Die Stalinbahn-Trilogie: Auf Spurensuche am Polarkreis
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About this ebook
Nach Ausbruch des »Kalten Krieges« ergriff der sowjetische Diktator Josef Stalin drastische Maßnahmen um einen befürchteten Angriff der USA über das Nordpolarmeer abwehren zu können. Eine Eisenbahntrasse - fast 8000 Kilometer lang - über den Permafrostboden der Tundra Nordsibiriens, sollte den Nachschub für die Verteidigung sichern.
Zum Bau dieser Strecke benutzte der größenwahnsinnige Imperator das Menschenmaterial der GULags.
Bis zu Stalins Tod im März 1953 waren 1500 Kilometer der Trasse mehr oder weniger fertig gestellt. Seine Nachfolger im Kreml stoppten den kostspieligen Bau umgehend.
AUF SPURENSUCHE AM POLARKREIS
Die Fragmente dieses Bauwerkes waren das Ziel dreier Reisen an den nördlichen Polarkreis.
Faszinierende Eindrücke aus einer rauen und entlegenen Region sowie prägende Begegnungen mit den dort lebenden Menschen haben die Reisenden oft an ihre persönlichen Grenzen geführt.
Die Zusammenführung der Reiseberichte zur »Stalinbahn-Trilogie« entführt den Leser auch in die kaum bekannte geschichtliche Vergangenheit der Stalinbahn.
Norbert Mausolf
Norbert Mausolf, Jahrgang 1959, faszinieren Reisen in entlegene Gegenden der Erde schon seit frühester Jugend. Seit über 25 Jahren führt er Reisetagebücher. Mit der »Stalinbahn-Trilogie« geht er erstmals in die Öffentlichkeit.
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Book preview
Die Stalinbahn-Trilogie - Norbert Mausolf
Ruge
Prolog
Russland! Allein der Name des größten Landes der Erde löst bei uns Assoziationen aus. Unweigerlich denken wir an schwermütige Lieder, Melancholie und menschliche Schicksale, die jeden normal empfindenden Menschen im Innersten berühren. Wir denken aber auch an unbekümmerte Fröhlichkeit und an Menschen, die eben diese Schicksale meistern. Fjodor Dostojewski, Lew Tolstoi, die russische Literatur ist mitunter schwer verdaulich – man muss bereit sein sich darauf einzulassen. Wer dann noch die Weite und die zahlreichen Extreme dieses Landes kennen lernt, wird fast zwangsläufig von einer zuweilen merkwürdigen Stimmung gefangen genommen und läuft große Gefahr immer wieder von ihr zu schwärmen!
Wir, das sind Ulrich Kuhn, Volker Krautmacher, Jürgen Brinkmann und Norbert Mausolf. Freunde seit frühester Jugend und mittlerweile alle mit einem halben Jahrhundert an Lebenserfahrung gesegnet.
Unsere »mentale Gefangenschaft« begann im Jahr 1991, als das riesige Land noch der größte Teil des Staatenbundes »Sowjetunion« war. Damals durften wir die russische Gastfreundschaft während unserer ersten Reise in den Norden Sibiriens genießen. Anlass zu dieser Reise war der Wurf eines Dartpfeils auf eine Weltkarte. Er traf die Stadt Norilsk in Nordsibirien! Wer konnte ahnen, dass mit diesem Wurf nicht nur unser damaliges Reiseziel, sondern auch unser Reiseschicksal für die folgenden Jahre – genauer gesagt Jahrzehnte – festgelegt war? Obwohl damals wie heute Sperrgebiet, schafften wir es 1991 nach Norilsk zu gelangen. Und diese Reise war in jeder Beziehung ein voller Erfolg! Aber das steht in einem anderen Buch [2].
Vielfach werden wir gefragt, was uns immer wieder nach Russland treibt – und noch dazu in diese entlegenen Gegenden? Die Antwort darauf lässt sich nicht in einem Satz formulieren. Es sind viele Dinge, die uns trotz mangelhafter russischer Sprachkenntnisse immer wieder in dieses Land ziehen. An erster Stelle ist hier die kaum zu beschreibende Gastfreundschaft der Menschen zu nennen, denen wir begegnet sind. Dazu kommt eine große Portion Abenteuerlust, gepaart mit dem Reiz sich auf noch nicht ausgetretenen Touristenpfaden zu bewegen und natürlich die Bereitschaft sich immer wieder auf neue, überraschende Situationen einzustellen. Und solche Situationen sind in Russland nicht gerade selten; in diesem Buch sind zahlreiche davon beschrieben.
