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Der Graf von Earlsbridge, Trilogie, Sammelband: 2. Auflage
Der Graf von Earlsbridge, Trilogie, Sammelband: 2. Auflage
Der Graf von Earlsbridge, Trilogie, Sammelband: 2. Auflage
Ebook784 pages10 hours

Der Graf von Earlsbridge, Trilogie, Sammelband: 2. Auflage

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About this ebook

Die Jahre 1136 – 1138 waren für England und den Norden Frankreichs eine bewegte und schwere Zeit. Die Machtverhältnisse waren unklar und im nördlichen Frankreich, insbesondere der Normandie, wurde gekämpft. Die Kampfhandlungen waren selten klar abzugrenzen. Frühere Verbündete waren am einen Tag Feinde und am nächsten wieder Freunde. Die politischen Wirren in England übertrugen sich auch auf Frankreich und die wiederholten Machtwechsel liessen keine klare Strategie zu.
Die Bevölkerung litt unter diesen Verhältnissen. Die Kirche beteiligte sich an Intrigen und nahm steten Einfluss auf die Politik. Adelige aus England mussten mit ihren Kontingenten an Soldaten und Rittern nach Frankreich ziehen um die Truppen des neuen englischen Königs zu bilden. Viele Barone, Grafen und Ritter mussten während dieser Zeit ihre Besitztümer in der Heimat verlassen. An ihrer Stelle wurden Stellvertreter und Verwalter eingesetzt, welche oft kein Geschick für die Politik und für den Umgang mit Besitz und Volk zeigten. Nicht selten fanden die Adeligen bei ihrer Rückkehr ihren Besitz heruntergewirtschaftet und das Volk verängstigt vor.
Diese Kämpfe forderten nicht nur auf den Schlachtfeldern Tau-sende von Menschenleben sondern auch in der englischen Heimat: durch Hunger, Seuchen, Söldnertruppen in den Diensten der Herren auf Zeit und unfähige oder geisteskranke Besitzverwalter.
Diese Geschichte ermöglicht einen Einblick in eine Episode aus dieser schwierigen Zeit. Sie zeigt auf, wie die Menschen lebten, wie sie fühlten, wie sie litten und wie sie starben oder überlebten.
LanguageDeutsch
Release dateApr 1, 2015
ISBN9783735707086
Der Graf von Earlsbridge, Trilogie, Sammelband: 2. Auflage
Author

B. A. Neff

B. A. Neff. Geboren 1962. Bisherige Titel: - Der Graf von Earlsbridge, Trilogie Teil 1, "Harte Zeiten" - Der Graf von Earlsbridge, TrilogieTeil 2, "Das Mal" - Der Graf von Earlsbridge, Trilogie Teil 3, "Hass und Liebe" - Damoklesschwert (2015)

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    Der Graf von Earlsbridge, Trilogie, Sammelband - B. A. Neff

    Weitere Titel des Autors:

    Der Graf von Earlsbridge, Trilogie – Band I

    »Harte Zeiten« (2014)

    Der Graf von Earlsbridge, Trilogie – Band II

    »Das Mal« (2014)

    Der Graf von Earlsbridge, Trilogie – Band III

    »Hass und Liebe« (2014)

    Damoklesschwert (2015)

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Nordfrankreich, Spätsommer 1138

    Acht Monate zuvor in Earlsbridge

    Earlsbridge

    Zur gleichen Zeit, nördlich von Suttonham

    Earlsbridge

    Prolog

    Die Jahre 1136 – 1138 waren für England und den Norden Frankreichs eine bewegte und schwere Zeit. Die Machtverhältnisse waren unklar und im nördlichen Frankreich, insbesondere der Normandie, wurde gekämpft. Die Kampfhandlungen waren selten klar abzugrenzen. Frühere Verbündete waren am einen Tag Feinde und am nächsten wieder Freunde. Die politischen Wirren in England übertrugen sich auch auf Frankreich und die wiederholten Machtwechsel ließen keine klare Strategie zu.

    Die Bevölkerung litt unter diesen Verhältnissen. Die Kirche beteiligte sich an Intrigen und nahm steten Einfluss auf die Politik. Adelige aus England mussten mit ihren Kontingenten an Soldaten und Rittern nach Frankreich ziehen um die Truppen des neuen englischen Königs zu bilden. Viele Barone, Grafen und Ritter mussten während dieser Zeit ihre Besitztümer in der Heimat verlassen. An ihrer Stelle wurden Stellvertreter und Verwalter eingesetzt, welche oft kein Geschick für die Politik und für den Umgang mit Besitz und Volk zeigten. Nicht selten fanden die Adeligen bei ihrer Rückkehr ihren Besitz heruntergewirtschaftet und das Volk verängstigt vor.

    Diese Kämpfe forderten nicht nur auf den Schlachtfeldern Tausende von Menschenleben sondern auch in der englischen Heimat: durch Hunger, Seuchen, Söldnertruppen in den Diensten der Herren auf Zeit und unfähige oder geisteskranke Besitzverwalter.

    Diese Geschichte ermöglicht einen Einblick in eine Episode aus dieser schwierigen Zeit. Sie zeigt auf, wie die Menschen lebten, wie sie fühlten, wie sie litten und wie sie starben oder überlebten.

    Nordfrankreich, Spätsommer 1138

    Am Vortag hatten die letzten Kämpfe bei strömendem Regen stattgefunden. Seither waren die Kleider nicht mehr trocken geworden. In der Nacht nach dem Kampf hatten sich die vollkommen überraschten und stark dezimierten Truppen der Engländer neu gesammelt.

    Der oberste Befehlshaber, Graf Doghan, fällte angesichts der hohen Verluste eine folgenschwere Entscheidung. Er befahl den Truppen, alles stehen und liegen zu lassen und den geführten Rückzug anzutreten. Nur die Waffen und was die Männer am Leibe trugen sollten sie mitnehmen.

