit bis zum nächsten Kurs (Spanisch bei Miss O‘Hara), also schlichen wir uns vom Schulgelände und liefen zu dem kleinen Hügel, bei dem wir uns häufig trafen. Wenn mir langweilig war, ging ich meistens dort hin, denn irgendwer war immer da. Wir hatten dort eine kleine, leer stehende Hütte notdürftig renoviert, so dass wir auch dort sein konnten, wenn schlechtes Wetter war. Heute zogen dicke, graue Wolken über den Himmel, aber trotzdem holten wir uns ein paar Decken und setzten uns vor die Hütte. Ich lehnte mich an Liams Brust. Er streichelte mich am Arm, während wir den anderen zuhörten, wie sie sich über langweilige Themen unterhielten. Liam zündete sich eine Zigarette an. Jeder von uns hatte schon einmal geraucht und obwohl es keinem wirklich schmeckte, rauchten George, Jace, Brian und Liam mindestens fünf Zigaretten am Tag. Ich zog an Liams Kippe, dann gab ich sie ihm zurück und lehnte mich wieder an ihn. Ich war eher eine Gelegenheitsraucherin genauso wie Stacy und die anderen, ausgenommen auf Harry. Er hatte seine Prinzipien, zu denen militantes Nichttauchen gehörte, was vielleicht daran lag, dass er seiner Mutter, bevor sie starb, versprechen musste, dass er nie damit anfing. Wir sprachen nicht oft darüber und wenn, dann war es uns allen sehr unangenehm, denn bei Harrys Familienverhältnissen war es nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Nach dem Tod seiner Mutter war Harrys Vater Alkoholiker geworden und als er dann erfahren hatte, dass sein Sohn schwul war, hatte er ihn raus geworfen. Nun lebt Harry bei seiner Tante und seinem Onkel, die zwar sehr nette Menschen waren, aber für Harry keinen wirklichen Familienersatz boten.

    Nach einer Weile fingen James, Nial und Stacy sich zu zanken an bis sie sich schließlich mit Gras bewarfen. Wir anderen sahen ihnen kopfschüttelnd zu. Schließlich wurden auch John und Brian getroffen und sprangen auf, um zurück zu werfen. Kurze Zeit später war die Schlacht in vollem Gange, nur ich und Liam saßen da und sahen unseren Freunden zu. Als Stacy einen Erdklumpen direkt auf Brians Brust schleuderte, er aufstöhnte, wie ein gefallener Krieger zu Boden sank und dabei röchelte: »Hilfe! Ich bin verwundet!« und sie dann über ihm stand und wie eine Verrückte fauchte: »Das war für Bella und Edward!«, beugte Liam sich zu mir herunter und flüsterte: »Was haben wir nur für Freunde?« Ich lächelte, weil sein Atem an meinem Ohr kitzelte.

    »Das sind keine Freunde«, flüsterte ich, »das ist unsere Sammlung von Irren.«

    Liams Brust erbebte, als er lachte, dann beugte er sich über mich und küsste mich. Ich schloss die Augen und als sich unsere Zungen sanft berührten, drehte ich mich in seinen Armen so, dass ich seinen Kuss erwidern konnte. Ich vergrub die Hände in seinen Haaren und er schlang seine Arme um mich.

    »Nehmt euch ein Zimmer!«, hörten wir Brian grölen und wir lösten uns von einander. Die anderen standen in einem Halbkreis um uns herum und grinsten uns an. »Schau halt nicht hin!«, entgegnete ich Brian schnippisch, aber er wusste, dass das nicht böse gemeint war.

    »Ich hab einen Tropfen abgekriegt«, meldete sich Stacy und wie auf Kommando blickten alle hinauf zum Himmel. Tatsächlich. Es begann zu regnen. »Fuck!«, entfuhr es John, als er einen Blick auf seine Ice Watch warf. »Wir sind schon jetzt zu spät!« In diesem Augenblick öffnete der Himmel seine Schleusen richtig. Wir rannten zur Schule zurück. Liam hielt schützend seine Jacke über uns beide und auch die anderen hielten ihre Jacken über die Köpfe, wobei ich feixend feststellte, dass Brian seine Jacke mit Stacy teilte, was allerdings vergebliche Liebesmühe war. Wir wurden alle klitschnass.