RÜCKBLICK
Der Größenwahn eines Diktators – eine Einordnung in die Geschichte
Die Sowjetunion hatte 1945 den »Großen Vaterländischen Krieg« gewonnen. Dieser Sieg ließ jedoch kein längeres Verschnaufen zu, denn es galt, das zerstörte Land wieder aufzubauen. Vor allem anderen aber galt es, eine 100 Jahre alte Theorie das erste Mal erfolgreich in die Tat umzusetzen: Den Kommunismus! Eine Idee, die der Deutsche Karl Marx der Welt in seinem »Kommunistischen Manifest« 1848 vorgestellt hat. Der Genosse und »Große Führer« Josef Stalin sah sich berufen diese Idee hauptverantwortlich umzusetzen. Bei deren Realisierung fühlte er sich von der ganzen Welt bedroht. Er griff daher zu äußersten Mitteln, um die Lehren von Marx in der UdSSR zum Erfolg zu führen. Um diesen Erfolg wirtschaftlich abzusichern, waren ihm folgende Dinge wichtig:
Ausbeuten der im Norden Sibiriens vermuteten Rohstoffe
Er wollte die Industrialisierung der rückständigen Sowjetunion unabhängig vom Ausland einleiten. Das westliche Ausland wollte er – gegen hohe Valutazahlungen – von den Rohstoffen aus der Sowjetunion abhängig machen.
Preiswerte Produktion mit billigen Arbeitskräften
Hierzu bediente sich Stalin vor allem der politisch Andersdenkenden. Dass Arbeitskräfte doch nicht so preiswert zu »rekrutieren«, in entlegene Gegenden zu transportieren und dort auch noch zu ernähren sind, wurde von ihm nicht berücksichtigt.
Verteidigungsstrategien gegen die verhassten kapitalistischen Staaten entwickeln; insbesondere gegen die USA, mit denen man sich im »Kalten Krieg« befand
Stalin war davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann die USA die UdSSR überfällt; ebenso wie es Deutschland trotz bestehender Verträge 1941 getan hatte.
Bauwerke schaffen, die denen des zaristischen Russlands mindestens ebenbürtig sein sollten
Viele Ideen wurden geboren, um diese Ziele umzusetzen. Eine Idee war, eine zweite »Transsibirische Eisenbahn« von Chum (das liegt an der Bahnstrecke Moskau-Workuta, die kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges fertig geworden ist) nach Anadyr bzw. Uelen auf der Tschuktschen-Halbinsel an der Beringstraße zu bauen. So könnte man die gewonnenen Rohstoffe abtransportieren und die politischen Gefangenen wären da, wo sie nicht fliehen können. Im Falle eines Angriffs der USA von Norden her, böte die Eisenbahn die logistische Grundlage für den Aufbau eines breit angelegten Verteidigungswalls.
Die Verteidigungsschwäche der Polarregion lastete seit der Sichtung des deutschen Kreuzers »Albert Speer« vor den Küsten des Nordmeeres im Jahre 1942 wie ein Trauma über der Moskauer Führung. Fast jede Literaturquelle nennt diese »Feindfahrt« als eine der Begründungen für den Bau der Stalinbahn. Wenn dieses Bahnprojekt gelänge, würde es die Leistung der zaristischen Transsib-Erbauer in den Schatten stellen. Eine Eisenbahn quer durch den Permafrost – ein gigantisches Projekt!
Von Permafrostboden spricht man, wenn der Boden im Sommer etwa ein bis zwei Meter auftaut, darunter aber immer gefroren bleibt. 25 Prozent der gesamten Landmasse der Erde gehören dazu. Die Ingenieure waren optimistisch den Permafrost bezwingen zu können. Gab es doch bereits seit 1939 eine 80 Kilometer lange Schmalspureisenbahn zwischen Dudinka und Norilsk im Hohen Norden.