    Sie schlichen über eine Anhöhe und umgingen die Spähposten der Franzosen durch ein nahes Tal. Die Absicht war, die fünfzehn Meilen bis zur Küste noch in der Nacht zurückzulegen und dabei zu hoffen, dass die englischen Schiffe unterdessen bereits an der Küste eingetroffen waren. Sie hätten so praktisch alle Männer und das ganze Heergefolge heil aus dem Land hinaus und über das Meer zurück nach England bringen können.

    Es sollte aber alles ganz anders kommen!

    Gegen Ende des Tals, durch das sich die englischen Truppen abzusetzen versuchten, mussten sie einen Bach überqueren. Dieser war durch den starken Dauerregen zu einem reißenden Fluss angeschwollen. Die Truppen waren blockiert. Graf Doghan schickte zwei Ritter mit Seilen los, um den Fluss zu durchqueren und zu versuchen, am anderen Ufer eine Sicherung zu befestigen. Es gelang ihnen fast, doch plötzlich verlor das Pferd des einen Ritters den Grund unter den Füssen und wurde mitgerissen. Der Ritter klammerte sich noch kurz verzweifelt am Hals des Pferdes fest. Dann versanken Ross und Ritter in den tosenden Fluten. Der andere Ritter stand zu diesem Zeitpunkt genau in der Flussmitte. Die starke Brust seines Streitrosses stromaufwärts gerichtet trotzte er der Strömung. Im schwachen Schein des Mondes sahen die Soldaten vom Ufer aus plötzlich, wie der Ritter sich an die Brust fasste und nach hinten vom Pferd fiel. Er versank in den Fluten. Das Pferd versuchte noch zurück ans rettende Ufer zu kommen, wurde aber gnadenlos weggespült.

    Die Soldaten am Ufer verstanden nicht, was da draußen geschah. Sie standen wie angewurzelt im Dreck und starrten auf das Wasser. Dann plötzlich schrie ein Ritter, dass sich die Männer in Deckung werfen sollten. Im selben Augenblick prasselte ein Regen von Pfeilen auf das Ufer nieder. Dutzende von Soldaten fielen. Sie waren entdeckt worden! Nun hörten sie vom anderen Flussufer her französische Kommandorufe. Erkennen konnten sie nichts. Die Bäume am anderen Ufer reichten stellenweise fast bis an die Wasserlinie und die Dunkelheit behinderte die Sicht zusätzlich.

    Und wieder ging eine Pfeilsalve nieder. Doghan gab den Befehl zum Rückzug. Einem unsichtbaren Feind konnte man sich nicht stellen. Doch im Lärm des tosenden Flusses wurde der Befehl nicht von allen gehört. Die in Panik zurückdrängenden Soldaten prallten auf die immer noch Wartenden hinter ihnen. Es dauerte einen Augenblick, bis sich die Truppen langsam zurückbewegten, immer noch begleitet vom Pfeilregen, welcher wie die Dünung des Meeres alle paar Sekunden erfolgte.

    Hunderte fielen. Es war ein Gemetzel. Die Franzosen hatten offenbar Doghans Plan durchschaut und den Weg durch das Tal versperrt.

    Doghan, durch einen Pfeil schwer verletzt, ließ Graf Wilbour zu sich rufen. Wilbour, Graf von Earlsbridge, war mit seinen eigenen 250 Rittern und Soldaten unter der englischen Fahne in den Krieg gegen die Franzosen gezogen. In den gut zwei Jahren, die sie schon für den König kämpften, hatte Wilbour fast die Hälfte seiner Männer verloren. Er selber war schon einige Male verwundet worden, aber immer und immer wieder hatte er seine Leute unter Doghans Oberbefehl in neue Schlachten geführt. Obschon er vergleichsweise wenige Männer aus seiner Grafschaft ins Heer mitbrachte, hatte er im Laufe des Krieges das große Vertrauen von Graf Doghan erworben. Nicht selten befehligte er in dessen Stellvertretung erfolgreich Teile der Truppen.

    An seiner Seite, seit der Ankunft in Frankreich, stritten die beiden Ritter Sir William und dessen jüngerer Bruder Sir Eathon, beide von Earlsbridge. Sie waren nicht nur Kameraden unter Waffen sondern Freunde. Sie kannten sich von Kindesbeinen an. Sie hielten sich in den Schlachten gegenseitig den Rücken frei und unterstützten Graf Wilbour bei schwierigen Entscheidungen.

    Und genau eine solche kam nun auf Wilbour zu.

    Als er und die beiden ritterlichen Freunde bei Doghan eintrafen, war dieser kaum mehr ansprechbar. In seinem Hals steckte ein Pfeil, welcher genau oberhalb des Schutzkragens der Rüstung das Hemd durchbohrt hatte. Pulsierend schoss das Blut aus der Wunde. Doghan zitterte am ganzen Körper. Er wurde von einem Getreuen gestützt, sodass er mit seinem Kopf nicht im Dreck liegen musste. Mit einer schwachen Geste winkte er Wilbour zu sich. Dann packte er ihn am Arm und zog ihn zu sich hin.

    »Ich werde sterben!", keuchte er kaum verständlich.

    »Den Teufel werdet Ihr…!", sagte Wilbour und setzte ein gezwungenes Lächeln auf.

    Er kannte die Erscheinungsbilder des Todes nur zu gut. Viele Männer hatte er schon sterben sehen! In diesem Fall war klar, dass Doghan nur noch zwei oder drei Minuten blieben.

    Ein Schwall Blut quoll aus Doghans Mund. Er spuckte aus und sagte etwas klarer:

    »Bringt die Männer zu unseren Schiffen an die Küste und fahrt nach Hause! Sie sollen ihre Familien wiedersehen! Genug sind verblutet in Frankreich. Kehrt heim!« Starker Husten schüttelte ihn. Dann fasste er sich erneut und packte Wilbour noch stärker am Arm.