    Nachdem wir alle in unterschiedliche Klassenzimmer mussten, verabschiedete sich Liam mit einem Luftkuss von mir und eilte hinter James und John die Treppe hinauf. Ich drehte mich um und hörte Stacys albernes Kichern, als sie beinahe ausgerutscht wäre und Brian in die Arme fiel. Ich musste grinsen. Stacy war einfach die Queen der Peinlichkeiten. Lachend platzten wir in unser Klassenzimmer, wo uns die übrige Klasse anstarrte. Wir boten bestimmt einen merkwürdigen Anblick mit den nassen Klamotten, die an uns klebten. Stacys und meine Haare tropften, während unsere Schminke zu schwarzer Soße verlief.

    »Wo kommt ihr denn her?«, keifte Miss O‘Hara. Sie war vielleicht Ende zwanzig, hatte schulterlange, blonde Haare und trug eine schwarze Ray Ben. Ich mochte sie, obwohl ich wusste, dass sie mich verabscheute.

    »Von draußen«, antwortete Stacy knapp und die ganze Klasse kicherte. Auch ich musste mir ein Grinsen verkneifen.

    »DAS sieht man!«

    Stacy deutete einen Knicks an und wieder lachten einige.

    »Ab zum Direktor!«, motzte Miss O’Hara.

    Im Büro des Direktors warteten schon die anderen, die anscheinend auch von ihren Lehrern rausgeworfen worden waren. Ich stellte mich neben Liam, der meine Hand kurz drückte und mich angrinste. Wir quetschten uns in einer Reihe vor Dr. Blades Schreibtisch zusammen, konnten uns ein weiteres Lachen aber nicht verkneifen, vor allem wegen Stacy, die kleiner war als die übrigen und versuchte, sich zwischen John und Harry zu drängen. Als ihr das nicht gelang, ließ sie es bleiben und stellte sich in die Mitte vor uns.

    »Warum seid ihr zu spät zum Unterricht gekommen?«, fragte Dr. Blade ruhig und blickte tadelnd von einem zum anderen, während er auf dem Bügel seiner Brille kaute. Uah! Wie eklig! Hinter seinem Rücken nannten wir ihn alle Dr. B, weil wir zu faul waren, immer Doktor Blade zusagen. Ich muss zugeben, dass ich mich in seinem Büro inzwischen trotz der Unordnung dort ziemlich gut auskannte. In der Schublade ganz rechts unten in seinem rötlich-braunen Schreibtisch befanden sich die Verweis-Formulare. Das wusste ich, weil ich vor ungefähr einem Jahr herein geschlichen war und sie alle in der Mitte durchgerissen hatte, nachdem Stacy einen Verweis wegen Arbeitsverweigerung bekommen hatte, nur weil sie keine Lust gehabt hatte, blöde Englischvokabeln aufzusagen. Auch meine Mutter war schon oft wegen mir hier gewesen. Ich weiß, dass sich das anhört, als wäre ich total unerzogen, aber was kann ich denn bitte dafür, dass die Lehrer uns so viele unsinnige Aufgaben machen ließen und alles in den falschen Hals bekamen?

    »Wir waren noch draußen …«, antwortete Harry ein wenig kleinlaut.

    »Wo draußen?«

    »Hinten bei den Sportplätzen«, sagte Liam schnell, bevor Harry eine unbedachte Äußerung von sich geben konnte.

    Dr. B starrte uns mit hochgezogener Augenbraue kritisch an, aber keiner sagte ein weiteres Wort.

    »Na schön«, sagte er schließlich, nachdem er jeden von uns eingehend gemustert hatte. »Dann werde ich mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Holt euch bei Schwester Nancy Decken und dann ab in den Unterricht!«

    Wir seufzten erleichtert auf. Hinter Dr. B‘s strenger Fassade steckte also doch ein Herz für Schüler. Ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren, als er uns hinterher sah und nachdenklich den Kopf schüttelte.