© FriendsOnTour.de
Ein ungewöhnlicher Blick auf die Weltkarte: Im unteren Teil liegt das Zentrum der so genannten »Westlichen Welt«: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch der damalige »Ostblock« ist – über den Nordpol hinweg – im oberen Bildteil zu erkennen. Die Karte verdeutlicht die geografische Nähe der beiden Supermächte des »Kalten Krieges« und zeigt die von Stalin erdachte Verteidigungslinie gegen eine befürchtete amerikanische Landoffensive. Diese Verteidigungslinie bestand aus drei Eisenbahnabschnitten:
Doppellinie
Der bestehenden Strecke von Moskau nach Workuta (seit Ende der vierziger Jahre erreicht die so genannte Petschora-Bahn Workuta).
Gestrichelte Linie
Dem in diesem Buch beschriebenen, fertig projektierten und zu 70 Prozent auch fertig gebauten Abschnitt (eben die Stalinbahn) zwischen Chum und Igarka.
Gepunktete Linie
Einer von mehreren geplanten Streckenführungen der Stalinbahn in Richtung Beringstraße. Dargestellt ist der Verlauf, bei dem die Städte Norilsk, Jakutsk und Magadan auf direktem Wege mit einbezogen werden sollten. Es gab auch Pläne für einen Bahnverlauf auf kürzestem Wege zur Beringstraße. Abzweige nach Jakutsk oder Magadan sollten dann den Anschluss an die südlich verlaufende Transsibirische Eisenbahn herstellen.
Dies waren die Grundgedanken, die ab dem Jahr 1947 in die Umsetzung – eben den Bau der Stalinbahn – mündeten [1].
Vordergründig gesehen besitzt Sibirien durch seine großen Ströme Ob, Jenissej und Lena, die alle ins Nordpolarmeer münden, sehr gute Transportmöglichkeiten. Man darf aber nicht vergessen, dass diese Verkehrswege und auch das Polarmeer im Sommer nur etwa drei Monate schiffbar sind. Von den Eisenbahnlinien erhoffte man sich die ganzjährige Mobilität.
Die Entscheidung für den Bau der Strecke wird in vielen Quellen auf den 4. Februar 1947 datiert. Einige Quellen geben mit dem Datum die Entscheidung Moskaus an, lediglich eine 192 Kilometer lange Eisenbahnstrecke von Chum nach Labytnangi zu bauen (Karte am Ende des Buches).
Dazu kam eine zweite Strecke, beginnend als Abzweig, 14 Kilometer vor Labytnangi in Richtung Norden. Diese etwa 500 Kilometer lange Strecke, die über Novy Port nach Cap Stone verlaufen sollte, nannte man »502«. Die Bezeichnung entsprach der laufenden Nummerierung einer Projektliste der Moskauer Streckenplaner. Ziel war es, am Ende der Strecke auf der Jamal-Halbinsel nördlich des 68. Breitengrades, einen großen Militärseehafen zu bauen. Die bereits existierenden Flottenstützpunkte Murmansk und Wladiwostok lagen im Verteidigungsfall zu nahe an den Landesgrenzen, obwohl beide Städte den Vorteil besaßen, schon damals an das sowjetische Eisenbahnnetz angeschlossen zu sein.
Schnell stellte man jedoch fest, dass die Meerestiefe im Bereich des geplanten Hafens bei Cap Stone zu gering war und so stellte man die Bauarbeiten an der »502« ein. Alternativ sollte jetzt eine eingleisige Bahnstrecke entlang des 66. Breitengrades Richtung Osten gelegt werden. Mit dem Baustopp an der »502« trat Igarka an die Stelle von Cap Stone als zukünftiger Hochseehafen. Igarka liegt mitten in der ehemaligen UdSSR, strategisch also sehr günstig.
Die Strecke von Chum nach Norilsk ist 1755 Kilometer lang. Etwa 300 Kilometer von Igarka über Dudinka nach Norilsk fielen weg (sie wurden einem anderen Eisenbahnprojekt zugeschlagen) und die 192 Kilometer von Chum nach Labytnangi waren zu diesem Zeitpunkt bereits fertig gestellt. Blieben also noch 1.263 Kilometer. Diese teilte man in zwei Abschnitte auf, so genannte Lagerbezirke: Die Strecke von Salechard bis nach Urengoj am Fluss Pur bekam die Bezeichnung »501«. Sie war die Verlängerung des gerade fertig gestellten Abschnitts von Chum nach Labytnangi. Die Strecke vom Fluss Pur bis Igarka bekam die Bezeichnung »503«. Im Frühjahr 1947 begann man ab Salechard die 662 Kilometer der »501« und ab Jermakowo die 601 Kilometer der »503« durch die menschenleere Tundra zu bauen [1].