    »Lasst Euch von meinen Getreuen das Siegel aushändigen. Ich übertrage Euch die Befehlsgewalt über die Truppen. Die Männer werden Euch folgen. Sie kennen Euch und haben Vertrauen.«

    Noch einmal hustete er und krümmte sich vor Schmerz.

    »Enttäuscht mich nicht, Wilbour von Earlsbridge,…und danke für alles!«

    Dann zuckte er noch zwei, drei Mal und sackte schließlich leblos zusammen.

    Einen Augenblick stand Graf Wilbour nur da und versuchte die ganze Situation zu erfassen. Der Regen wusch das Blut von seinen Händen. Sir Eathon, welcher ihn mit seinem Schild vor den weniger werdenden Pfeilwellen schützte, schrie:

    »Graf Wilbour, wir müssen weg hier! Die werden uns abschlachten!« Wieder hörten sie das 'tock', 'tock' der Pfeile, welche sich in die Schilde bohrten und wieder fielen Männer schreiend in den Dreck. Es war die Hölle. Eingesperrt in diesem engen Tal, den Pfeilen der Franzosen ausgeliefert. Einige Engländer schossen Pfeile zurück auf ein Ziel, das sie nicht sehen konnten. Die Ritter ermahnten sie aber, die Pfeile zu sparen.

    Was sollte Wilbour nur tun? Plötzlich befehligte er die ganzen Truppen und befand sich an einer Stelle, von der es vermeintlich kein Entrinnen gab. Er musste damit rechnen, dass ihnen die Franzosen auch den Rückweg aus dem Tal versperrten. Ebenso war klar, dass sie ihnen auf der anderen Flussseite folgten. Ansonsten hätte der Pfeilregen längst aufgehört.

    Sie saßen in einer grausamen Falle. Er befahl Deckung und ließ die anderen Grafen und deren Hauptritter zu sich rufen. Viele waren es nicht mehr. Teilweise kamen bereits sehr junge Ritter, was nichts Anderes bedeuten konnte, als dass die Hauptritter tot waren und sie nun die Gruppen befehligen mussten, junge Ritter mit wenig Kampferfahrung.

    Graf Wilbour zögerte kurz, als er in die finsteren Umrisse dieser jungen Gesichter sah. Dann fasste er sich und rief:

    »Graf Doghan ist gefallen - wie viele Eurer Kameraden und Anführer auch. Sein Tod und der Tod der Euren soll nicht umsonst gewesen sein! Der Oberbefehl ist an mich abgetreten worden. Wir werden kämpfen! Wir werden uns bis zur Küste durchschlagen!«

    Wieder pfiffen Pfeile durch die Luft. Er zögerte kurz und blickte zum Himmel. Der Regen ließ etwas nach. Geduckt hinter ihren Schilden hörten die Männer zu.

    »Der Vorstoß über den Fluss ist blockiert. Ebenso vermutlich der Rückzug zu unserem verlassenen Lager. Über den Fluss kommen wir nicht. Uns bleibt also nur der Weg über die Hänge und Felsen neben uns, um so die Hochebene zu erreichen und der Falle zu entfliehen.«

    »Ihr«, er zeigte auf Graf Henley, »werdet mit Euren Leuten die Vorhut bilden und das Gelände erkunden! Eure Aufgabe ist es, die Anhöhe zu sichern, bis wir mit dem Rest der Truppen dort ankommen. Schickt mir einen Melder wenn wir nachziehen können!«

    Henley schaute Wilbour nachdenklich an. »Ich habe nur noch etwa drei Dutzend Berittene und höchstens zweihundert Mann Fußtruppen. Wenn wir dort oben auf die Franzosen treffen, werden wir uns nicht lange genug halten können.«

    »Eure Verluste tun mir leid, Graf Henley«, sagte Wilbour und wandte sich an den Ritter zu seiner Rechten. »Sir William - Ihr werdet mit Euren Soldaten dichtauf folgen!«

    Henley und William sammelten ihre verbliebenen Truppen und begannen den Aufstieg. Für die Pferde und vor allem für die schweren Schlachtrosse der Ritter eine schier unlösbare Aufgabe.

    Der Pfeilregen hatte aufgehört - so plötzlich, wie er eingesetzt hatte.

    Die kurze Atempause wurde dazu genutzt, sich um die Verwundeten zu kümmern und die Befehle nach hinten weiterzugeben.

    Wilbour hatte die Absicht, mit den ersten Folgetruppen den Hang zu erklimmen. Sir Eathon trug er auf, als letzter Mann zu folgen. Er hatte die Aufgabe, die verbliebenen kampffähigen Männer zu zählen und die verfügbaren Waffen abzuschätzen. Alle Verwundeten, welche noch irgendwie kämpfen konnten, wurden mitgenommen. Sir Tilley, ein Ritter aus Staffordshire, war selber verwundet und erklärte sich bereit, mit den übrigen Verwundeten auszuharren, um die vielleicht nachrückenden Franzosen so lange wie möglich aufzuhalten und so den übrigen Truppen den Aufstieg zu ermöglichen. Er wusste, dass es so oder so sein Todesurteil war und auch dasjenige seiner Männer. Es schmerzte Wilbour im Herzen. Er kannte Tilley, seit sie Kinder gewesen waren. Er, der Freund aus einer benachbarten Grafschaft, war über all die Jahre ein treuer Gefährte gewesen.

    »Lieber als Held sterben denn als Feigling überleben!", raunte Tilley, als er sich von Wilbour verabschiedete.

    Die Kolonne der Ritter und Soldaten wand sich mühsam aber unaufhörlich den steilen und glitschigen Hang hinauf. Graf Henley hatte eine sehr gute Route gefunden. Kein einziges Pferd stürzte ab und die Truppen erreichten noch vor dem Morgengrauen die Anhöhe.