    Liam gab Harry draußen im Gang einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf und rief lachend: »Du Idiot!«

    Stacy und ich zogen uns auf dem Mädchenklo unsere Sportsachen an. Immerhin konnte ich meine Handstulpen anlassen, denn sie waren, oh Wunder, trocken geblieben. Das ist so ein Tick von mir. Ich trage immer silbergraue, kurze Handstulpen, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit, außer beim Duschen natürlich. Ich habe von ihnen mehrere Paare zum Wechseln und sie sind sozusagen mein Markenzeichen. Selbst wenn Liam meine Hand hielt, sagte er nichts, er schien die Stulpen nicht einmal zu bemerken. Ich brauchte sie, um die beiden merkwürdigen kleinen roten Flecken auf den Innenseiten meiner Hände zu verstecken, die ich schon hatte, als ich ganz klein war. Hin und wieder taten diese Male sogar weh, aber nie schlimm, woraus ich schloss, dass es vermutlich nur ein Phantomschmerz war.

    Stacy und ich sahen verboten dämlich in unseren zerknitterten Sportsachen aus, aber wir versuchten Haltung zu bewahren. In muffige Decken gehüllt saßen wir die letzten zehn Minuten bei Miss O‘Hara fest.

    »La casa es moderna, heißt also übersetzt, das Haus ist …?«, erwartungsvoll blickte sie in die Runde.

    »Nicht so schön wie Sie!«, grölte Brian und die anderen lachten.

    »Sie müssen wirklich noch lernen, zu welchem Zeitpunkt es angebracht ist, einer Frau Komplimente zu machen!«, antwortete Miss O‘Hara scharf, woraufhin Brian rot wurde. Nach der Stunde ging ich zu Miss O‘Hara. »Machen Sie sich nichts draus«, sagte ich und es war eigentlich wirklich nett gemeint, denn obgleich Brian mein Kumpel war, blieb er doch notgeil und kindisch. »Brian ist eben in der Pubertät stecken geblieben und …«

    »Hören Sie auf, so über Ihren Mitschüler zu reden, Miss Woolf, außer Sie wollen, dass ich hinter Ihrem Rücken genauso über Sie rede!« Sie sah mich mit einem dermaßen giftigen Blick an, dass ich aufhörte zu reden, meine Sachen zusammenraffte und aus dem Klassenzimmer verschwand. Da sah man mal wieder, was ich für ein Talent für Fettnäpfchen hatte. Nicht mal nett zu Leuten sein bekam ich hin, das war echt deprimierend.

    Als ich durch die inzwischen leeren Gänge ging, beschlich mich das seltsame Gefühl beobachtet zu werden. Ich sah mich um, aber außer mir war niemand zu sehen. Plötzlich begannen meine Handinnenflächen zu pulsieren und so heftig zu schmerzen, wie sie es noch nie getan hatten. Kaum hatte ich mir die Stulpen heruntergerissen, um mir die Flecken anzusehen und zu massieren, da verschwand das Gefühl auch schon wieder und alles war wieder normal. Ich schüttelte den Kopf und öffnete die Tür. Die anderen warteten vor der Schule auf mich.

    »Wie sieht‘s aus, Romy? Meinst du, wir könnten ein kleines Bier bei Mike kippen?«, begrüßte mich John.

    »Ich denke schon, aber ich kann nicht so lange …«, antwortete ich.

    Mike war mein 29-jähriger »Patenonkel«. Er war ein guter Freund meiner Eltern, auch wenn sie geschätzte 15 Jahre älter waren als er. Mike war cool. Ich vertraute ihm beinahe noch mehr als Stacy. Außerdem war er der einzige, der meine Stulpen überhaupt bemerkte und mit dem ich über meine Schmerzen reden konnte, ohne dass er sie als Hirngespinst eines Teenagers abtat. Mike hatte wunderschöne, braune Locken und ich war so oft bei ihm, dass seine Kneipe schon beinahe mein zweites Zuhause war. Obwohl wir noch keine 21 Jahre alt waren, schenkte er uns immer ein Bier aus, manchmal auch zwei, denn er sagte, wir müssten das selber wissen. Es war nicht so, dass er nicht verantwortungsbewusst gewesen wäre, er meinte nur, dass wir unsere eigenen Erfahrungen machen müssten. Ich trottete hinter den anderen her, bis Liam schließlich zu mir nach hinten kam und meine Hand nahm.

