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Grotesken II: Gesammelte Schriften
Grotesken II: Gesammelte Schriften
Grotesken II: Gesammelte Schriften
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Grotesken II: Gesammelte Schriften

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About this ebook

Zum ersten Mal sind hier, chronologisch geordnet, alle Grotesken Mynonas versammelt, ungekürzt, mit allen Varianten der Drucke und Entwürfe, sowie durchgehend kommentiert, - 263 Texte aus den Jahren 1903 bis 1947. Weit über ein Drittel war noch nie bzw. seit 1936 nie mehr publiziert. Die Edition ermöglicht das Studium einer arg vernachlässigten literarischen Form. Diese ist im Fall Mynona freilich kein Selbstzweck, sondern eine Nutzanwendung seiner polaristischen Indifferenzphilosophie. Mynona ist eben nicht bloß irgendein 'skurriler' 'Humorist' oder 'schnurriger' 'Satiriker' etc., sondern ein hellwacher Zeit- und Kulturkritiker, der seine unvermindert aktuellen Diagnosen und seine Vision einer Menschheitsutopie auf eine völlig neue Weise vorzutragen versteht: vom klassischen Deutsch bis zum schnoddrigsten Berliner Jargon. Das Spektrum reicht von Milieuskizzen und Familienszenen über Sozialsatiren (mit Hieben auf die Psychoanalyse), bissige Literaturparodien, Wissenschafts- und Religionskritiken bis zu scharfsichtigen politischen Interventionen und weiter zu phantastischen Technikvisionen und philosophischen Märchen.
LanguageDeutsch
Release dateMar 25, 2015
ISBN9783738688788
Grotesken II: Gesammelte Schriften
Author

Salomo Friedlaender/Mynona

Salomo Friedlaenders aggressive Streitschrift, vor fast 75 Jahren erschienen, ist ein erstaunliches Dokument der frühen Einstein-Rezeption, in der die Weichen für eine sehr komplizierte, heute noch keineswegs abgeschlossene Diskussion gestellt werden. Das Buch greift über die bloss historische Dokumentation hinaus zu Perspektiven, deren Reichweite erst noch zu ermessen bleibt: zu einer aus Immanuel Kants nachgelassenem Werk, dem sog. Opus postumum entwickelten Äthertheorie. Kant gegen Einstein ist der erste Band einer Friedlaender/Mynona-Werkausgabe in 25 Bänden, in Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle der Universität Trier herausgegeben von Hartmut Geerken und Detlef Thiel.

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    Grotesken II - Salomo Friedlaender/Mynona

    Salomo Friedlaender/Mynona

    Gesammelte Schriften

    Herausgegeben von

    Hartmut Geerken & Detlef Thiel

    In Zusammenarbeit mit der

    Kant-Forschungsstelle

    der Universität Trier

    Band 8

    Inhalt

    121. Der neckische Mörder (1922)

    122. Erlöser und Leben (1923)

    123. Der Beweis, daß die Deutschen dennoch Menschen sind (1923)

    124. Die neue Mellosine. Reklameske (1923?)

    125. Man fällt nicht gern auf (1923)

    126. Produktivität (1923)

    127. Urahne, Ahne, Mutter und Kind etc. etc. ... (Entwurf, 1923)

    128. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind etc. etc.....(1923)

    129. Kant in Schnadahüpferln (1923)

    130. Freinacht 1924 (1924)

    131. Aus Abstinenz (1924)

    132. Farbenblindheit (1924)

    133. Femininiweh (1924)

    134. Pithekanthropeske (1924?)

    135. Heuchelei (1924)

    136. Frohnatur (1924)

    137. Weil auch Faust (1924)

    138. Der Prahlhans (1924)

    139. Le roué malgré lui (1924)

    140. Idiosynkrasisch (1924)

    141. Trägheit (1924)

    142. Contre Cœur (1924)

    143. Skepsis (1924)

    144. S’effacer (1924)

    145. Kleptomanie (1924)

    146. Schluß! (1924)

    147. Der Monokel-Jongleur (1924)

    148. Bibliophilie (1924)

    149. Bett Bett (1925)

    150. Auf Großmütterchens Insel (1925)

    151. Der tollkühne Tapergreis oder ‚Pfläumlein im Moos’ (1925)

    152. Quae pro qua (1925?)

    153. So hat er immer abgebissen!

    154. Im Bier- und Buchverlag G.m.b.H. Für Leib und Seele (1926)

    155. Häßlichkeit entstellt nicht immer (1926)

    156. Rrrrrrrrrrrhein (1926)

    157. Halloh! Hier 1928 – wer dort? (1926?)

    158. Wie sie so sanft ruhen! (1926)

    159. Zauber-Bergpredigt eines ungläubigen Thomas an Mannbare. Rezept zum Kitsch allerersten Ranges (1926)

    160. Seife! Seife! (1926)

    161. Der Literaturhauptmann von Köpenick oder Der verfilmte Faust (1926)

    162. Klamauk (1926)

    163. Meine Idiosynkrasie (1926)

    164. Faust lacht sich ins Fäustchen (1926)

    165. [Wie kamen Sie zu Ihrem Pseudonym?] (1926)

    166. Nonplusultra ... (1926)

    167. Der blinde Kiebitz (1926?)

    168. Rezept zu prima ff. Edelkitsch. Famoser Genie-Ersatz für alle Geistesgernegrößen (1927)

    169. Mondaine & demie (1927)

    170. Reklameske (1927)

    171. Motoren-Tagung (1927)

    172. Technische Nothülfe (1927)

    173. Sturmfreie Maifeier (1927)

    174. Kille kille – Uruguay ... (1927)

    175. Scharfrichters Urlaub (1927)

    176. Magen- und Leichenbitter (1927)

    177. Wiener Schnitzel (1927)

    178. Der Musterschüler. Eine Erinnerung (1927)

    179. Ei der Dawes! Schrie die amerikanische Tante ... (1927)

    180. Wintersportmord (1927)

    181. Vom schneebedeckten Gipfel des Genusses (1927)

    182. Wie wünsche ich mir das Paradies? (1927?)

    183. Genesis I. 3. Ladylike (1928)

    184. Verdrängter Fasching (1928)

    185. Revue en deuil im Metropol. Referat (1928)

    186. Die rätselhafte Reklame fürs Nokixelsnoitasrevnok (1928)

    187. Ostergelbsucht (1928)

    188. Dürer-Salut und -Salat (1928)

    189. Frühlingsklein ... (1928)

    190. Mein Leichnam? (1928)

    191. Onkel Albert übersterbensgroß (1928)

    192. Mein hundertster Geburtstag und andere Grimassen (Selbstanzeige, 1928)

    193. Ehegespons und -Gespenst (1928)

    194. Selbstpferd Napolini (1928)

    195. Hab’ Höhensonne im Herzen, sonst – (1928)

    196. Hab’ Höhensonne im Herzen! (1928)

    197. Friedensschauplatz August 1928 (1928)

    198. Mond- und Eifersucht (1928)

    199. [Simplicissimus: Die Saison beginnt] (Entwurf, 1928)

    200. Das Sieb der Dadaiden (1928)

    201. Zeppeleckener (1928)

    202. Republik-Jazz (1928)

    203. Einszweidreivierfünf (1928)

    204. Wohin rollst du, Äpfelchen? (1928)

    205. Schenkendes Laster (1928)

    206. Die Prinzessin auf der andern Erbse (1928)

    207. Faschingsmarionetten (1929)

    208. Au Wange! Klamauk bei Kroll (Entwurf, 1929)

    209. Au Wange! Schunkelwalzer (1929)

    210. Der abhanden gekommene Romanheld (1929)

    211. Alkoholeske (1929)

    212. Der neue Ibykus (1929)

    213. Memoiren einer Leiche. Antiockultismen (1929)

    214. [Memoiren einer Leiche] (Entwurf, 1929)

    215. Wunder (Fragment, 1929?)

    216. Halb ..... Pasteur (1929)

    217. [Halb ..... Pasteur] (Entwurf, 1929)

    218. Fatamorgana-Maschine (1929)

    219. Fatamorganamaschine. Film (Entwurf, 1929)

    220. Tödliche Anprobe (1929)

    221. Das Gespräch, bei dem ich in die Luft gehn möchte? – – – (1929)

    222. Dionysos und Wir (1929)

    223. In welchem Jahrhundert und in welcher Form möchten Sie gern gelebt haben? (1929)

    224. Auto-Ahasver. Autogroteske (1929?)

    225. Goethe über Schnupfen (1930)

    226. Noch und noch ... (1930)

    227. Wonnemond wich Winterstürmen (1930)

    228. Achtung! Weihnachtsbäume! Naturgetreu! (1930)

    229. Der Roman des Menschen (Fragment, 1931?)

    230. Selbstkarikatur (1931)

    231. Chrysalida (1931)

    232. Geistige Müllabfuhr (1931)

    233. Selbstmord der Reklame (1931)

    234. [Selbstmord der Reklame] (Entwurf, 1931)

    235. Körnchen für blinde Hennen (1931)

    236. Vom tückelosen Objekt. Eine Rastelliade (1932)

    237. Kinder! ...... Kinder? (1932)

    238. Afrika hoch! (1932)

    239. [Afrika hoch!] (Entwurf, 1932?)