    Die ersten Späher von Graf Henley kamen zurück und berichteten von der Hochebene. Die Nachricht war schlecht. Nach Norden, in Richtung Küste, standen französische Truppen. Im Osten und Süden sah es nicht viel anders aus. Sie hatten den Fluchtversuch erwartet und alle Wege dicht gemacht.

    Wilbour ließ seine Truppen formieren. Auf drei Seiten die Franzosen und hinter ihnen die Schlucht. Sie saßen fest!

    Es zog Nebel auf. Dichter, nasser Nebel. Der Tag brach an. Das Licht drang nur diffus durch.

    Das Warten begann.

    Zwei Stunden später begannen die Männer zu frieren. Der kalte Nebel kroch in ihr Beinzeug und unter die Rüstungen. Nur die Berittenen, welche auf den warmen Pferderücken sitzen konnten, schlotterten nicht. Ab und zu war ein leises Hüsteln oder das feine, klappernde Geräusch von Metall zu hören, welches durch das Zittern und Schlottern der Soldaten verursacht wurde. Zwischendurch waren immer wieder Wortfetzen von Gebeten zu vernehmen. Die Angst vor der bevorstehenden Schlacht war zu spüren. Einige der erschöpften Soldaten standen in den Pfützen ihres eigenen Urins. Vielleicht war es auch der Urin des Mannes, der nebenan stand und ebenso viel Angst hatte. Wen kümmerte es! Vermutlich würde es sowieso die letzte Schlacht für viele der wartenden Männer sein.

    Die Späher hatten berichtet, dass ihnen die Franzosen mindestens in doppelter Überzahl gegenüberstanden und nur darauf warteten, über sie herzufallen. Das einzige, was sie noch davon abhielt, war der dichte Nebel. Der sonst verhasste und krank machende Dunst wurde im Augenblick zur sicheren Rüstung. Mancher hoffte wohl, dass sich der Nebel nie verziehen möge!

    ***

    Graf Wilbour beriet sich mit Eathon und William. Sie vermuteten, dass Richtung Norden das Gros der französischen Truppen stand - mit dem Ziel, den Zugang zur Küste sicher zu unterbinden. Auf der Südseite dürfte die kleinste Truppe stehen, da dort der Nachschub aus dem Landesinneren stets gewährleistet war. Wie stark der Feind im Osten war, ließ sich nur erahnen. Die einzige freie Zone war bisher der steile Abhang zurück zum Fluss hinunter. Die logische Entscheidung wäre ein Rückzug in die Schlucht gewesen, die meisten Soldaten und Pferde waren aber erschöpft. Sie hatten Hunger und litten unter der Kälte. Einen erneuten Abstieg in die Schlucht hätte niemand verstanden.

    Wilbour schaute in die Reihen der Männer. Aschfahle Gesichter, erschöpft, verwundet, gedemütigt und ausgelaugt. Wie sollte er mit diesen Männern eine Schlacht gewinnen können?

    Eathon war nervös, wie er es vor jeder Schlacht war. Kaum zu halten und angespannt wie eine Feder. Er kaute verbissen auf seiner Unterlippe herum und zupfte dauernd an irgendwelchen Teilen der Rüstung herum. William war eher der ruhigere Mann. Mit ihm konnte man auch in höchster Hektik noch rationale Entscheide besprechen.

    »Graf Wilbour«, flüsterte William leise. »Sollen wir uns wirklich hier und heute von den Franzosen abschlachten lassen?«

    »Ich denke, dass wir keine großen Alternativen haben. Sie werden über uns herfallen wie die Hornissen.«

    »Wir könnten ausfallen. Und zwar dort, wo sie es am wenigsten vermuten - nämlich im Süden«, sprach William fast beiläufig.

    Graf Wilbour dachte kurz nach. »Dann müssten wir aber im dichten Nebel sehr nahe an ihre Reihen herankommen bevor sie uns bemerken. Dann könnten sie mit ihren verdammten Pfeilen nichts mehr ausrichten. Wir müssten sie überraschen!«

    »Eben - das meine ich ja!«, antwortete William triumphierend.

    »Und was tun wir dann?« William schwieg und starrte ins Leere.

    »Ich weiß, was wir tun«, sagte Wilbour, »ruft die Hauptleute zusammen!«

    »Ihr wollt sie aus der Formation nehmen?«, fragte William erstaunt.

    »Macht schon - wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Der Nebel könnte jederzeit verschwinden!«

    William ritt die Frontlinie entlang und rief so leise wie möglich die Hauptleute zusammen. Eathon wusste nicht recht, was er davon halten sollte. In dieser Situation die Hauptleute aus den Formationen abzuziehen war sehr gefährlich.

    Die Herbeigerufenen scharten sich um Wilbour. Dieser begann leise zu befehlen:

    »Getreue des Königs. Heute und hier entscheiden wir über das Leben aller Männer unserer Truppen. Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Wir sitzen hier in der Falle. Wir müssen handeln. Wir werden die schwächsten Formationen im Süden angreifen!«

    Ein Raunen ging durch die Reihen. Teilweise entsetzt schauten die Hauptleute Wilbour an. Doch er ließ ihnen kaum Zeit zum Nachdenken.

    »Wir können hier alle im Stehen sterben, oder wir können im bewegten Kampf das Unmögliche versuchen. Mehr als verrecken können wir dabei nicht! Im Süden erwarten sie uns am wenigsten. Wir schleichen uns im Nebel bis dicht an ihre Frontlinie heran und brechen dann wie ein Sturm über sie her. Das werden sie nicht erwarten. Die Überraschung wird groß sein!