    »Alles ok?« Ich lächelte ihn an.

    »Ja sicher, alles klar.«

    Ich hatte Liam noch nie etwas über die Schmerzen, die ich in meiner Hand verspürte, erzählt, denn ich wusste, dass er mich nur mit schrägem Blick ansehen würde, so nach dem Motto: »Ich-glaub-du-hast-einen-ander-Klatsche …«. Nach der Schmerzattacke eben war ich froh, dass wir zu Mike gingen.

    »Wann musst du weg?«, fragte Liam.

    »So gegen halb fünf«, antwortete ich.

    »Also können wir heute nichts mehr zu zweit machen?« Ich seufzte.

    »Liam, du weißt, ich muss trainieren. Ich habe übermorgen ein wichtiges Rennen.«

    »Ja ja, ich weiß. Und dein Laufen ist dir natürlich wichtiger als ich.« Ich blieb stehen und Liam drehte sich langsam zu mir um.

    »Das nicht stimmt!«, rief ich, »Aber wenn ich Glück habe …«

    » … dann bekommst du vielleicht ein Stipendium. Ich weiß. Und wie sieht es mit heute Abend aus?«

    »Geht leider auch nicht, ich muss Babysitten.« Bei der unglaublich süßen, kleinen Lora, die es super lustig findet mich mit Brei voll zu spucken.

    »Na toll …« Jetzt war Liam beleidigt, das war ja wieder super gelaufen. Allerdings ärgerte mich sein Verhalten auch ein wenig. Es war ja nicht so, dass ich irgendwelche Ausreden erfand, um mich mit jemand anderem zu treffen! Liam ging weiter und ich folgte ihm mit ein wenig Abstand. Ich zermarterte mir das Hirn, ob ich mit ihm reden oder ebenfalls beleidigt sein sollte, doch dann hatte ich eh schon zu lange gezögert. Wir quetschten uns durch die Menschenmenge in der Fußgängerzone und ich musste mich beeilen, um den Anschluss an die anderen nicht zu verlieren. Da hatte ich plötzlich wieder dieses Gefühl, dass mich jemand beobachtete oder mir folgte – wie so oft in letzter Zeit. Ich wusste, dass das alles nur Einbildung war und kämpfte innerlich gegen den Drang an mich umzudrehen, aber ich schaffte es nicht. Blitzschnell ließ ich meinen Blick über die Menschenmenge hinter mir gleiten. Anders als sonst blieb er plötzlich an einem Mann hängen, der in der Menge stand und mich anstarrte wie eine mit Puderzucker servierte Erdbeertorte. Mir lief ein Schauer über den Rücken und meine Füße schienen am Boden zu kleben. Da packte Stacy mich plötzlich am Arm und rief munter: »Romy, komm. Wir warten schon alle!«. Ich blickte zurück zu der Stelle, an der der Typ gestanden hatte, aber er war verschwunden. Stacy folgte meinem Blick und musste hoch hüpfen, um überhaupt etwas sehen zu können.

    »Romy, was ist denn da? Warum guckst du so komisch?«, quengelte sie.

    »Ach, nichts. Ich hab mich wahrscheinlich geirrt.«

    »Sag doch. Bitte. Was war da?« Ich wusste, sie würde mich den ganzen Tag weiter nerven, wenn ich ihr nichts erzählte, also sagte ich: »Da war ein Kerl, der mich angeglotzt hat wie so ein Irrer, mehr nicht …« Sofort begann Stacy zu spekulieren: »Vielleicht hast du ja einen Stalker … – nein, noch besser: Er ist vom FBI und du wirst verdächtigt, an einem Mord beteiligt zu sein! Willst du mir irgendwas sagen?« Ich musste lachen und gab ihr einen kleinen Schubs. Wir erreichten die Clique, doch Liam würdigte mich keines Blickes. Ich zuckte mir den Schultern, dann liefen wir zusammen weiter zu Mikes Kneipe.