    240. Rodel- & Sterbebetten. Skeletoniade (1932)

    241. Dr. med. Shylock (1932)

    242. Der Verschlossene (1932)

    243. Die silberne Dose. Märchen (1932)

    244. Johann Wolfgang von Goethes herrlicher Reitertod (1933)

    245. Heulende Wölfe (1933)

    246. Wasserpuppe mit Zahnschmerz (1933?)

    247. Das sieghafte Schweigen (1933?)

    248. Belauschte Republikaner (Entwurf, 1933?)

    249. Belauschte Republikaner (Fragment, 1933?)

    250. Ascherdonnerstag (1933?)

    251. Ascherdonnerstag. Symbolisches Greuelmärchen (1933?)

    252. Fast Nacht (1934)

    253. Beweis, daß die Deutschen Menschen sind (2. Fassung, 1934)

    254. Der sichtbare Mensch. Eine Anti-Wells-iade (1934)

    255. Die Letzten – die Ersten (1934)

    256. In spe (1934)

    257. Totenlärm (1935)

    258. Die Umwertung des Allerwertesten (1935)

    259. Der vergeßliche Strom (1935)

    260. Friedensberichterstattung (1936)

    261. Sosie Rockefeller. Erinnerung (1937)

    262. Who is who? Porträt eines weltberühmten Zeitgenossen (Backpfeife in Form einer Silhouette) (1945?)

    263. Frieden (mal so im allgemeinen) (1947)

    Rezensionen

    Weitere Abbildungen

    Nachweise und Anmerkungen

    Zur Auswahl und zur Textgestaltung

    Liste der nach den Typoskripten geänderten Titel

    Verzeichnis der Abbildungen

    Literaturverzeichnis und Abkürzungen

    Namenverzeichnis

    Der neckische Mörder

    (1922)

    Ja, Sie haben recht, es ist alles schon mal dagewesen, auch der nekkische Mörder ist so gut schon dagewesen, wie die verdammte Art, etwas so Neues wie den neckischen Mörder so idiotisch aufzufassen, als ob es schon einmal dagewesen wäre. Nur das Dagewesensein ist tatsächlich noch nie dagewesen, es wiederholt sich nichts, sonst wäre es nämlich dasselbe und es gäbe keine Wiederholung, die eigentlich nur das Ähnliche betrifft. –

    Also passen Sie auf! Sie werden wohl wissen, was ein Nähkorb ist, was das Nähkästchen im Leben der Frauen und Mädchen, besonders der Ehemädchen für eine sinnige Rolle spielt. Lotte saß in der dämmerigen Nachmittagsstunde vor ihrem dunkelroten Nähkorb und strengte sich ihre überarbeiteten Augen, aus denen ab und zu, wie wenn es nicht anders sein könnte, eine Träne sikkerte, immer mehr an. Sie gehörte zu den unsympathischen Erscheinungen der Frauenwelt, welche sich einbilden, Handarbeiten gewönnen an Wert, wenn man sie mit Tränen und anderen Feuchtfröhlichkeiten appretierte. Diese Sorte ist immer melancholisch, saugt die sentimentalsten Gifte aus der noch so leichtlebigen Umgebung – und gerade aus dieser, fühlt sich kreuzunglücklich, läßt das einzige, was anständige Menschen hochleben lassen sollten, die Bagatelle, verderben, indem sie lauter Trauerspiele aus lauter Nebensachen macht, klagt fortwährend Menschen und Umstände als Urheber ihrer ewigen Gemütskrankheit an, geht verdrossen ihren Pflichten nach, spielt die immerfort unschuldig Gekränkte, fürchtet und bangt sich grundlos, sieht trotzdem in allen unschuldigen Handlungen anderer die Gründe zu ihrem Lebensekel und steckt schließlich mit diesem Gemütsgift alle, die das Unglück haben, ihr benachbart zu sein, so radikal an, daß zuletzt ein schlimmer Zirkel entsteht, indem diese Ansteckung tatsächlich die ganze Umgebung bösartig und schadenfroh macht, und diese nun auf die Gemütskrankheit erregend zurückwirkt.

    Melancholie junger Mädchen wirkt anziehend auf junge gesunde Männer, entzündet sie nicht selten zur innigsten Liebe; die ja dem Mitgefühl verwandt ist. Man sollte allerdings lieber mit den Gesunden als mit den meistens unheilbar Kranken mitfühlen, die weder sich selber, noch den anderen helfen können. Kurzum, Eduard hatte sich vor etwa vierzehn Jahren in die Lotte leidenschaftlich verliebt; er getraute sich leicht, ihr aufhelfen zu können. Lotte wälzte sich mit ihrer eigentlich gefundenen Lebens- und Liebeslust fortwährend in einem tiefen, ihre Heiterkeit zerfressenden Gram. Sie entstammte einer jener bis zur Bigotterie pietistischen Familien, denen weltliche Lust mit sündigem Frevel fast gleichbedeutend ist, und welche besonders zum Geschlechtstrieb niemals gesunde Beziehungen herstellen können. Dieses naturwidrige Verhalten hatte bei ihren Angehörigen nicht selten zum Selbstmorde geführt. Eduard war ahnungslos. In dem Bestreben, Lotte endgültig glücklich zu machen und ihr keinen triftigen Grund mehr zu ihrem eingebildeten Jammer zu lassen, heiratete er sie, die sich ihm jahrelang freiwillig gegeben hatte, so legitim wie möglich. Er, der viele Jahre in größter Freiheit gelebt hatte, verzichtete Lotten zuliebe fast auf sämtliche Freiheiten seiner Junggesellenzeit; nicht freiwillig auf alle; ein kleiner Kometenschweif Bohème war nicht loszuwerden, wenn er sich wirklich behaglich fühlen sollte.

    Aber Lotte, die vorher vielleicht durch die Finger gesehen hatte, verstand als Ehefrau nicht den geringsten Spaß mehr und entwickelte sich zu dem berüchtigten Megären- oder Xanthippentyp, der mit Vorliebe Gardinenpredigten hält oder muxstill schweigt. Eduard, in seiner ahnungslosen Tölpelei, geriet auf den sonderbaren Einfall, Lotte zur Mutter zu machen. Aber das Mutterglück schwächte ihre schlechten Nerven noch mehr. Dazu verschärfte sich die Lebensnot. Aus Mann und Frau wurden nach und nach zwei harte Mühlsteine, zwischen denen das Kind nebst allem Lebensglück, das etwa noch aufkommen wollte, zerrieben wurde. Die Frau haßte jede freie Regung des Mannes, dessen Geselligkeitstrieb, seine Freunde und gar Freundinnen. Der lange Zeit ahnungslose Mensch erwachte endlich zur Ernüchterung über die heillose Gemütsbeschaffenheit seiner Gattin, welche die Art dieser Kranken instinktiv alle Maßregeln zu ihrer Gesundung verschmähte. Statt dessen bildete sich diese langsame Selbstmörderin ihren Mann zum Mordinstrumente aus. Der Mann war ihr nur noch ein Mittel zur Selbstquälerei geworden. Sie trieb ihn schließlich dahin, daß er an ihrem Verstand, ihrem Werte, ihrer Heilung zweifelte und zuletzt an ihr verzweifelte: als sie ihm wieder einmal mit Selbstmord drohte, und auch das Leben des Kindes durch sie bedroht erschien – schlug er sie tot.

    Sie hatte gerade vor ihrem Nähkörbchen gesessen und riß es in ihrem Todessturz mit auf den Fußboden; dunkelrot stülpte es sich über ihr Haupt, aus dem das Blut ebenso rot quoll. Warum lachte Eduard so neckisch? – Warum holte er das scharfe Brotmesser? – Er säbelte Lotten damit das zerschlagene Haupt vom Rumpfe. Da kam der kleine Junge und weinte. „Sei still, ich nähe der Mutter den Kopf nicht wieder an, sonst schimpft sie zu sehr. Sei still und sieh zu." Der Junge sah, daß der Vater der enthaupteten Mutter das rote Nähkörbchen sorgfältig an den Hals nähte. Ach, sah das sinnig aus! Der Junge lachte. Der Vater ging mit ihm zur Polizei, und der Junge begleitete ihn auf Rollschuhen. Hat man eine Mordkommission jemals so staunen sehen??? Dabei soll alles immer schon mal dagewesen sein!!! – –

    Erlöser und Leben

    (1922)

    Just, als die Strahlen der Sonne wie ein Bündel glänzender Pfeile sich über das Wasser des Jordans ergossen; der schmale lange Fluß einem silbernen Bande glich, worin mit Smaragden Rubinen schimmerten, – schritt ein blasser Mann den geschlängelten Uferpfad dahin; ging langsam, behutsam daher, als fürchtete er, der Erde mit seinem nackten Fuße wehzutun; glitt sanft den welligen Hügel zur Linken des Jordans hinan; setzte sich, das unbeschattete Haupt dem Sonnenfeuer preisgebend, auf den bestrahlten Gipfel.