    Graf Henley wird mit seiner Truppe zurück über die Krete in den Abhang zur Schlucht gehen und dort warten. Wenn die gegnerischen Truppen im Norden den Kampflärm im Süden vernehmen, werden sie sich zur Verstärkung nach Süden verschieben und versuchen uns in den Rücken zu fallen. Ihr, Graf Henley, werdet Euch hinter der Krete versteckt halten, bis der Feind von Norden nach Süden an Euch vorbeigezogen ist. Wenn Ihr unser Signalhorn hört, stoßt Ihr dem Feind mit ganzer Gewalt in den Rücken. Ihr in der Mitte und die beiden anderen Spitzen in den beiden Flanken. Sobald dann der Kampf an beiden Fronten voll im Gang ist, teilen wir uns vorne in zwei Kampflinien auf. Die vordere Linie bekämpft weiterhin die Frontlinie der Franzosen im Süden. Die hintere Linie macht kehrt und bekämpft die Truppen, welche uns aus dem Norden in den Rücken fallen. Diese Truppen müssen wir vernichten!. Um jeden Preis! Graf Henley von hinten, wir von vorne. Danach ist der Weg frei gegen Norden. In diese Richtung müssen wir dann einen raschen Rückzug beginnen. Dabei lasst Ihr, Henley, Euch mit Eurem Gefolge auf die östliche Seite der Rückzugslinie fallen, um einen möglichen Angriff der Franzosen im Osten auf unsere Flanke abzuwehren!«

    Dann wandte er sich an Eathon: »Ihr haltet mit der vorderen Frontlinie die südliche Position, bis wir einen Vorsprung von gut tausend Fuß haben. Danach lasst Ihr Euch langsam zurückfallen, um alle hundert Fuß erneut nach vorne vorzustoßen. Ihr müsst sie zermürben. Tötet so viele wie Ihr könnt! Jeder, den wir hier töten, kann uns auf dem Weg zur Küste nicht mehr verfolgen!«

    Die Hauptleute nickten zustimmend.

    »Befestigt alles, was klappert oder andere Geräusche macht. Wir dürfen uns nicht verraten. Ihr habt nur sehr wenig Zeit zur Verfügung, um Eure Truppen zu instruieren!

    Gott sei mit Euch - wenn nicht heute, dann nie mehr!«

    Die Hauptleute und Sir Eathon schlichen davon. Wilbour machte Graf Henley ein Zeichen. Dieser trat näher.

    »Graf Henley - alter und treuer Kamerad - auf Euch und Eure Truppen kommt es in diesem Kampf an. Ihr bildet das Rückgrat dieser Schlacht. Gebt Euer Bestes!«

    Henley nickte fast unsichtbar: »Gott beschütze Euch, Graf Wilbour.« Dann verschwand er im Nebel.

    ***

    Der Nebel hielt an. Es war eine leise Unruhe festzustellen. Alle gaben sich Mühe, möglichst leise zu sein. Trotzdem waren vereinzelte Geräusche nicht zu überhören. Langsam formierten sich die Einheiten neu und setzten sich schleichend in Bewegung. Vor jedem Trupp befand sich ein Späher, welcher etwa hundert Fuß voraus schlich. Es war gespenstisch. Die Ritter hielten sich mit den Schlachtrossen zuhinterst, da diese Tiere unberechenbar waren. Ein Schnauben oder ein Wiehern hätte alles verraten. Plötzlich waren französische Wortfetzen zu hören. Sie konnten nicht mehr weit sein. Dann vernahm man ein herzhaftes Lachen.

    »Die rechnen nicht mit uns!«, dachte Wilbour und fühlte langsam das Adrenalin in sich aufsteigen.

    Dann plötzlich kam ein Späher in stark gebückter Haltung zurück und machte ein Handzeichen. Er streckte beide Hände in die Luft und zeigte acht Finger. Sie waren also nur noch an die achtzig Fuß vom Feind entfernt. Jetzt standen alle bockstill. Jeder wusste, dass nun das Abschlachten losging. Kein Geräusch war zu hören. Alle waren sich bewusst, dass das leiseste Geräusch den ganzen Kampf entscheiden konnte.

    Die Engländer verharrten ein paar Augenblicke so. Dann plötzlich riss mit einer Windböe der Nebel auf! Wilbour zögerte keinen Augenblick: »Angriff, Angriff, Angriff!«, schrie er, so laut er konnte. Die Hauptleute in einiger Entfernung wiederholten den Befehl, und es ging los!

    In den ersten paar Augenblicken war es ein sehr ungleicher Kampf. Die Franzosen, vollkommen überrascht und aufgeschreckt, fanden keine Kampfordnung und wurden reihenweise niedergemacht. Dann waren auch die englischen Ritter mit ihren schweren Schlachtrossen bis zur Frontlinie vorgestoßen. Sie brachen durch und mähten links und rechts alles nieder, was sich bewegte. Erst jetzt fiel auf, dass der Feind teilweise nicht einmal ganz ausgerüstet war. Viele trugen keine Helme oder hatten ihre Waffen nicht bei sich. Offensichtlich hätte ihr Angriff noch längere Zeit nicht stattgefunden. Es war ein Gemetzel - ein Abschlachten!

    In den englischen Reihen gab es praktisch keine Verluste. In den feindlichen Reihen aber fielen sie zu Hunderten in den ersten Augenblicken der Schlacht.

    Wilbour zog sich etwas aus dem Kampf zurück um die Übersicht zu gewinnen. Der Nebel verzog sich zusehends und die Sonne begann das Schlachtfeld zu erhellen. Nur noch die östliche Flanke stand im Nebel. Dann kam der Meldereiter von hinten und schrie: »Herr, Herr, der Feind aus dem Norden greift uns von hinten an!«

    »Wie weit noch?«, rief Wilbour.

    »Vielleicht noch tausend Fuß!«

    Wilbour gab seinem Ross die Sporen und preschte zum Hornisten.

    »Gib das Signal - sofort!«

    Der Hornist blies. Sofort wandte sich die hintere Formation der Frontlinie ab und bewegte sich zurück in Richtung Norden. Der Nebel dort war noch immer dicht. Trotzdem waren bereits die schemenhaften Umrisse der heranstürmenden Franzosen zu sehen. Es dauerte kaum vier Atemzüge bis die ersten Kämpfe losbrachen. Kurz danach prallte die feindliche Truppe aus dem Norden mit voller Wucht in die bereits geschwächten Reihen der englischen Soldaten.