    * * *

    Lachend stießen Harry und James die Tür auf und Mike begrüßte uns. Ich umarmte ihn. Wie immer merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Als er mir einen fragenden Blick zuwarf, zischte ich: »Wir reden später!« Er nickte mir zu, um mir zu zeigen, dass er verstanden hatte, und wir setzten uns ganz nach hinten in die dunkelste Ecke der Kneipe. Zu dieser Zeit war noch nicht viel los, also hätten wir eigentlich freie Wahl gehabt, aber der Tisch ganz hinten war unser Stammplatz. Hier konnten die Jungs ungestört über irgendwelche nicht-jugendfreien Dinge reden, während Stacy und ich so taten, als würden wir nichts hören, weil wir so in unser Gespräch über One Direction und Nagellack vertieft waren. Als Mike uns unser Bier brachte, rutschte ich ein wenig zur Seite, damit er sich zu uns setzen konnte. Er unterhielt sich mit den Jungs über belanglose Themen wie Football, Football und Football, von denen Stacy und ich natürlich keinen blassen Schimmer hatten.

    Als Mike sich wieder erhob, entschuldigte ich mich kurz und folgte ihm in die Küche. Ich grüßte die Köche und setzte mich dann auf einen kleinen Tisch an der Wand. Ich griff mir einen Lolli aus der kleinen Schachtel neben mir und als ich ihn ausgewickelt hatte, war Mike fertig mit seinen Anweisungen und kam zu mir herüber. »Also Kleine, was bedrückt dich?«

    »Hey, hey«, lachte ich, »ich bin inzwischen fast so groß wie du!«

    »Aber eben nur fast«, grinste Mike, dann wurde er wieder ernst. »Was ist los?«

    »Meine Male haben wieder weh getan, aber diesmal schlimmer als je zu vor.« Ich zog mir die Handschuhe von den Händen und hielt sie ihm unter die Nase.

    »Hm, sieht genauso aus wie immer.« Ich schlüpfte wieder in die Stulpen.

    »Außerdem ist Liam sauer, weil ich heute keine Zeit mehr habe. Aber ich muss trainieren. Übermorgen ist ein wichtiges Rennen und wenn das genauso schlecht läuft wie das letzte, kann ich mein Stipendium wahrscheinlich vergessen. Und heute Abend muss ich zu Lora, weil ihre Eltern in ein Konzert gehen. Ich meine, das muss er doch verstehen, oder nicht?«

    »Wann habt ihr denn das letzte Mal was alleine gemacht?« Ich überlegte.

    »Vor einer Woche vielleicht? Sonst war immer die Clique dabei.« Mike sah mich lange an und ich stöhnte.

    »Verdammt, du hast Recht. Er hat Recht, aber ich kann heute Abend trotzdem nicht. Und er hat ja eigentlich auch Training.«

    »Dann macht eben morgen was zusammen.«

    »Da hat er wieder Footballtraining.«

    »Und übermorgen?«

    »Da habe ich das Rennen …« Unschlüssig sahen wir uns an.

    »An welchem Tag könnt ihr denn beide?«

    Ich biss mir auf die Unterlippe. Seit die Schule vor einem Monat wieder angefangen hatte, hatten wir viel weniger Zeit füreinander gehabt, aber wir hatten uns getroffen, so oft es ging, allerdings meistens nicht alleine. Wir hatten das Alleinsein aus den Augen verloren. Nein, falsch: Ich hatte das Alleinsein aus den Augen verloren. Ich ging die einzelnen Tage durch. »Vielleicht Samstag …«, überlegte ich, und Mike lächelte: »Gut, dann wisst ihr doch schon, wann ihr zu zweit was machen könnt.«

    Ich wünschte, ich wäre so optimistisch gewesen wie Mike. Heute war erst Dienstag, wie sollte ich Liam beibringen, dass er bis Samstag warten müsste? Er wartete eh schon mit allem auf mich. Mit Sex zum Beispiel. Es war nicht so, dass ich Angst vor dem ersten Mal gehabt hätte, denn das hatte ich schon hinter mir, aber ich wollte einfach den perfekten Zeitpunkt für den ersten Sex mit ihm abwarten und der war bis jetzt noch nicht da gewesen. Als ich wieder zu unserem Tisch ging, hatte ich nur noch zehn Minuten, also trank ich mein Bier aus, umarmte Stacy, gab Liam einen Kuss (obwohl er immer noch sauer guckte) und verabschiedete mich mit einem Winken vom Rest.