    Dachte: Herr, wie wunderbar hast Du Deine Erde erschaffen! Du erfüllst Alles mit Deinem Odem und Lichte! Kein Mensch, und wäre es der weiseste, könnte den winzigsten Teil Deiner Taten vollbringen. Und doch gibt es Übermütige, die Deine Werke lästern, Dein schönes Licht mit Blut und Unrat beflecken? –

    Kummervollen Herzens blickte er auf den wunderprächtig funkelnden Jordan hinab .... Siehe da! Mitten im Meer aus Glanz und Licht schaukelte ein seltsames kleines Wesen. Sein flatterndes Gewand schien aus silbernen Sonnenstrahlen gewebt; mildes Mondlicht leuchteten Kinderaugen; die Glieder elfenbeinern zart.

    Der Mann erschrak und sprach: „Bist du des Guten Geist – verweile! Des Bösen? Dann verscheuche dich der Name des Ewigen in die Tiefe des Jordans!"

    Die Gestalt lachte, daß das Lachen am felsigen Ufer widerhallte: „Ich bin weder böse noch das andre Böse, das ihr ‚gut’ nennt. Ich bin das lachende Leben, ewig, überall, ganz äußerlich sichtbar und doch unsichtbar, unfaßbar, innerlichst."

    So lachte die Gestalt und begann ein neckisches Spiel, zerriß sich mit tausend rastlosen Händen in tausend leuchtende Teilchen; erschuf sich anders, immer seltsamer anders.

    Seufzend sprach der Mann: „Kurzlebig sind die Allzubehenden – wie lange wohl wirst du dein sonderbares Spiel noch spielen?"

    „Ich sterbe nie! Nur die Bekümmerten sterben. Meine ewig unbekümmerte Seele belebt den Leib, den ich zerreiße, immer von frischem. Ich bin die Unsterblichkeit. Ich bin das Leben."

    Sie lachte, daß das Ufer schallte:

    „Wie hieß euer Weisester? War es nicht der große König Salomo? Wo ist dieser Bejammerer der eitelen Welt? Dieser Fleisch gewordene Kummer? Der mein ‚Stirb und Werde!’ mit dem Tod verwechselte? Tot! – – – Und wer bist du?"

    „Ich bin der Erlöser des Lebens."

    „So erlöse mich von meinen schlimmen Erlösern, heißen sie nun Buddha oder Mauthner! Sie kennen mich nicht. Ich bin das Leben. Sie können nicht leben. Sie können nicht von Herzensgrunde aus lachen. Lernst du dieses Lachen nicht, Erlöser, so wirst du den Tod nicht lachend überwinden wie ich. Ich bin die Seele aller Seelen, das ewig lachende Leben."

    Eine Wolke glitt an der Sonnenscheibe vorüber. Das Wasser des Jordans färbte sich schwarz. Wo das neckische Wesen geschimmert hatte, lag trübes Dunkel.

    Der Erlöser lachte nicht. Sein Herz wurde von unendlichem Weh ergriffen: „Das ist das Leben? Was ist denn mein Leben?"

    Er lachte nicht, sondern wartete auf Antwort .... vom Ufer widerhallte das Lachen des verschwundenen Lebens unsterblich rätselhaft.

    Der Beweis, daß die Deutschen dennoch Menschen sind

    (1923)

    „Den lieb’ ich, der Unmögliches begehrt!"

    (Goethe)

    Mit diesem Beweis geht es doch ganz schnurrig: anfangs hält man ihn für unerbringlich schwer; in der Folge jauchzt man förmlich frenetisch auf, denn à la Spinoza, more geometrico, wähnt man, ihn erbracht zu haben. Man glaubt sich seiner Sache so sicher, vermeint, das blühende Ergo schon aus dem evidenten Umstande sprießen lassen zu dürfen, daß viele Deutsche – mag auch der Drang bei manchen wollüstig stark, fast unwiderstehlich werden – ihm dennoch sauer widerstehen und nicht auf vier Beinen gehn; wogegen allerdings ein paar Säug- und heldenhaft invalide Jünglinge so heftig wie lallend Protest erheben könnten.

    Ich behaupte trotzdem und mache, zu beweisen, mich anheischig: daß nicht nur die deutschen Mannen, sondern (und hier bin ich mir bewußt, an die Imagination horrende Ansprüche zu stellen) auch das deutsche Weib, sogar der deutsche Backfisch, die deutsche Hausfrau (gehöre sie welcher Partei immer an), – ih! auch die deutsche Dirne weder Tiere noch auch nur Pflanzen, wo nicht gar Mineralien, sondern veritable Menschen sind. Ich werde mich durch ein Rindvieh, das gegen den seine Scham nicht schlecht verletzenden Verdacht, nur ein Deutscher zu sein, rebelliert, nicht stören lassen. Ebensowenig durch den kerndeutsch monistischen Geheimrat Ostwald, der sich die vierte Raumdimension – bravo! – schon anschaulich vorstellt, womit er mein kaum erst emporkeimendes Ergo in den Boden zurückstampft; quelle bêtise ...

    Aber der Beweis, daß die Deutschen Menschen sind, läßt sich schulgerecht führen: sie sind nicht Nicht-Menschen; das ist die vorsichtige Thesis. Erfordert zum Beweis ist 1. die Definition des Menschen; 2. die des Deutschen; 3. ist peinlich zuzusehen, ob jene diese aus- oder einschließe? Der vierte Fall wäre geradezu monströs, indem die Deutschen dann weder Menschen noch irgend etwas anderes, also garnichts wären; ein Fall, der (mindestens in dieser Akkuratesse) nicht einmal auf den deutschen Exkaiser, verwunderlicherweise nicht einmal auf dessen Angehörige nebst Gefolge, ja noch nicht einmal auf Professor Engels oder gar Adolf Bartels zutreffen würde, wiewohl kein Professorat Schutz vor der Nichtigkeit gewährt.

    Ad 1): Definition des Menschen: Am eindeutigsten ist wohl der Mensch dadurch definiert, daß er bereits im Mutterleibe (studieren Sie den blühenden Sinn Hansel Blühers) unverkennbar Antisemit ist; woraus erhellt, was man Deutschen, seien sie Menschen, Unmenschen oder garnichts, nicht erst zu beweisen braucht, daß Juden, mögen sie sonst sein, was sie wollen, jedenfalls keine Menschen sind; sie verdienen keinen Beweis, zumal ihre schamlose Behauptung, zum menschlichen Geschlecht zu gehören, sie vollends zu Nichtmenschen stempelt. Viele Deutsche werden hier hipp-hipphurrah, Volldampf voraus und „jetzt wollen wir sie dreschen!" rufen. Aber, Deutsche, seid gewarnt! Noch nämlich seid ihr nicht definiert. Zwar geht im Schwange, sie wären das Undefinierbare schlechthin. Trotzdem schreitet unser Beweis weiter fort:

    Ad 2): Definition des Deutschen: Vor Zeiten freilich, bei stolzen Römern, war nicht der Jude, sondern der Christ das odium generis humani. Solcher Schimpf tut dem Menschentum keinen Eintrag. Gilt also heute der Deutsche das in der Welt, was der Jude in Deutschland gilt, so könnte er doch als Mensch definierbar sein. Und – evoe! – wie ist die Definition des Deutschen doch so kinderleicht, so lakonisch: der Deutsche – ja, bitte, setzen Sie sich, wenn Sie stehen sollten! – ist Sieger, resp. Siegerin; das deutsche Kind bereits Siegerlein ... Probieren Sie! Alles und jedes am Deutschen, seine blutigsten Niederlagen, seine allgemeine Verhaßtheit, sein eventuell restloser nibelungischer Untergang originiert von dieser Marke seines Charakters, seinem Siegertum, seinen Triumphen über alles, über alles in und außerhalb der Welt.

    Ergo: Ist er nicht nur nichts, sondern – 1) und 2) zusammengeklappt: der Un-, der Antijude par excellence, der Mensch a potiori. Und dennoch kommt das Quod erat demonstrandum unseres scheinbar spielend gelungenen Beweises, daß die Deutschen Menschen sind, nur gequält und stöhnend heraus. Kennt man die tausend Tragödien des Siegers? Sieger sind die verhunztesten Geschöpfe auf Gottes weiter Welt. Niemand kann sie ausstehen; sie werden bespien, verhöhnt, verstümmelt, unkenntlich gemacht, bis sie sich – for shame – vom Juden kaum noch unterscheiden; man verfolgt, versprengt sie über die Erde.

    Weh geschrien! Wo ist unser Beweis? Entartet zu der Feststellung, daß der Mensch kein Deutscher, der Deutsche Übermensch und quasi Jude ist? Wie würde den verstorbenen Jehova das lächern! Ernste Blüher-Janer versichern mir, der Beweis sei dialektisch, und ich selber nicht so sehr Mensch wie Sophist. Ich muß gestehen, ich ziehe spaßige Leute, z. B. Relativisten, G. Hauptmann, R. Eucken und andere Nobelpreisträger den ernsthaftesten Bestien vor. Die Relativisten, voran der Über-Einstein Moszkowski, werden mir kälbernd zugeben, daß der Mensch kein Jude, der Deutsche siegreich, also bankerott, der Jude kein Sieger, der Deutsche, als Gegenpol zum Juden, ein Auch-Jude, als solcher kein Mensch, als besiegter Sieger Mensch und Unmensch zusammen ist.

    Immerhin rät Bismarck, Deutschland in den Sattel zu setzen (worin Aehrenstein eine feinkomische prophetische Anspielung auf die vormalige Sattlerschaft des Reichspräsidenten Kleon gewittert hat).