TEIL I
Entlang der Stalinbahn zwischen Nadym und Salechard
September 2004
Vorbereitungen
Irgendwann im Frühjahr 2004: Wir stehen vor der Gasheizungstherme in Volkers und Charlys Keller, denn die beiden vermuten einen Defekt in der Anlage. Ein Wort gibt das andere und ehe wir uns versehen, sind wir thematisch wieder einmal in unserem Lieblingsreiseland, das zufälligerweise auch noch der größte Erdgaslieferant der Welt ist. Es vergehen keine fünf Minuten und eine riesige Karte von Nord-Sibirien liegt auf dem Billardtisch. Auf dieser lokalisieren wir die mutmaßlichen Hauptfördergebiete. Wie selbstverständlich zeigt Charly auf die potentiellen Förderquellen und wie zufällig malt sein Finger die Strecke einer für uns imaginären Eisenbahn nach. Sie führt von Salechard, einer Stadt am Ob in Nordwest-Sibirien, bis nach Igarka am Jenissej.
Ein wirklicher Zufall ist das natürlich nicht! Bereits auf unserer Reise an den Baikalsee und in die Mongolei im Jahr 2002 sprachen wir immer mal wieder über diese weitgehend unbekannte Bahnstrecke im Hohen Norden Sibiriens. Während wir damals im strahlenden Sonnenschein auf den Gleisen der »Goldenen Schnalle« der Transsibirischen Eisenbahn am Westufer des Baikalsees marschierten, trieben unsere Gedanken und Gespräche in Richtung »welche Reisen stehen denn in Zukunft so an?«. Und weil uns das Marschieren über die Schwellen im Sonnenschein so viel Spaß machte, brachte Charly schon damals die auch unter dem Begriff »Stalinbahn« bekannte Eisenbahnlinie ins Gespräch. 2000 Kilometer nördlich der Transsibirischen Eisenbahnlinie gibt es wohl eine Trasse, auf der wir kilometerweit laufen können, ohne dass ein Zug unseren Marsch stört. Damit schaffte es diese Tour sofort auf Platz eins auf Charlys FORTRAN-Karte. Diese Computer-Lochkarten aus den Anfängen seiner Studienzeit sind ihm lieb und teuer. Er notiert darauf sämtliche potenziellen Reiseziele und legt diese regelmäßig zur Abstimmung vor. Auch während der Vorbereitungen zu unserer letzten Russlandreise in den Fernen Osten nach Jakutien und Magadan Oblast am Pazifischen Ozean im Jahr 2003 wurde die »Polarbahn«, wie sie mitunter auch genannt wird, von Charly immer mal wieder erwähnt.
Jetzt stehen wir also hier im Wohlstandsstaat Deutschland vor einer Sibirienkarte und diskutieren über Erdgasvorkommen, Wärme und den Wirkungsgrad von Heizungsanlagen und wie bequem wir es doch haben. Einfach das Thermostat hochdrehen und – egal wie kalt der Winter auch ist – die Wohnung wird warm. Wen interessiert schon was dahinter steckt, welche Verträge das regeln und welche Abhängigkeiten bestehen? Nicht, dass wir den Anspruch haben, das klären oder herausfinden zu wollen, aber es reizt uns einfach mal dorthin zu fahren, wo das Gas aus der Erde kommt, in ein Rohr gepumpt wird und irgendwann in unserem Brenner landet.
Und dann ist da ja noch diese Eisenbahnstrecke – deren Erkundung rückt bei uns jetzt immer mehr in den Mittelpunkt. Unabdingbare Voraussetzung, um dorthin zu gelangen, ist ein Visum für diese Region am nördlichen Polarkreis. Da in der Gegend Gas gefördert wird, ist die Erteilung dieses Visums jedoch mit einem Fragezeichen versehen. Die russischen Offiziellen sehen es sicherlich nicht gerne, wenn »Touristen« in ihren Devisen bringenden Territorien herumstapfen, dort fotografieren und möglicherweise sogar fehlende Umweltauflagen und mangelhafte Sicherheitsbestimmungen anprangern. Norres verweist in diesem Zusammenhang auf einen Artikel im Kölner Stadtanzeiger vom April des Jahres 2003. Darin steht, dass ein russischer Wissenschaftler wegen angeblicher Industriespionage zu 15 Jahren schwerer Haft verurteilt wurde. Laut seiner eigenen Aussage besteht seine »Schuld« lediglich darin, Kontakt mit Ausländern gehabt zu haben.