    * * *

    Das Leichtathletik-Training fand auf dem Sportplatz unserer Schule statt. Es waren immer noch andere da, denen ich mich hätte anschließen können, aber ich trainierte meistens alleine. Erstens, weil ich mich auf das Rennen spezialisiert hatte und zweitens, weil ich es langweilig fand, mit Leuten zu trainieren, die alle jünger waren als ich. Manchmal kam unser Coach zu mir herüber, aber nicht um mir Tipps zu geben, sondern um sich davon zu überzeugen, dass ich immer noch besser war als er. Als ich zum vierten Mal an den Start ging, ließ ich meinen Blick hinauf zu den orangen Plastikstühlen auf der Tribüne wandern und erstarrte. Ziemlich in der Mitte saß ein Mann und ich hätte schwören können, dass es derselbe war, der mich heute schon einmal beobachtet hatte. Unheimlich. Besser, wenn ich mich vom Acker machte. Während ich ihn im Auge behielt, ging ich zu meiner Sporttasche, nahm sie und verschwand eilig durch die Tür unter der Tribüne, die zu den Umkleiden führten.

    Ich hasste Umkleideräume, die unserer Schule insbesondere und zwar aus tiefster Seele. Überall lag Müll, und es stank nach Urin und Schweiß. Die Wände waren mit Edding bekritzelt und die Haken für die Jacken aus den Halterungen gerissen. Ich zog mich so schnell um wie ich konnte. Als ich gerade im BH da stand und meine Bluse über meine roten Locken ziehen wollte, hörte ich Schritte auf dem Gang. Ich überlegte blitzschnell. Eines von den Kindern konnte es nicht sein, die trainierten noch und unser Coach (wir nannten ihn einfach Coach, ich konnte mich gar nicht erinnern, wie sein richtiger Name war) würde sich niemals bei den Mädchenumkleiden herumtreiben. Ich drückte meine Bluse an die Brust und rannte in die Duschräume nebenan. Die Tür zur Umkleide wurde geöffnet und jemand kam herein. Mein Atem stockte. Ich fand mich selbst übertrieben, wahrscheinlich war es nur eine von den Mädchen, die auf ‘s Klo musste. Ich lugte um die Ecke, doch was ich sah, ließ mich augenblicklich wieder panisch werden. Der Mann, DER Mann stand über meine Tasche gebeugt und wühlte darin herum. Keine Ahnung, was er glaubte in der Tasche einer Sechzehnjährigen zu finden, aber gut. Plötzlich drehte er sich um und ich schnellte zurück. Hatte er mich gesehen? Ich schloss die Augen und hielt die Luft an. Schritte näherten sich. Ich wich zurück zu den Duschen. Dort gab es eine Tür, die hinüber in die benachbarte Umkleide führte. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag und konnte ihn nicht mehr von den Schritten unterscheiden, die immer näher kamen. Vorsichtig wich ich weiter zurück, den Blick auf den Durchgang geheftet. Schließlich stieß ich mit dem Rücken gegen die Tür und tastete mit der linken Hand nach dem Knauf. Gerade als meine Finger das kalte Metall umschlossen, betrat der Mann den Duschraum. Mit der freien Hand drückte ich meine Bluse noch fester vor meinen schwarzen BH, dann hatte er mich entdeckt.

    Wir standen uns gegenüber und starrten uns an. Er hatte dunkelbraunes, etwas längeres Haar und leuchtend blaue Augen, die mich an kalte Bergseen erinnerten. »Gehen Sie weg!«, sagte ich leise, »das hier ist eine Mädchen-Umkleide!« Doch er reagierte nicht. Ich räusperte mich und sagte lauter: »Könnten Sie bitte gehen?« Da löste er sich aus seiner Starre. Doch anstatt sich umzudrehen und den Raum zu verlassen, kam geradewegs auf mich zu. Panisch drehte ich an dem Türgriff und begann an der Tür zu rütteln. Ich schlug dagegen, während ich immer wieder einen Blick über die Schulter warf. Nur noch ein paar Meter und er würde mich erreicht haben. Endlich sprang die Tür auf und ich zwängte mich hindurch. Auf der anderen Seite verriegelte ich sie so schnell ich konnte, dann zog ich in Windeseile meine Bluse an. Ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mann zu mir gelangen würde, entweder indem er die Tür aufbräche oder über den Gang in die Umkleide gelaufen käme. Doch es half nichts. Vorsichtig öffnete ich die Tür zum Flur und linste durch den Spalt. Alles war ruhig. Also wagte ich mich heraus und schlich zu der Umkleide mit meinen Sachen hinüber, deren Tür angelehnt war. Mit der Fußspitze stieß ich die Tür ein wenig auf und wagte einen Blick hinein. Von dem Mann war nichts zu sehen und es war nur ein Katzensprung bis zu meiner Tasche auf der Bank.