    Genug und übergenug! Der Beweis ist mindestens so triftig wie die Deutschen selber geliefert. Schlägt ein Deutscher seinen Liebknecht und dessen Rosa tot; haut er dem Harden eins; kartätschelt er den Rathenau oder den ebenfalls leicht ermordbaren Helfferich: so möcht’ er im Grunde nur sein sonst so problematisches Menschentum beweisen. – Statt dessen mache er’s wie wir hier. Unser Q. E. D. ist weniger blutig, aber nicht weniger schlagend. Unser Beweis ist siegreich, d. i. ein deutscher Beweis, eine Schlange, die sich tiefsinnlich in den eigenen Schwanz beißt. Eine Schlange? ...

    Still, still! Wir müßten denn den aufsteigenden Argwohn unterdrücken, daß die Deutschen Schlangen seien. Aber wenn auch! Sie wären ja dann doch wieder Menschen – Schlangenmenschen ... Q. E. D. .... Q. E. D.

    Die neue Mellosine Reklameske

    (1923 ?)

    Professor Richard v. Pforzheim war enfant gâté bei der jungen Fürstin von Schleim-Greim-Dudelstadt. Von seiner Expedition nach dem Titikakasee zurückgekehrt, wurde er zum Afternoon bei Durchlauchtens befohlen. Was ihm denn in Amerika ganz besonders imponiert habe, wurde er von der Hofgesellschaft mit Fragen bestürmt:

    „Zweifellos, Durchlaucht, meine Damen und Herren, – die Reklame, die ebenso gigantische wie überaus geschickte, psychologisch suggestiv ins Schwarze treffende Reklame. Zwar in allerletzter Zeit haben wir auch in Deutschland ein wenig gelernt. Wenn Durchlaucht gestatten, möchte ich ein paar Beispiele geben. Wir haben da den kußsicheren Lippenstift; den Kaugummi Molo (bezieht sich nicht etwa auf gewisse Romane); den Schwimmring, mit dem jeder sofort schwimmen kann; den – pardon! – Hundeabort für Zimmerhunde, D.R.P., absolut geruchlos (Aufträge an Bark Adolf, Frkfrtm.-Heddernheim), erstes Vierteljahr kostenlos; die elegante Ausgleichung unschöner Beinformen (Hermann Wolff, Hamburg 4), über die sich allerdings der reitende Bäckermeister Sr. Durchlaucht beklagt: er hatte die gewissen Bäckerbeine. Der Arzt verordnete ihm ein Pferd, und die Beine krümmten sich, da der Mann rhachitisch ist, o-förmig. Nun wandte er sich an obigen Wolff (Hamburg 4), mit dem Resultat, daß das eine Bein x-, das andere o-förmig erschien; jedes für sich, wie man sagt, ein Kunstwerk; nur beide zusammen untauglich; er prozessiert. – – Hakenkreuz-Einstecknadeln empfiehlt uns E. Miehlig (Berlin S.O. 26). Ob das der nämliche ist, der zum nächsten Winterfeldzug heizbare Eiserne Kreuze vorschlägt? Jedenfalls haut Der, der Öfen in Gestalt berühmter Männer und Frauen, z. B. heizbare Hauptmann-Büsten anfertigt, in diese Kerbe. – – Den leuchtenden Sternhimmel im Schlafzimmer hat C. Krüger in Trins (Schweiz) erfunden: du liegst im Bett und glaubst, den strahlenden Himmel des Hochgebirges über dir zu sehen. – Famos ist auch der rechnende Bleistift (Berlin W. 9); Okasa für Männer (Patent 305667, Kronenapotheke, Berlin); Zeichenapparat Tausendschön (Öchsle, Stuttgart); Strümpfe ohne Löcher, D.R.P. (Mosse, Berlin, unter J.K. 2571); Ring mit Spiegel, die Sehnsucht der Dame (J.J. 4168, Mosse, Berlin); der aufblasbare Gummibügel (Gronemann, Berlin). Und sorglos schlafen Sie mit Zeus an der Tür (Zeus-Industrie G.m.b.H., Chemnitz) ......."

    Was war das ....? Irgendwer hatte dumpf geseufzt, und zwei Sekunden später rümpften sich sämtliche Nasen, nur die des Fürsten nicht, er hatte, wie jener berühmte Medici, keinen Geruchsinn. Einige Damen waren der Ohnmacht nahe. Der Professor konnte, weil er mit einem Erstickungsanfall kämpfte, nicht weiterreden, und die Fürstin winkte der Kammersängerin Huldine Fernkäs, die dann notgedrungen, mit Aufbietung aller ihr möglichen Atemtechnik ‚Die linden Lüfte sind erwacht, sie säuseln und wehen ...’ ertönen ließ. Kaum war das Lied verklungen oder besser verduftet, als der Fürst die schöne Künstlerin in eine Fensternische nahm; sie war seine erklärte Mätresse: „Sag’ mal, fragte er sie, „was war denn das wieder mal? „Stinkbombe, antwortete sie lakonisch, „deine Hochgeborne verdaut übel ... Dem fürstlichen Auge entglitt das Monokel. „Lieber Benno, du hast mich verstanden. Ich verabschiede mich jetzt, sei lieb und folge mir unter irgend einem Vorwande! Ich gebe dir ein probates Heilmittel." Sie machte vor der ihre Züge eisern beherrschenden Fürstin ihre Reverenz und eilte davon. Wenige Momente später empfing sie den Fürsten bei sich.

    „Schon seit einiger Zeit", begann Huldine, „ist deine Gemahlin, lieber Benno, aus diesem Grunde, den man wohl Hintergrund nennen dürfte, gezwungen, ihren beliebten schöngeistigen Cercle kaum noch abzuhalten. Wie du siehst, mißlang auch dieser letzte Afternoon. Sie tut mir schon um deinetwillen leid. Gewiß, bei Niemandem ist die Verdauung ohne allen Anstoß, aber bei der Durchlauchtigen kommt es dir zu Evaporationen, die den Aufenthalt in ihrer Nähe, zumal bei tiefen Bücklingen, lebensgefährlich machen. Es ist was faul im Staate Schleim-Greim; beim Auto würde man von argem Auspuff reden ... Kurzum, es muß etwas dagegen geschehen, und glücklicherweise kann ich abhelfen. Um es möglichst ruchlos auszudrücken, war einst auch ich ein solcher ... ballon d’essai. Damals tragierte ich eines Abends auf dem K.K. Stuhlweißenburger Theater Schillers Maria und verlor beinah mein Engagement, als Mortimer in der berühmten Szene sehr ungelegen starb, d. h. sein Bewußtsein verlor; denn, mir zu Füßen sinkend, hatte er nicht sowohl meines Geistes als vielmehr meines Leibes einen Hauch verspürt ..." Hier sprang der Fürst auf, näselte verächtlich und klemmte sein Monokel fester. Sie zog ihn schmeichlerisch zu sich nieder:

    „So höre doch, wie ich mich rettete und rette dein armes Weib genau so! Ich kan [...] als einen éclat. Ratibor war in der Loge gewesen und setzte dem Intendanten die Hölle zu. Ich aber –", sie erhob sich, rollte die Jalousie ihres blanken Biedermeiersekretärs hoch und entnahm einer gebauchten Schublade ein zierliches Etui, „voilà!" Der Deckel sprang auf. In Seide gebettet, zeigte sich ein Stöpselchen oder Zäpfchen, das wie eine winzige Wurst aussah.

    „Gott schütze mich, rief der verwunderte Benno, „was soll das! „Reg’ dich ab, Benno! Huldine umschlang ihn dringend und weihte ihn ein: „Nach meiner schlechten Aufführung erschien im Morgenblatt ein an mich gerichtetes Sonett, das mir mein Leben wiedergab. Ich ließ den Dichter kommen, da das Sonett mir ein Rezept verhieß. Er war Agent einer Entgasungsanstalt und telegraphierte auf meine Bitte direkt an Melloversand (Stuttgart 10 a). Sofort erhielt ich diesen entzückenden Mello. Instruktiv hieß es im Prospekt: ‚Mello ist D.R.P., nur der Mello hilft. Er ist äußerst einfach und versagt nie, öffnet auch bei geringstem Gasdruck, schließt gleich wieder u. entfernt immer in winzigen Mengen u. überraschend oft viele Gase, auch bei denen, die sie fast nie fühlen, u. wo sie sonst ins Blut gehen. Wir senden sofort 25.- M. zurück, wenn er unangenehm empfunden, oder der Gasabgang von andern bemerkt, u. wenn der Stoffwechsel nicht dauernd besser wird.’

    Flugs begab sich Benno zur Fürstin. Es gab eine große Szene. Aber kurze Zeit später war die Hohe Frau physikalisch gasefrei, bekam Sitz und Haltung. Allerdings sprach es sich doch herum, und im Volke hieß sie nur noch Mellosine, die Hofdamen Mellonen. Jedenfalls stellten sich die Schöngeister wieder ein und flöteten ihre ‚Mellodien’ desto lieber, als es der Hofparfumeur verstanden hatte, dem Apparat ein gewisses changierendes Odeur zu verleihen.