    »Hoffentlich reagiert Henley schnell!«, dachte sich Wilbour und stürzte sich in den Kampf.

    William war plötzlich wieder an seiner Seite. Wilbour staunte immer wieder, mit welcher Leichtigkeit William sein Schwert führte. Jeder Hieb traf, jeder Angriff wurde pariert. Und er schien einfach nicht müde zu werden. Sogar im Kampf verfügte er über eine gewisse Ruhe, die fast Angst machte.

    »Wo bleibt Henley?«, schrie Wilbour.

    »Er wird kommen - so wie er immer kommt wenn man ihn braucht!«, rief William zurück, während er im Vorbeireiten einem vom Pferd gefallenen französischen Ritter den Kopf vom Hals trennte. Einfach so - als würde er auf den Boden spucken. Total emotionslos. Und noch ein Hieb, und ein weiterer Franzose starb. Dann noch einer und noch einer. William zog eine Schneise des Todes durch die feindlichen Linien.

    »Gut, dass er zu uns gehört!«, sagte sich Wilbour.

    Langsam kam Wilbours Linie unter Druck. Da half auch kein William. Sie wurden zurückgedrängt, Fuß um Fuß. Sie hatten nun die Zweifrontenschlacht, welche nur ein paar Augenblicke hätte dauern sollen, und auf beiden Seiten fielen die Männer wie die Fliegen. Das war kein Kampf mehr - das war nur noch ein Gemetzel! William zog seine Kreise, sein Ross und er selber von oben bis unten mit Blut bespritzt. Aber immer noch ruhig. Das war einfach unfassbar. Er funktionierte wie eine Kampfmaschine. Graf Wilbour wollte soeben den Befehl zum Rückzug in Richtung Osten zurück in den Nebel geben, als er in den französischen Linien Unruhe feststellte. Irgendwie waren die Truppen aus dem Norden verwirrt. Dann ertönten Schreie und Kommandos auf Französisch.

    »Henley ist da!« schrie Graf Wilbour und pfiff William zu sich.

    »Versucht unsere Linien zu formieren. Wir nehmen sie in die Zange! Und schickt jemanden zu Eathon. Er soll unseren Vorstoß nach Norden im Auge behalten um sich dann nach und nach zurückfallen zu lassen!«

    William preschte davon, nicht ohne dabei noch drei oder vier Feinde zu töten.

    Wilbour führte den Angriff auf die Nordtruppen selber. Er versuchte durchzubrechen und zu Graf Henley vorzustoßen, es blieb ihm aber zu wenig Raum und sein Schlachtross begann zu lahmen. Als Wilbour kurz nach unten schaute, sah er eine klaffende Wunde direkt unter dem Brustpanzer des Rosses. Er musste sich hinter die Linie zurückziehen und kurz absteigen.

    William, der zurückkam, sah nur Wilbours Schlachtross stehen, aber er sah nichts vom Grafen selbst. Das Schlimmste vermutend, preschte er heran und war erleichtert, dass Wilbour vor dem Ross stand. Als er aber die Verwundung des Rosses sah, wich die Erleichterung. Ihre beiden Blicke trafen sich.

    »Graf Bagley ist gefallen! Ich werde Euch sein Schlachtross holen!«, schrie William und galoppierte wieder davon.

    Blitzartig hatte Wilbour eine Handvoll seiner Soldaten und Ritter um sich, welche den Kampf von ihm fernhielten. Ein Oberbefehlshaber am Boden war immer schlecht. So hatte er keine Übersicht!

    Ein junger Ritter sprang von seinem Pferd und gab Wilbour ein Zeichen. Dieser stieg auf dessen Pferd und versuchte sich sofort zu orientieren. Der junge Ritter begab sich zu Wilbours Schlachtross und nahm es am Zügel.

    »Kämpft, Sir!«, schrie Wilbour den Ritter an, »Euer Knappe kann den Zügel halten!«

    Der junge Ritter warf sich in den Kampf. Wilbour beobachtete ihn einen Moment lang. Er kämpfte gut, sogar sehr gut. Wie er sich mit der doch schweren Rüstung bewegte! Behände, kraftvoll, flink wie ein Wiesel!

    William kam mit Bagleys Schlachtross zurück. Sofort stieg Wilbour vom Pferd des jungen Ritters herunter und schwang sich auf das Schlachtross. Das Tier bockte zuerst, fügte sich dann aber in sein Schicksal.

    »Was ist mit ihm?«, rief William und deutete auf das verwundete Ross.

    »Sieht nicht gut aus! Der Knappe soll es hinter uns herführen!«

    Bereits trafen die ersten Männer von Henley auf Wilbours Leute, was nichts anderes bedeuten konnte, als dass sich die Reihen der Franzosen lichteten. Sie hatten es bis jetzt geschafft. Mit vereinten Kräften machten sie die Franzosen nieder. Jeder, der noch im Weg stand, wurde getötet. Dann standen keine Franzosen mehr, und Wilbour gab den Befehl, sich langsam Richtung Norden zu verschieben.

    Der junge Ritter, welcher nun wieder auf seinem eigenen Pferd saß, gesellte sich zu Wilbour und William. »Ich gratuliere Euch, Graf Wilbour, ich glaube Euer Plan funktioniert!«

    Henley, welcher ebenfalls dazustieß, grüßte kurz und machte Bericht. »Ich habe wieder viele meiner Männer verloren! Hoffentlich war es nicht umsonst.«

    »William!«, schrie Wilbour und riss sein Ross am Zügel herum. »Ihr geht zu Eathon - er soll sich langsam aber kämpfend zurückziehen und uns folgen!«

    William preschte davon. Henleys Melder kamen zurück. Außer Atem krächzte der ältere der beiden: »Die Ostflanke wird angegriffen!«

    Henley zögerte keinen Augenblick. Er trieb seine Männer zum Gegenangriff an. Sie verschwanden im dichten Nebel, welcher die Ostflanke immer noch einhüllte.