    In diesem Moment spürte ich ein Kribbeln im Nacken und ich wusste plötzlich, wo er war. Langsam drehte ich mich um. Er stand direkt hinter mir, ich blickte genau in seine blauen Augen. Ich stieß einen spitzen Schrei aus und als der Mann versuchte, seine Hand um meinen Arm zu schließen, hielt mich nichts mehr – nicht mal mein superschöner, bunter Schal von H&M, der immer noch neben meiner Tasche lag. Ich rannte los, den langen Flur entlang. Als ich einen Blick zurückwarf, sah ich, wie der Mann mir mit schief gelegtem Kopf nachsah. Ich hörte erst auf zu rennen, als ich die Bushaltestelle erreicht hatte, wo ich in den Bus gerade noch erwischte. Ich kam eine halbe Stunde früher zu Hause an als sonst. Meine Eltern waren noch nicht da und der Anrufbeantworter blinkte. Als ich die Nachrichten abhörte, erklang die Stimme von Loras Mutter, die mir mitteilte, das Lora krank sei und sie deshalb zuhause blieben. Das passte gut, denn mit saß der Schreck noch in den Gliedern. Dass es im Haus so dunkel und leer war, machte es nicht besser.

    Meine Mutter, Susan Woolf, hatte ihren eigenen Blumenladen bei uns um die Ecke. Von ihr hatte ich die Locken geerbt, allerdings waren ihre braun und nicht rot wie meine. Sie hatte braune Augen und eine zierliche Figur. Schon seit zwei Jahren war ich größer als sie. Mein Vater hieß Jonathan Woolf und war Immobilienmarker. Während er an reiche Schnösel irgendwelche modernen Häuser verkaufte, wohnten wir in einem älteren, weißen Häuschen. Aber es reichte locker für uns drei und mein Zimmer war riesig. Mein Vater hatte graues Haar, das ihm schon ein wenig ausfiel. Von ihm hatte ich meine grünen Augen. Das war aber auch schon das einzige. Während mein Vater ein Genie in Sprachen war (er sprach fließend Französisch, Spanisch und Deutsch) war ich die langweilige Mathe-Streberin der Familie.

    Ich war so aufgelöst, dass ich mir zur Beruhigung erst einmal einen Kakao kochte. Ich liebte das süße Zeug. Kaffee mochte ich auch, aber Kakao trank ich schon immer und würde ich auch immer trinken. Während ich meine Milch in der Mikrowelle erwärmte, schnappte ich mir mein Handy, das ich Gott sei Dank in meine Hosentasche gesteckt hatte.

    »Yeah, ihr habt den Anschluss von Black S gewählt. Leider habt ihr mich gerade verpasst. Wenn es wichtig ist, dann sprecht einfach nach dem Pieps. Bis dann.« Na toll, nur die Mailbox. Das war ja mal wieder typisch für Stacy. Ich rief sie so gut wie nie an und wenn ich es dann mal tat, ging sie nicht ran. Trotzdem hinterließ ich ihr eine Nachricht: »Stacy, hör zu. Der Typ, der mich in der Fußgängerzone angestarrt hat, war heute auf dem Sportplatz …«, ich redete so schnell, dass ich mich verhaspelte. »Er ist mir in die Umkleide gefolgt und dann … ich hab ihm gesagt, er soll gehen, aber er ist mir hinterher gelaufen. Ich war voll überfordert und, und …, ich …« Das erneute Piepen beendete mein Gestammel. Ich drückte mein Handy an die Brust und blieb noch ein bisschen in der Küche stehen.