    Wie dankbar war Benno der Fernkäs! Und nun lag er ihr immerfort an, ihm jenes Sonett-Rezept vorzusingen. Sie überwand schließlich ihre Schämigkeit, und der Fürst lauschte, den Wohlklang ihres Organs mit wollüstigen Ohre trinkend:

    „An unsere unvergleichliche Mellopopomene!

    Von einem vor Liebe Stotternden.

    Hör’ flehen mich auf meines Herzens Cello

    Zu deiner Augen sammetgoldnem Niëllo:

    Vielleicht bin ich kein graziöser Bello –

    Allein ich biete Rettung dir – das Mello!

    Dann hauchst du Duft wie Heinsens Ardinghello,

    Zu seiner Muse wählt dich Pirandello,

    Und du beglückst mich leid’gen Poverello ..."

    Der Fürst lächelte säuerlich-eifersüchtig: „Ähämhäm, hüstelte er und schwenkte das Monokel wie peitschend gegen seine Geliebte, „weißt du, wie ich dich von jetzt an nennen werde? ... ‚Durchschlaucht!’ ...

    Man fällt nicht gern auf

    (1923)

    Mutter Nöddel hatte ein Sortiment hübscher Töchter, zu denen sie noch ein Schock junger Damen gern in Pension nahm, und die ganze Nachbarschaft freute sich über die brave fleißige Frau. In derselben Stadt wohnte der bejahrte Produktenhändler Dr. h. c. Gauck, der, viele Millionen erschachert habend, dort seine Ruhe genießen wollte. An den Gittern seines Parkes sah er täglich um die Mittagstunde Mutter Nöddels Mädchenschar wie bunte Schmetterlinge vorüberflattern, und das rührte ihn nicht wenig. Er lag in weichem Pfühl auf seiner Terrasse und blickte, über die marmorne Balustrade, den lieben Mädchen mit weichen Gefühlen nach; manche alten Herren haben das so eigen; sie verleumden sich dabei keineswegs. Dr. Gauck aber verdächtigte sich sofort gewisser Hinneigungen, und da er sehr mißtrauisch war, und der bloße Argwohn ihm zur Bewahrheitung genügte, verteidigte er sich nicht lange gegen sich selber, sondern streckte sofort die Waffen und begab sich zu Mutter Nöddel; einigen Töchtern, die ihm im Vorflur begegneten, strich er gleich sanft über die Köpfe, in denen sich zwar etwas über ihn wunderte, aber nicht allzu sehr, da Dr. Gauck eine blaue Brille trug und grau und reputierlich genug aussah.

    Was Dr. Gauck mit Mutter Nöddel verhandelte, kann man nur mutmaßen: er hielt nicht etwa um die mürbe Hand der guten Dame an, wollte auch nicht etwa Schwiegersohn werden; eher schon Hausfreund im allgemeinen, Gönner oder so ... Und Mutter Nöddel schien einverstanden. Sie schickte dann ihre Töchter zum Einholen aus und telephonierte nach allen Windrichtungen um Weine und Delikatessen. Die Abendtafel sollte diesmal besonders fein werden und sich länger ausdehnen, da sie liebe Gäste, z. B. auch den „entzückenden" alten Herrn erwarte, der sich für das Gedeihen ihrer Pension in der menschenfreundlichsten Art interessiere. Mit welchem Elan arrangierten die Mädchen die leckere Abendtafel! Sie schmückten sie mit Orchideen und glichen selber in ihren ausgeschnittenen Gewändern den seltensten Blumen. Und Mutter Nöddel war so gut, ein paar Friseusen kommen zu lassen, von denen die Mädchen onduliert, gepudert, ja sogar manikürt wurden. Aber jungen Mädchen fällt es nur sehr angenehm auf, wenn man sich um ihr Äußeres bemüht.

    Inzwischen war auch Dr. Gauck nicht müßig geblieben. Alle Naselang nahm er etwas ein, das tonisch zu wirken schien. Sodann ließ er sich von seinem Kammerdiener kneten, duschen, frisieren, zuletzt in full dress enveloppieren; er stach nun sehr vorteilhaft von jedem Mandrill ab (dachte der Diener). Gauck beabsichtigte nicht etwa, sich allein zu Mutter Nöddel zu begeben; er war kein Egoist; sondern er hatte seine Freunde vom wunderschön bevorstehenden Abendschmause (mit daran sich schließendem Tänzchen!) säuberlich avertiert. Allein er hatte – hoffentlich wohl kaum in einer Art gütiger Bosheit? – seine Auswahl nicht ganz korrekt getroffen: denn es befand sich unter den von ihm im Namen der Mutter Nöddel Aufgeforderten der junge, bis fast zur Prüderie züchtige Theologiekandidat Ernst Otto. Wenn wir hier Gelegenheit nehmen, von einem Engel, einem himmlischen Abgesandten und Vertreter der göttlichen Reinheitsidee zu sprechen, so fassen wir diesen keuschen Jüngling dabei ins Auge. Man hätte ihm gern zugetraut, er werde die Einladung ablehnen; dann würde man seine arglose Ahnungslosigkeit weit unterschätzt haben! Ernst Otto’n war gewiß nichts Menschliches fremd; er war klug wie Schlangen, die ja zugleich ohne Falsch wie Tauben sein können.

    Ernst Otto also und die anderen, meist älteren Herren, darunter ein Ehrenbürger von Kiel, begaben sich, Dr. Gauck an der Spitze, ins äußerlich nüchterne Haus der Mutter Nöddel. Inwendig aber fanden sie, zu ihrer nicht geringen Verwunderung, nichts weniger als bürgerliche Nüchternheit vor. Mutter Nöddel, im Décolleté, von zwei Töchtern, die sich wie Ranken im Winde bogen, geleitet, trat ihnen strahlend entgegen. Um die Orchideentafel brandete ausgelassenes Lachen erglühter Mädchenköpfe. Nach dem ersten Stutzen hatten die Herren die Situation erfaßt und versuchten, mit Glück, die Stimmung noch weiter zu erhitzen, ein Vorgehen, dem Ernst Otto zwar nicht verständnislos, aber immerhin in widerstrebendem Mißtrauen gegenüberstand. Jedoch bald saß, ja lag er wie die andern auf irgend welchen Polstern und Kissen, die über den Fußboden hin zerstreut wurden. Man trank einander zu; Ernst Otto hielt mit.

    Es sei indes gesagt, daß innerste Höflichkeit des Herzens, die aus Zartheit, irgendwen beschämen zu sollen, die Sitten, respektive die Sittenverderbnis der Anderen mitmacht, stärkere Wirkungen herbeiführt als Alkohol. Ernst Otto verlor weder seine Besinnung noch seine sonstige Seelenintegrität: nur seinen Leib wollte er von denen der Anderen nicht auffällig abstechen lassen; er machte, nur um keinen Anstoß zu erregen, das Anstößige so schnurgenau mit, daß ... man erstaunt war! Denn gerade durch diese himmlische Heuchelei stellte er die ursprüngliche Unschuld und Ehrlichkeit selbst bei Dr. Gauck und sogar, was noch mehr sagen will, bei Mutter Nöddel wieder her. Nicht als ob die hehre Feier sanft in ein idyllisches Teekränzchen entartet wäre – aber man besann sich auf das gute Ich, gerade als man ein einziges gutes Ich die Besonnenheit scheinbar verlieren sah. Oh, stelle man sich doch vor, Gott machte auch nur einen Moment lang die Bewegungen des Satans mit und führte in den lauteren Himmel plötzlich die Gewohnheiten der Hölle ein: – wie alsdann die ganze Welt gleichsam eine Atempause einhalten, sich dann aber erst recht auf ihre göttliche Berufung besinnen würde: – so pausierte hier die Frivolität, als Ernst Otto sie mir nichts dir nichts mitzumachen schien. Die naive Unschuld der Mädchen verschmolz mit dem wissenden Takt des Theologen zu einer dermaßen erziehlichen Gewalt, daß sämtliche Herren, zuletzt auch der Ehrenbürger von Kiel, die goldenen Uhren zogen, den Damen formvollendet die Fingerspitzen küßten, Mutter Nöddeln, die ein wenig aufbegehren wollte, durch heimliche Douceurs beruhigten und sich würdig und gemessen empfahlen. Der Theologe blieb noch einige Minuten; es gelang ihm, die armen Lämmer feinsinnig aufzuklären; sie schliefen ihren Rausch aus und hatten bald Alles vergessem.

    Ernst Otto wurde Hausfreund bei Mutter Nöddel, er leistete Erstaunliches in der seelischen Zurückführung dieses strauchelnden Wesens auf den echten Ausgangs- und Haltepunkt.