Auf unseren Reisen in Russland haben wir bisher nie das Gefühl gehabt irgendwelchen Einschränkungen zu unterliegen. Doch die politische Situation in Russland garantiert keine Stabilität. Freies Reisen sowie der Kontakt zur Bevölkerung müssen zukünftig nicht mehr selbstverständlich sein. Charly zieht für uns daraus den Schluss: Nach Russland reisen, solange es noch ohne nennenswerte Einschränkungen möglich ist.
Wir wählen das 330 Kilometer lange Teilstück von Salechard nach Nadym als Ziel aus. Wir versuchen heraus zu bekommen, ob es möglich ist, in der uns zur Verfügung stehenden Zeit von Salechard nach Nadym zu gelangen. Beide Städte haben einen Flughafen und die paar Kilometer sollten in zwölf Tagen doch irgendwie zu schaffen sein, denken wir! Im Internet finden wir Ansprechpartner in Nadym, Salechard und Novy Urengoj. Unseren Emails an sie fügen wir einen vorbereiteten Fragenkatalog bei. Unter anderem wollen wir Antworten auf folgende Fragen:
Ist die Strecke mit einem Mountainbike zu bewältigen?
Wie hoch ist die Fließgeschwindigkeit des teilweise parallel zur Eisenbahntrasse fließenden Flusses Poluy?
Kann man mit einem Kanu oder Kajak auf dem Fluss fahren?
Wir erhalten tatsächlich einige Antworten, aber wirklich brauchbare Informationen sind nicht darunter. Die ergiebigsten Quellen sind mal wieder unsere altbekannten. Von unserer Lieblingsdolmetscherin Lena aus Moskau bekommen wir wertvolle Hinweise auf Übersetzungsprogramme im Internet und einige interessante Fakten über unser Zielgebiet. Außerdem erzählt sie uns, wie wir am schnellsten vom Flughafen Scheremetjewo 2 zum Flughafen Domodedovo kommen. Bei den oftmals chaotischen Verkehrsverhältnissen in der russischen Hauptstadt ein sehr wertvoller Tipp.
Lena lernten wir 1991 auf unserer ersten Reise nach Russland kennen. Sie war damals unsere offizielle Dolmetscherin und ist bis heute unsere liebste Freundin und Kontaktperson in Russland. Wann immer möglich verbinden wir unseren Aufenthalt mit einem Besuch bei ihr. Diverse Gegenbesuche ihrerseits festigen unsere Freundschaft seit fast 20 Jahren.
Ein Mitautor des »Sibirian BAM-Guide«, im weitesten Sinn ein Reiseführer, der sich mit der BAM (Baikal-Amur-Magistrale), mit der Transsibirischen Eisenbahn und allgemein mit dem Fernen Osten beschäftigt, beantwortet gleich eine ganze Reihe unserer Fragen. Zwar war auch er noch nicht in dieser Gegend, aber seine profunden Kenntnisse über Sibirien helfen uns doch sehr. Seinen Rat: »Everything has to be checked in the real world« werden wir – wenn auch meist zwangsläufig – immer wieder beherzigen. Dieser Ausspruch wird zum häufig zitierten Leitsatz auf unseren Reisen. Darüber hinaus rät er uns, Verbindung mit einem deutschen Journalisten aufzunehmen, der wohl auch eine Reise in diese Gegend plant – Genaueres wisse er aber nicht. Wir kontaktieren ihn einfach per Email. Besagter Journalist arbeitet beim WDR und ist ein Kenner der russischen Eisenbahnlinien. Von ihm erhalten wir Informationen über die Geschichte der Stalinbahn sowie einige neue Internetadressen. Da er sehr an unserer Reise interessiert ist, vereinbaren wir, uns nochmals bei ihm zu melden wenn wir zurück sind.