    Die Schlacht hatte nun einen der heikelsten Momente erreicht. Eathon schlug sich gegen die Südfront und musste sich schrittweise zurückziehen, um Wilbours Truppen in nördlicher Richtung zu folgen. Henley schlug sich im Osten gegen den Angriff auf die rechte Flanke. Wilbour selber führte seine Truppen Richtung Norden. Wenn nun der Abstand zwischen Wilbours und Eathons Truppen zu groß wurde und Henley dem Angriff an der Ostflanke nicht standhielt, könnte dies den Franzosen ermöglichen, einen Keil zwischen die englischen Truppen zu treiben.

    Wilbour verlangsamte. Er traute der Situation nicht. In diesem Moment traf ein Melder von Henley ein: »Es ist ein schwerer Kampf, Herr! Wir wissen nicht, ob wir standhalten können!« Dann brach er zusammen. Erst jetzt sah Wilbour, dass dem Mann ein Pfeil im Rücken steckte.

    »Braucht ihr Verstärkung?«, schrie Wilbour den Melder an. Doch dieser gab keine Antwort mehr. Er lag tot in seinem Blut.

    »Ich werde hinreiten, Graf Wilbour«, rief der junge Ritter, welcher ihm nicht von der Seite gewichen war. Er gab seinem Pferd die Sporen und verschwand im Nebel.

    Der Kriegslärm war grauenhaft. Aggressives Gebrüll vermischte sich mit den Schmerzensschreien der Fallenden. Das andauernde Klirren von aufeinandertreffenden Schwertern schmerzte in den Ohren. Da und dort das schmerzvolle Wiehern und Schnauben eines Pferdes.

    Es war die Hölle!

    Dann plötzlich riss der Nebel vollständig auf. Wilbour konnte nun bis zur Ostflanke und im Süden bis zu Eathons Frontlinie blicken. Die Situation war verworren. Er ritt ein paar Fuß weiter um auf einen kleinen Hügel zu gelangen. Dort sah er es deutlich! Sie waren in Gefahr, eingeschlossen zu werden. »Was soll ich nur tun?«, fragte sich Wilbour. »Was hätte Doghan an meiner Stelle getan?« Ganz kurz blitzte in seinem Kopf ein Gedanke auf: Er könnte sich mit seinem Teil der Truppen nach Norden absetzen und die anderen ihrem Schicksal überlassen. Er würde es bis zur Küste schaffen. Die anderen würden ihm zu einem Vorsprung verhelfen, ohne dies zu merken. Aber er schüttelte den Kopf und warf den unsäglichen Gedanken ab. Er schämte sich dafür.

    Der junge Ritter kam zurück. Seine Rüstung war blutbespritzt, ebenso die rechte Seite seines Pferdes. Nicht sein eigenes Blut! Er war außer Atem.

    »Graf Wilbour«, keuchte er, »Henley kann sich nicht halten! Er ist im Begriff, sich westwärts hierher zurückzuziehen.«

    Jetzt musste alles sehr schnell gehen. Ohne zu zögern formierte Wilbour seine Leute und rief die Anführer zu sich. Sir Digespie fehlte. Er wurde als gefallen gemeldet.

    »Wer ist sein Stellvertreter?«, fragte Wilbour. Die Männer aus Digespies Truppe schauten sich fragend um. Viele junge Männer mit ratlosen Gesichtern.

    »Ihr!«, schrie Wilbour während er sein Ross auf der Stelle drehte und blickte den jungen Ritter an.

    »Wessen Wappen tragt Ihr?«

    »Das edle Wappen des Grafen von Lesterbury!«

    Jetzt erst konnte Wilbour das blutverschmierte Wappen auf der Brust des Ritters erkennen. Er kannte den Grafen von Lesterbury.

    »Ist Euer Graf nicht mit in die Schlacht gezogen?«

    »Nein - er hat sich letzten Sommer auf der Jagd beide Beine gebrochen. Mit zwei steifen Knien kann er nicht in den Kampf ziehen.«

    »Und seine Leute? Ihr seid ja bestimmt nicht alleine nach Frankreich gekommen!«

    »Wir waren nur zwei Dutzend Männer. Soviel ich weiß leben noch deren drei. Vielleicht. Die anderen zwei sind bei Sir Eathon an der Kampflinie im Süden.« Er senkte kurz den Kopf und blickte zu Boden.

    »Wie ist Euer Name, Ritter?«, fragte Wilbour.

    »Thomas Biggs ist mein Name.«

    Wilbour dachte kurz nach.

    »Sir Thomas Biggs - Ihr werdet Digespies Männer übernehmen und von nun an führen. Macht Graf Lesterbury und dessen Wappen Ehre. Ich kenne ihn gut. Er ist ein Freund!«

    Ritter Thomas Biggs machte ein erstauntes Gesicht und blickte sich kurz um, als wartete er auf einen Einspruch. Dann sagte er entschlossen: »Ich danke Euch, Graf. Ich werde Euch nicht enttäuschen. Wie lautet mein Auftrag?«

    »Ihr werdet mit Eurer Truppe zurück zu Henley stoßen und verhindern, dass er sich zurückziehen muss. Ihr müsst die Ostflanke so lange halten, bis Sir Eathon mit seinen Truppen von Süden her zu uns aufschließen kann. Wenn das erfolgt ist, werdet Ihr mit Graf Henley die Ostflanke weiter sichern, Euch aber dabei wie wir nach Norden bewegen. Danach werden wir auf dem Weg nach Norden permanent wieder südwärts ausfallen und die französischen Verfolger im Süden und Osten attackieren. Wir müssen Sie zermürben, bis sie aufgeben!«

    »Wir werden die Ostflanke halten!«, rief Sir Thomas Biggs und jagte mit Digespies Männern nach Osten.