    Man sieht an diesem Beispiel sonnenklar, was vor allen Dingen die Welt regiert: auf den ersten Anschein würden sich die Herren selber, unter Ausnehmung Ernst Ottos, für leichtsinnige Lebemänner zu halten haben; aber unser Beispiel macht uns klar, daß es so wenig tiefe Selbsterkenntnis gibt. Es ist wahr, man dringt ein paar Meilen tief in die eigene Seelensphäre ein und findet sich gehörig irdisch, höllenfeuerhaft und schmutzig genug. Aber grabt tiefer, bohrt die kleine Erdkugel durch und durch, und der Himmel kommt rundum zum Vorschein, und ihr seht sie in all ihrem Unsal vom reinsten Äther umrungen und durchdrungen. – – Mutter Nöddel brachte es bis zum Verdienstkreuz am weißen Bande, das ihr der Ehrenbürger von Kiel selbst an die üppige Brust heftete. Dr. Gauck starb (vielleicht infolge seiner Anstrengung durch sittliche Wiedergeburt) ein paar Tage später und hinterließ eine Stiftung zur Ehrenrettung gefallener Mädchen. Frau Nöddels älteste Tochter heiratete den Theologen; auch die anderen Mädchen verheirateten sich günstig. Kurzum, es gibt keine Lebemänner, die es von Grund aus wären. Denn man fällt nicht gern auf, man sticht nicht gern von echter Anständigkeit ab – erst recht nicht, wenn diese, aus zarter Schamhaftigkeit, frivol tut. Und Unschuld, Dirne spielend, wäre das Ende aller Dirnen.

    Produktivität

    (1923)

    Wer überhaupt weise werden kann, wird es erst im hohen Alter; aber bereits vorher kann er den Grund erfahren, weswegen es ihm bis dahin so sehr erschwert ist, vernünftig zu sein: Zwischen seinen besten Willen und dessen Ziele schiebt sich eine hemmende Verdrängung ein, die, wegen ihres ungemein Verführerischen, nicht nur wohlgelitten, sondern geradezu begehrt wird: die Sexualität mit ihren unsinnigen Akten und Pakten. Es ist nämlich gar nicht wahr (was schlechte Seelenkenner so gern und Freudig behaupten), daß die Sexualität nur verdrängt und nicht noch überaus mehr verdrängend ist – ah, sie verdrängt gerade das Allergeistigste, die geistige Zeugekraft und Fruchtbarkeit nur allzu leicht. – – Privatdozent Gregor Jalokin, ein starkhirniger Mann, hatte (zu seinem und seiner Freunde innigem Bedauern) auch übermäßig kräftige Lenden mit auf die Welt gebracht. Schon die deutschen Romantiker haben den unheimlichen Antagonismus zwischen Gehirn und Genitalien zu den sonderbarsten Spielereien verwertet. Jalokin wollte gewiß gern herrliche Bücher schreiben; er hatte irgendwo Genie, und ihm schwebte seitenlang ein Werk über die furchtbaren Schädigungen der Kultur durch allzu lange Friedenszeiten vor. Kants Schriftlein „Zum ewigen Frieden" erregte seinen laut lachenden Unwillen – denken Sie mal! Immer jedoch, wenn er sich hinsetzte, um seine genialen Bellizismen – ktema eis aei – feurig aufs Papier zu spritzen, begannen seine Lenden brünstig zu brodeln und depotenzierten seinen schwangeren Geist. Wie peinlich ihm das war, läßt sich nicht beschreiben; er nahm Gegenmittel, versuchte es mit Lupulin und Kampher – umsonst, c’était plus fort que lui; d. h. also, die Geschlechtlichkeit, die rein leibliche Schöpferkraft verdrängte seine echte Spontaneität. Und weit entfernt, sich träge der wollüstigen Schwere zu überlassen, nahm sein starkgeistiges Gehirn wacker den Kampf mit dem auf, was er treuherzig die Mächte der Hölle nannte, obgleich er genügend aufgeklärt war, um diese blöde Bezeichnung als vulgären Truismus zu erkennen.

    Gewiß gehört, unter allen Umständen, der stärkste Geschlechtstrieb, die prächtigste Potenz zur conditio sine qua non des Genies. Das Genie, ohne feurig animalische Triebe, ist wie ein wunderschönes Dampfschiff ohne motorische Kraft. Gleichwie aber diese wohlgebändigt und streng reguliert in starkem Kessel eingefangen werden muß, um, über künstlich ersonnene Einschaltungen hinweg, das Fahrzeug wirklich vorwärts zu treiben, so müssen auch die Triebe, sollen sie das Genie wirklich fördern und nicht etwa hintanhalten, nicht unmittelbar, sondern vermittelst eines ökonomischen Retardationssystems auf das Gehirn einwirken; gerät es z. B. unmittelbar unter die geilen Antriebe der Genitalien, so explodiert das Genie anstatt sich z. B. wie bei W. Rathenau oder O. Bie himmlisch sanft zu äußern, während es (bei Mynona beispielsweise) nur noch Zoten verbricht.

    Gregor Jalokin hatte nun aber zwischen Gehirn und Genitalien nichts interkaliert als allenfalls seine Ambitionen, seine weltlichen Eitelkeiten, die Karriere, die zu erringende ordentliche Professur u. dgl. törichten Unfug, den das rechte Genie nur notgedrungen mitmacht, nicht wahr? Folglich wurde sein Genie zum Sklaven seiner Leidenschaft; er entartete zum baren Pazifisten, aber ohne diesen Pazifismus gleich Kant in wirklich genialer Weise zu beweisen; sein Buch wurde weniger gut als gutmütig und bewährte Zeile für Zeile die Geistesabwesenheit des Genius. Der zahlreiche Chor der Lendenlahmen applaudierte, bis, wie zum Trotz, irgendein Weltkrieg es als Kanonenfutter verzehrte, und der vertrottelte Jalokin ein Flugzeug zur Flucht ins Neutralien benutzte.

    Ja, Gregor hatte sein ursprüngliches Genie auf den geilen Hund der Genitalien gebracht. Er schrieb überhaupt keine Bücher mehr, sondern ließ sich von irgendwem heiraten und erzeugte nicht nur ein Kind nach dem andern, sondern jezuweilen sogar mehrere zugleich. Es rächte und bewahrheitete sich an ihm der alte Fluch: Aut liberi aut libri!

    Mit höchster Wahrscheinlichkeit stehen Psychoanalytiker, welche auch dieses Beispiel als Beleg dafür heranziehen möchten, daß des Menschen Äußerungen aus verdrängter Sexualität hervorgehen, mit ihren Gehirnen schon selber unter dem unregulierten Druck, Zug und Anstoß ihrer Genitalien. Verdrängt sind Genie und Vernunft, und zwar durch die ungebändigt geile Brunst, welche, statt nur zur Anfeuerung des Genius zu dienen, ihn in ihrer Schwüle verbrennt. Wie denn wäre jemals die Sexualität, verdrängt oder nicht, etwas Besseres als Heizmaterial? Wer wird denn den Kapitän mit dem Heizer verwechseln? Wer wird die Handlungen aus der offenen oder im Unterleib des Schiffes verborgenen Kesselfeuerung herleiten wollen? Immer wieder nur proletarische Psychoanalytiker, wie Gregor Jalokin einer wurde.

    Urahne, Ahne, Mutter und Kind etc. etc. ...

    (Entwurf, 1923)

    Mietseinigungsamt, Wohnungsamt. Also entsetzlich. Wer solche Schwierigkeiten macht, legt es darauf an, beschwindelt zu werden. Ich bin ein gewissenhafter Mann. Aber ich brauche eine möglichst nette geräumige Wohnung. Es mag eine Schwäche sein – unter vierzehn Zimmern tue ich es nicht. Man ließ mich gegen vier Jahre warten und bot mir dann eine Zweizimmerwohnung an, die ich mit einem jungen Handwerker-Ehepaar ‚vorläufig’ teilen sollte. Ohne Badezimmer, ohne Müll- & Leichenschacht, ohne Safe, ohne eingebauten Schmuckkasten, ohne Reitbahn, ohne Billard, ohne Radio; kurzum: ohne Existenzmöglichkeit. Und junge Ehepaare sind mir ein Gräuel. Schon alte Ehepaare, selbst einigermaßen geschiedene kann ich nicht mehr verdauen; ich mag weder das normale noch das anormale Leben. Mich stört alles. Ich muß allein sein, soweit das irgend in dieser scheußlich geselligen Welt noch geht. Zur Einsamkeit braucht man eine sehr geräumige Wohnung und – dicht anbrandende Großstadt. Eine Insel darf nicht allzu klein sein; und je aufgeregter das Meer ringsum sich benimmt, desto mehr ist sie Insel. Sollte ich mir vom Wohnungsamt meine Lebensbedingungen verpfuschen lassen? Man zwang mich zur List, zur Lüge, zum Schwindel.

    Ich ging in die Dragonerstraße zu einem Fabelwesen, das sich Gedalje Cunosohn nannte und aus Zerstreutheit Legitimationspapiere herstellte. Ich nahm Unterricht bei einem Verwandlungskünstler und ging in folgende interessante Vielheit auseinander: erstens war ich Ich-selber (eine Angelegenheit, die mir schwerer wird, als man meinen sollte). Zweitens meine Frau, mein anderes Ich, eine resolute Person mit gellender Stimme. Dann mußte ich drei halbwüchsige Kinder mimen, zwei Jungen und einen dummdreisten Backfisch. Selbstverständlich nicht simultan. Die ganze Chose ging nur sukzessiv. Ich besorgte Garderobe für sieben englische Pfund. Ein Großelternpaar und eine Magd glückten mir überraschend gut. Erst ein Schwindler, ein Vortäuscher merkt, wie vertrauensselig noch die mißtrauischsten Leute sind, geschweige denn die im Wohnungsamt. Ich ging jeden Tag hin. Mein Clou war die alte Großmama. Mit der hatten sie Mitleid, und Mitleid ist ja einer der dümmsten Engel. Als sie erst Mitleid kriegten, machte ich ihnen als meine Frau die Hölle heiß. Kraft meiner Devisen erhielten ‚Wir’ eine wunderschöne Etage am Kurfürstendamm, mit allem Komfort.