    Mein Kakao war nicht mehr ganz warm, was klar war, nachdem ich ihn eine halbe Stunde in der Mikrowelle vergessen hatte. Meine Mutter war inzwischen nach Hause gekommen und stand am Herd. Es war eines ihres Hobbys, Rezepte auszuprobieren und neue zu erfinden, weswegen ich schon ganz merkwürdige Kreationen vorgesetzt bekommen hatte.

    Ich saß gerade am Schreibtisch bei den Hausaufgaben (stöhn), als mein Handy klingelte und mich von meinem Leid erlöste. Ich griff so schnell danach, dass es mir erst einmal runter fiel und es ein wenig dauerte, bis ich es am Ohr hatte.

    »Hallllloooo?«, fragte da gerade meine beste Freundin in mein Ohr.

    »Sorry«, nuschelte ich, »du bist mir runter gefallen.« Danach musste ich ihr die ganze Geschichte ausführlich erzählen. »Krass … , einfach krass«, war ihr Kommentar.

    »Besser hätte ich es auch nicht sagen können.«

    »Wie alt war der denn?«

    »Er hat es mir nicht gesagt.«

    »Na, so ungefähr. Eher fünfzig oder eher zehn?«

    »Keine Ahnung, vielleicht 20?«

    »Warum sollte dich ein 20-jähriger, gut aussehender Typ stalken?«

    »Ähm, weil ich so toll bin?«, antwortete ich ironisch.

    »Aber dann könnte er genauso gut mich stalken!«, beschwerte sich Stacy.

    »Bist du etwa eifersüchtig? Glaub mir, so lustig war das nicht …«

    »Wahrscheinlich hat er einfach einen an der Klatsche!«, mutmaßte Stacy.

    »Warum, weil er MICH stalkt und nicht dich oder weil er überhaupt jemanden stalkt?«

    »Natürlich weil er überhaupt jemanden stalkt. Vielleicht solltest du zur Polizei gehen …«, schlug Stacy vor.

    »Aber dann müsste ich meiner Mutter alles erzählen und ich will nicht, dass sie sich wegen mir Sorgen schon wieder machen muss.«

    »Du hast es deiner Mutter nicht erzählt?«, schrie Stacy jetzt so laut, dass mir das Handy beinahe nochmal aus der Hand gefallen wäre.

    »Psst!«, zischte ich, als ob meine Mutter Stacys Geschrei durch das Telefon hätte hören können. In diesem Moment klingelte die Türglocke und meine Mutter rief von unten: »Romy, kannst du mal bitte aufmachen?«

    »Warte, ich muss kurz zur Tür«, entschuldigte ich mich bei Stacy und drückte mein Handy gegen die Schulter.

    Ich eilte die Treppe hinunter und riss die Tür auf. Es war niemand dort. Ich runzelte die Stirn und blickte mich in der Einfahrt um, aber auch dort war niemand zu sehen. Ich trat einen Schritt nach vorne und stolperte beinahe über etwas, das am Boden auf der Fußmatte stand: meine Sporttasche. Ich ging in die Knie und griff mit zitternder Hand zum Reißverschluss.

    »Stacy?«, flüsterte ich.

    »Romy? Was ist los? Warum redest du so leise?«

    »Meine Tasche«, antwortete ich und schluckte. »Sie ist hier. Sie steht vor meiner Haustür. Jemand hat sie zurückgebracht, hat geklingelt und ist dann abgehauen.«

    »Fuck. Du meinst …?« Sie ließ den Satz unausgesprochen in der Luft hängen, aber ich wusste, dass sie genau dasselbe dachte wie ich. Blitzschnell zog ich die Tasche in den Flur und knallte die Tür zu.

    »Wer war es denn?«, rief meine Mutter aus der Küche.

    »Äh, nur der Coach, er hat mir meine Tasche gebracht. Ich hatte sie vergessen …«

    »Also Romy, wirklich …«

    Ich hatte weder Zeit noch Lust, mir ihre Vorhaltungen anzuhören, also huschte ich in mein Zimmer und schloss

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