Die Visa erhalten wir überraschenderweise vollkommen problemlos; das Buchen der Flüge gestaltet sich dagegen schwieriger. Schwierig unter anderem deshalb, weil wir uns selbst nicht sicher sind, ob wir von Salechard oder Nadym aus starten sollen. Auch wissen wir immer noch nicht, wie die Strecke zwischen Salechard und Nadym aussieht. Die Auflösung der Bilder aus Google Earth reicht für eine Einschätzung der Streckenbeschaffenheit einfach nicht aus. Von Informationen über eine befahrbare Sommerstraße oder eine Bootsverbindung auf dem Fluss Poluy ganz zu schweigen. Manch einer mag es naiv nennen, aber wir sind durchaus optimistisch die 330 Kilometer zwischen den beiden Städten irgendwie zu bewältigen!
Da eine Eisenbahnfahrt von Moskau nach Labytnangi, einer Stadt auf der anderen Seite des Ob gegenüber von Salechard, trotz intensiver Bemühungen von Deutschland aus nicht zu buchen ist, entscheiden wir uns von Moskau nach Novy Urengoj zu fliegen. Diese Stadt liegt etwa 260 Kilometer östlich von Nadym. Von Nadym wollen wir dann zurück nach Moskau fliegen. Zwischen Novy Urengoj und Nadym gibt es eine Straße und möglicherweise auch eine intakte Eisenbahnverbindung. Die 330 Kilometer zwischen Salechard und Nadym ersparen wir uns mit dieser Variante. Damit sind wir auf der sicheren Seite! Charly kontaktiert Lena zwecks eines Treffens in Moskau und gräbt noch einige interessante Internetseiten aus. Unter anderem findet er einen Stadtplan von Nadym, auf dem nicht nur alle Magazine (Lebensmittelläden) eingezeichnet, sondern auch noch deren Öffnungszeiten angegeben sind.
Unsere Vorbereitungen überschatten zwei nahezu zeitgleiche Flugzeugabstürze in Russland am 25. August und ein Anschlag auf eine Moskauer Metrostation. Es handelt sich um Bombenanschläge extremistischer Tschetschenen gegen die Politik Russlands im Kaukasus. Die Geiselnahme in einer Schule in Beslan in Nord-Ossetien am 1. September, dem traditionell ersten Schultag in Russland, ist der schreckliche Höhepunkt dieser Anschlagserie.
Moskau im Regen
Am späten Nachmittag trifft Norres in seinen Hightech-Outdoorklamotten bei Charly ein. Was die Kleidung betrifft, schwört er auf die Forschungsergebnisse der chemischen Industrie. Ganz im Gegensatz zu Jürgen und Charly, die traditionell auf Baumwolle und die Erkenntnisse von Expeditionen um die Jahrhundertwende setzen – der Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert natürlich. Bei Jürgen sind das neben seiner obligatorischen Jeanskleidung die mittlerweile 15 Jahre alten Bundeswehr-Springerstiefel und Charly verzichtet selbstverständlich nicht auf seine schon leicht abgewetzte Daunenjacke, die ihn schon auf so vielen Reisen gegen die Kälte geschützt hat.
Nach dem Einchecken am Flughafen Frankfurt trinken wir entspannt das obligatorische Abflugbier. So eine Panne wie im letzten Jahr, als der Flieger von Sibirian Air offensichtlich wegen eines von uns nicht getrunkenen Bieres am Boden bleiben musste, soll nicht noch einmal vorkommen. Jürgen hat deshalb von zu Hause ein Sixpack mitgenommen.
Was war geschehen: Im letzten Jahr durften wir, auf dem Weg nach Novosibirsk, eine Nacht im Sheraton-Hotel am Frankfurter Flughafen verbringen, um dort die Reparatur des Flugzeugs abzuwarten. Bei unserem knappen Zeitplan legen wir heuer keinen Wert darauf, dort noch einmal zu nächtigen.
Diesmal klappt es: Kurz nach Mitternacht sitzen wir entspannt im Flieger nach Moskau! Als die Flugzeugturbinen aufheulen ist es endlich da, das altbekannte Kribbeln, das den wirklichen Beginn unserer Reisen einleitet.
Einen Tag in Moskau kann man immer verbringen, das ist nie verlorene Zeit. Das ist schon seit Jahren unsere einhellige Meinung. Doch wenn es den ganzen Tag fast ununterbrochen regnet, sieht das schon ein wenig anders aus.