    Da hausten wir nun ungehudelt. Natürlich sieht man uns nie zusammen. Wie soll ich das machen? Aber rasch nacheinander sieht man uns oft zum Fenster gucken. Ich gucke als meine eigene Frau zum Fenster und unterhalte mich bauchrednerisch mit meinen Lieben. Meistens bin ich vornehm, man merkt nichts von uns. Aber um den Schein zu wahren, muß ich tagtäglich diese manœuvres vornehmen. Immerhin sehe ich mich nach einer Villa um, in der ich nicht immerfort auf dem Quivive zu sein brauche. Mittlerweile führe ich diese schwer anspannende, zu hundert Erfindungen und Ausflüchten nötigende Existenz. Die Portierfrau beginnt sich zu wundern, daß man uns nie zusammen sieht. Ob ich das Weib ermorde? Mit Wachsfiguren zu operieren, wäre dilettantisch. Dagegen lasse ich in meiner Abwesenheit automatischen Lärm in der Wohnung vollführen. Ich bin aber niemals lange abwesend, und wenn ich wiederkomme, klärt sich jedes Mißverständnis auf. Ein einziges Mal hatte man behördlicherseits, als ich auf ein paar Stunden ausgegangen war, die Wohnung öffnen lassen. Seitdem habe ich mehr Ruhe, weil man sich durch den Anblick der reichen, vielgestaltigen Garderobe täuschen ließ. Damals war selbstverständlich meine gesamte Familie verreist gewesen, nicht wahr?

    Wer soll auf den Gedanken kommen, daß ein einzelner Mann eine zahlreiche Familie spielt, um sich eine große Wohnung zu sichern? Dabei legt doch die Zeit eigentlich Vielen diesen einfachen Mehrheitsgedanken so nahe! Oh, wie wohl ist mir nicht nur am Abend! Nur muß ich demnächst noch unseren Umgang, unseren Verkehr hinzulernen. Ich muß mich als mein Freund besuchen (seine Frau kommt in einer Stunde nach: „Portier, passen Sie bitte auf, es kommt noch eine Dame; hier ist nur ein Fünfmillionenschein, verzeihen Sie; ich habe kein Großgeld bei mir!").

    Man hat so viele Gelegenheiten, sich unbemerkt umzuziehen. Sollte die Sache zu brenzlich werden, bevor ich meine Villa kriege, so tausche ich meine Wohnung halt um. Es gibt ja tollerweise wahrhaft zahlreiche Familien, die mir Dank wissen würden. Gegen Überlassung einer netten Villa bin ich jederzeit bereit. Offerten erbitte ich unter ‚Proteus’ an die Expedition dieses Blattes. Discr. Ehrens. –

    Urahne, Großmutter, Mutter und Kind etc. etc. ....

    (1923)

    Also entsetzlich! Wohnungsnot, Mietseinigungsamt ... ganz entsetzlich! Meines Wissens bin ich ein ehrlicher Mann: aber wer solche Schwierigkeiten macht, legt es darauf an, beschwindelt zu werden.

    Es mag eine Schwäche sein, aber ich brauche, trotzdem ich fanatischer Eremit bin (vielleicht gerade deswegen?), eine sehr nette, noble, möglichst geräumige Wohnung; unter vierzehn Zimmern tue ich es nicht.

    Man ließ mich fast vier Jahre warten und bot mir dann eine Zweizimmerwohnung an, die ich – vorläufig! – mit einem jungen Handwerkerehepaar teilen sollte. Eine Wohnung – ohne Radio, ohne Safe, ohne Schwimmbassin, ohne eingefelsten Schmucktresor, ohne Reitbahn, ohne Billard, ohne Müll- und Leichenschacht, ohne die geringste Existenzmöglichkeit kurzum. – Obendrein sind Ehepaare, mögen sie noch so jung sein, mir ein Gräuel; selbst einigermaßen geschiedene kann ich kaum verdauen. Mich stört eigentlich fast alles. Mag weder das nor- noch das anormale Leben. Soweit das in dieser scheußlich geselligen Welt noch möglich ist, muß ich allein sein. Und zu meiner Art Einsamkeit gehört eine recht geräumige Wohnung mit dicht anbrandender Großstadt. Eine Insel! Desto mehr Insel, je heftiger sie vom Meer umschäumt wird.

    Sollte ich mir vom Wohnungsamt meine Lebensbedingungen verpfuschen lassen? Man zwang mich zur List, zur Lüge, zum Schwindel! Ich fuhr in die Dragonerstraße, zu einem Fabelwesen, das sich Gedalje Cunosohn nennt und, aus Zerstreutheit, falsche Legitimationspapiere herstellt. Sodann nahm ich Unterricht bei einem Verwandlungskünstler und ging dadurch in folgende interessante Vielheit auseinander: erstens war ich Ich-selber (eine Aufgabe, die mir schwerer wird, als man meinen sollte: ich kann mich nicht riechen ...); zweitens stellte ich meine Frau dar, eine resolute Person mit gellender, ewig gegen mich protestierender Stimme. Drittens usw. mimte ich unsere drei halbwüchsigen Kinder, zwei Jungen und einen dummdreisten Backfisch. Ein Großelternpaar und eine Dienstmagd glückten mir überraschend gut. – Die Chose gelang selbstverständlich nicht simultan, nur sukzessiv. Unsere, d. h. also meine Garderobe kostete gegen zwanzig englische Pfund.

    Erst ein Schwindler, ein Vortäuscher merkt, wie vertrauensselig noch die mißtrauischsten Leute sind. Jeden Tag war ich im Wohnungsamt. Mein Clou schien die Urgroßmutter. Mit der hatten sie Mitleid. (Mitleid ist der dümmste aller Engel.) Als sie erst Mitleid kriegten, machte ich ihnen als meine Frau die Hölle heiß ... Der Großvater hinkte und weinte. Die Kinder flehten, ich selber winselte. Und kraft meiner Devisen erhielten „Wir" die wunderschönste Etage am Kurfürstendamm, mit hochherrschaftlichem Komfort.

    Nun hausen wir dort ungehudelt. Natürlich sieht man uns nie zusammen. Wie soll ich das machen? Aber rasch nacheinander sieht man uns oft zum Fenster gucken: Ich sehe als meine eigene Frau hinaus und unterhalte mich bauchrednerisch mit meinen Lieben. Meistens bin ich so vornehm, daß man uns überhaupt nicht spürt. Aber um den Schein zu wahren, muß ich tagtäglich andere Manöver ersinnen. Immerhin sehe ich mich unterdessen nach einer Villa um, damit ich nicht immer auf diesem Quivive zu sein brauche. Denn es ist eine schwer anspannende, zu hundert Ausflüchten und Erfindungen nötigende Existenz. Das Portierweib beginnt sich zu wundern. (Ob ich es ermorde?) Mit Wachsfiguren zu operieren, wäre dilettantisch. – Bin ich vom Hause abwesend, so lasse ich automatisch Lärm in der Wohnung vollführen. Komme ich wieder, klärt jedes Mißverständnis sich auf. Ein einziges Mal hatte man, als ich längere Zeit ausgeblieben war, behördlicherseits die Wohnung geöffnet. Seitdem habe ich mehr Ruhe, weil man sich durch den reichen Anblick der vielgestaltigen Garderobe täuschen ließ. Ab und zu freilich müssen wir alle verreisen.

    Wer kommt auf den Gedanken, daß ein einzelner Mann, um sich die große Wohnung zu sichern, eine zahlreiche Familie spielt? Dabei legt die mieße Zeit eigentlich vielen diese einfache Mehrheitsidee so nahe!

    O, wie wohl ist mir (nicht nur) am Abend! Demnächst lerne ich auch unseren Umgang, unseren Verkehr noch hinzu: ich besuche mich als mein Freund, dessen Frau in einer Stunde nachkommt – „Portier, passen Sie auf, es kommt noch eine Dame; hier ist eine Milliarde, verzeihen Sie, ich habe nicht mehr Kleingeld bei mir." – Man hat manche Gelegenheit, sich unbeobachtet umzuziehen. Sollte die Sache mir zu brenzlich werden, so muß ich meine Wohnung umtauschen. Es gibt ja (tollerweise) ehrlich zahlreiche Familien, die mir Dank wissen würden. „Gegen Überlassung netter Villa jederzeit zu haben. Offerten erbitte unter ‚Proteus’ an Expedition dieses Blattes. Discr. Ehrens."

    Kant in Schnadahüpferln

    (1923)

    Auf zur humoristischen Revolution, der einzigen, die siegen kann; der Rest geht an seiner Ernsthaftigkeit zuschanden. Spitzen Sie sämtliche Ohren, die Sie haben, um sich die Nacht darum zu schlagen! Das echte Leben lacht; sogar Totenköpfe grinsen; der Rest ist Schwindel. Es gibt bereits eine Reihe Inauguraldissertationen über die Kitzeligkeit von Göttern. Das Leben ist eher ein Gaze- als ein Gasmaskenball. Der Krieg ist nur Schreckensmaske des lachenden Lebens. Aber die jauchzende Seele des Lebens werfe die Maske ab und strahle immer offener! Selbst das hippokratische Antlitz ist nur hypokritisch, nur die heuchlerische Larve des diplomatischen Clowns, den wir Tod nennen, nur die Kreideblässe der koketten Unsterblichkeit. Auch soziale Fragen lösen sich lieber saturnalisch als terroristisch. Auf, sündigt euch tapfer zur zweiten Unschuld hindurch! Geht in die Massenversammlungen schöpferischer Geister! Tretet rasch dem Verein der Vereinsgegner bei! Eilt zur Kolossalanhäufung Menschenscheuer! Gründet Gesellschaften zur Verhinderung qualvoller Wohltaten! Zur Sammlung von immer mehr Stand- und Gesichtspunkten! Übt Ausziehungskräfte an, meine Damen! Berechnet eure Ehedezimalbrüche! Bringt es bis zur Somnambuhlschaft! Oder soll denn die Erde von solcher Trauer stinken, daß schließlich auch Klosettpapiere zu Trauerrändern neigen??? Also auf von euren Barbaroßhaarmatratzengrüften mitten hinein in den Tanz des göttlichen Lebens, das sich nicht länger verkorkst, kränklich, sterblich äußern soll! Her mit den Herren Erlösern, zur leichteren Ermöglichung ihrer Renaissance! Verlaßt alle Bücher, die doch nur gedruckter Mundgeruch sind, und lebt euer Leben unmittelbar! Werdet sattelfest und bibellocker! Trinkt Euterpentin, mürrische Matronen! Lacht euch kuglig, zugleich aber kubisch: dann erreicht ihr die Quadratur des Zirkels! Und für alles Üble ein Gedächtnis mit Lethewasserspülung! Was nutzt der Charakterkopf ohne Charakter-Rumpf, lieber Kato! Und „Duliöh!" gewissermaßen, denn ....

    Kant ist erstanden! Durch die Blatteln rauscht es von Max Epsteins gestanztem Kant, d. i. die Kritik der reinen Vernunft als Lehrgedicht in Ottaverime (Wertverlag, G.m.b.H., Berlin). – Z. B.:

    „Das ist im Geiste häßlich eingerichtet,

    Daß Spruch und Widerspruch sich oft nicht schlagen.

    Und daß wir, was Vernunft als Thetik dichtet,

    Als ihre Antithetik auch vertragen.

    Dogmatischer Schein ist, was die Massen schlichtet,

    Von denen zwei das ganz Konträre sagen.

    Wir fragen hier, woraus, wohin und wie

    Entsteht denn der Vernunft Antinomie?"

    Max Epstein weist uns hier den Weg zur intensiveren Einbürgerung der schwierigen Lehre Kants, ohne deren ausbündige Popularisierung die Menschheit sich nie moralisiert, und ein Welt- oder vielmehr Geldkrieg dem andern die Hacken abtritt. Es ist anzuerkennen, daß die Frühjahrssonne des kommenden Kant-Jubiläums (22. April 1924) die schönsten Blüten eines immer allgemeineren Kant-Verständnisses verheißt. Bondi, Georges nicht mehr unberühmter Verleger, annonziert (aus Fritz Reuters Nachlaß) den plattdeutschen Kant, im Metrum der Leuschen un Rimels, mit Lechterschen Symbolen. Der rührige Verleger Paul Steegemann (Hannover) weissagt bereits einen „Kant für Kinder in katechetischer Form, als Schulbuch zum ethischen Unterricht, verfaßt von Dr. S. Friedlaender, dem ebenso unbekannten wie unsterblichen Autor der „Schöpferischen Indifferenz (Georg Müller, Verlag, München).

    Am beachtenswertesten aber erscheint uns der, nach den wenigen Beispielen, die wir nachfolgend bringen, halbwegs gelungene Versuch eines „Kant in Schnadahupferln, auf den uns ausgerechnet der auch sonst ums Sauwohlsein des Vaterlandes so schwer verdienende „Mießbacher Anzeiger vorbereitet. Während Epstein sich ans ästhetisch geschultere Ohr wendet, schlägt der Mießbacher saftig herzerfrischende Naturtöne an, und der Preuße Kant wird Bayern jetzt im Friderizianischen Stechschritt erobern. Man höre:

    Rezeptiv ist dö Sinnlikeit, spontan där Verschtand,

    Zur Derkenntnis konkurrierns olli boid umanand ....

    *

    Und wer’s net kapiert, där is arg lütütütsch:

    Urteile san synthetsch oder san analytsch ...

    *

    Lerne du, lerne du, so fruh wia auch spat:

    Quantität, Qualität, Relation, Modulitat ...

    *

    Der Begriff, der is hohl, dö A’schauung blind –

    Balst’s net verkupplest, kriagens koi Kind ...

    *

    Dö Erkenntnis is teils rein, teils ist sie empirsch,

    Und wer’s net kapiert, ein solcher is tiersch ...

    *

    Transzendental und empirsch, dös därfst fei net verwechsel,

    Sunscht Amphibolie der Reflexionsbegriff’ macht alles zu Häcksel ...

    *

    Merkt’s enk, ihr Leuteln, und seid net so damisch:

    Verstandsgrundsätz’, die san mathematsch oder dynamisch ...

    *

    Man lernt (duliöh) viel schwärer, als ös glaubt,

    Prinzipien der transzendentalen Deduktion überhaupt ...

    *

    Das ‚Ich denke’, das muß (du därfscht es dir gönnen!)

    Olli dei Vurstellung ackompagniere können ...

    *

    Wer vermittelt zwischen Erscheinung und Kategorie?

    Dös transzendentale Schema (duliöh, hihihi!) ...

    *

    Där höchste Punkt des Denkens (ös erratet es schon):

    Transchendentale Oinhoit der Apperzeptschon ...

    *

    Gott kannscht weder beweise noch kannscht’n widerlejen,

    Aber jlauben kannscht’n weidli ganz praktisch – von wejen ...

    *

    Und kein Wort weiter! Denn (Antonio zu parodieren):

    „Wenn unser Ohr was Unerhörtes hört,

    Schweigt unser Mund auf fünf Minuten still."

    Freinacht 1924

    (1924)

    Meine verheertesten Herrschaften, auf zur humoristischen Revolution! Der einzigen, die gelingen kann; denn die anderen werden an ihrer Ernsthaftigkeit zuschanden. Am 26. Januar geraten Sie vor Lachen in das Brüdervereinshäuschen, mitten in fraternité und andere Tees hinein. Das echte Leben lacht, lacht, lacht – vergessen wir es ja nicht! Der Rest ist Schwindel. Die jauchzende Seele des Lebens, die sich sonst nur verkorxt, kränklich, sterblich äußert, soll immer strahlender heraus. Das hippokratische Antlitz ist nur hypokritisch und die heuchlerischste Maske des diplomatischen Clowns, den wir ‚Tod’ nennen, und dem wir jetzt das Schnippchen schlagen. Gewiß ist der Geschmack verschieden: dem Einen sein Messias ist dem Andern sein Mephistopheles. Aber tous les genres sont bons, hors le genre ennuyeux. Lachen kurzweilt. Probiert nach Herzenslust den kategorischen Klimbimperativ aus! Hier ist die Massenversammlung schöpferischer Geister, der Verein aller Vereinsgegner, die Kolossalanhäufung Menschenscheuer. Herr mit den Herren Erlösern! Zur leichtern Ermöglichung Ihrer Renaissance. Hier etabliert sich die famose Gesellschaft zur Sammlung von Stand- und Gesichtspunkten (mögen diese auch nur Schönheitspflästerchen sein). Auf, auf von Euren Barbaroßhaarmatrat-zengrüften in den Tanz des Lebens! Schmeißt die Flaschen voll Bigotteriezinusöl zum Fenster! Seid sattelfest und bibellocker! Weint Schadenfreudentränen über die Draußenbleibenden! Und werden Sie gegen die üblen Geräusche Europas direkt turteltaubstumm. Lacht Euch kuglig, aber zugleich kubisch: dann erlebt Ihr die Quadratur des Zirkels. Pereant alle Kriegswolkenschieber! Menschen sind trotz allem was andres als nur Leichen in spe. Sie sind ihres Glückes Schmiede, nicht nur Edschmiede ... En avant zum Kampf ums Dadasein!!! Woraus soll man einander hier sprechen als aus der Seele??? Nur kein allzu bigamiemosenhaftes Benehmen!!! Weg mit allen Etepetetikern!!! Morgen ist leider noch nicht das Übermorgen der höheren Lebensseligkeit, sondern vorerst noch der traurigste europäische Katzenjammer. Trotzdem:

    Aus Abstinenz

    (1924)

    Schnapsen tat er nie; er war überhaupt Abstinenzler; auch schnupfte er weder, noch rauchte er. So war er vielleicht Morphinist? Nein, nicht einmal Kokainist. Er trank nicht einmal das einfachste Bier. Und so kam er in die Jahre und an den Wendepunkt seines reizlosen Lebens. Da, zum erstenmal, verspürte

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