    Wilbour sah, wie sich Eathons Südfrontlinie wie vereinbart stetig weiter nach Norden in seine Richtung zurückzog. Er konnte auch sehen, dass die Franzosen zögerten, nachzustoßen. Offenbar befürchteten sie, dass die Nachschublinien abreißen könnten. Oder aber es war eine Taktik, damit die Truppen im Osten die englischen Verbände spalten konnten. Die letzte Möglichkeit - und die sympathischste - war, dass die Franzosen keine Kraft mehr hatten. Möglich wäre es gewesen. Die Schlacht dauerte nun doch schon sehr lange.

    Offenbar hatte der Melder Eathon erreicht, denn plötzlich konnte Wilbour sehen, dass Eathons Truppen explosionsartig wieder nach Süden ausfielen und reihenweise Franzosen niedermachten, um kurz darauf wieder in die Rückzugsformation zu wechseln. Immer wieder wiederholte Eathon diesen Vorgang. Wilbour staunte. Zu solchen Schachzügen auf dem Schlachtfeld brauchte es sehr gute Führer, denen die Soldaten blind vertrauten. Auch wenn Eathon sonst immer sehr nervös und ungehalten wirkte, war er im Kampf ein äußerst sicherer Führer.

    Henley und Biggs schafften es, die Franzosen im Osten wieder auf die ursprüngliche Geländelinie zurückzuschlagen. Dabei mussten sie aufpassen, dass der Gegner die Abwehrlinie nicht im Norden umgehen konnte. Die Reiterei war permanent daran, diese Vorstöße an der Nordseite der Angriffslinie abzuschlagen.

    William kam herangeritten. Er sah schlecht aus. Blut rann über sein Gesicht.

    »Wilbour - die Männer sind am Ende! Sie können einfach nicht mehr! Eathon hat mehr als die Hälfte seiner Leute verloren!«

    »Auch die Franzosen sind am Ende, William. Ihr müsst noch durchhalten. Nur kurze Zeit!«

    William wandte sich ab und eilte zurück in die Schlacht.

    Eathons Frontlinie zog sich weiter planmäßig zurück, aber die Ausfälle wurden seltener. Nicht unbedingt weil Eathons Leute nicht mehr konnten, sondern weil die Franzosen nicht mehr dichtauf folgten.

    Dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Wilbour vernahm Hornsignale. Kurz darauf zogen sich die Franzosen sowohl im Süden als auch im Osten zurück. Wären seine eigenen Truppen nicht so erschöpft gewesen, hätten sie die Franzosen vermutlich noch ein Stück weit verfolgt.

    Der Jubel bei den Engländern hielt sich im Rahmen. Die Soldaten waren schlicht und einfach zu erschöpft.

    Dann kehrte gespenstische Ruhe ein. Noch eine ganze Weile hielten die Engländer die Linien, falls die Franzosen nochmals angreifen sollten. Aber nichts geschah.

    Wilbour ließ seinen Blick über das Schlachtfeld gleiten. Hunderte, wenn nicht Tausende von Toten lagen auf dem Boden. Die bunten Waffenröcke der toten und verwundeten Franzosen sahen von weitem aus wie eine Blumenwiese. Schrecklich schön! Schrecklich traurig!

    In der nächsten Stunde zogen sich die Engländer an beiden Fronten zurück und sammelten sich neu um in Richtung Norden zu marschieren. Viele Soldaten hielten oder stützten einen verwundeten Kameraden. Aber viele -sehr viele - kamen nicht vom Schlachtfeld zurück.

    Wilbours Truppe formierte sich neu und teilte die voll einsatzfähigen Männer, ohne die Zugehörigkeit zu irgendwelchen Wappen zu berücksichtigen, an die Ostflanke zu Henley ein, da ein erneuter Angriff von dort am wahrscheinlichsten war. An der Westflanke wurden die Verwundeten transportiert.

    Wilbour schätzte seine Truppen auf nur noch etwa dreihundert einsatzfähige Fußsoldaten und etwa vierzig bis sechzig Berittene. Sie hatten also in diesen zwei Tagen mehr als tausendvierhundert Männer verloren! Väter, Brüder und Söhne. Die meisten von ihnen haben diesen Krieg nicht verstanden. Trotzdem hatten sie ihr Leben für ihren König und ihr Land gegeben.

    Die fünfzehn Meilen bis zur Küste mussten sie in einem Stück zurücklegen. Sie mussten den Vorsprung auf die Franzosen halten, für den Fall, dass diese die Verfolgung aufnehmen würden - und dessen war sich Graf Wilbour sicher. Rast gab es keine. Essen konnte auch nicht zubereitet werden. Den Männern wurde alles abverlangt.

    Die Nacht brach herein und wieder zogen Nebelschwaden auf. Die Truppen marschierten weiter. Völlig erschöpft, hungrig, durchnässt, blutend und ausgelaugt.

    Nach Mitternacht kamen die Späher zurück und meldeten, dass die Küste etwa zwei Meilen vor ihnen lag.

    Sie marschierten noch etwa eine Meile, dann ließ Wilbour Rast machen. Er schickte erneut Späher aus um die Küste nach den englischen Schiffen abzusuchen. Er ließ die Wachen einteilen und die Soldaten ließen sich dort fallen wo sie gerade standen. Erschöpfungsschlaf! Dann setzte wieder Regen ein.

    Im Morgengrauen kamen einige Späher zurück. Sie hatten die Schiffe nicht entdecken können. Wilbour rief die Hauptleute zu sich.

    Genau vor diesem Augenblick hatte er sich den ganzen Weg lang gefürchtet. Die Schiffe waren nicht da!

    Im Rücken die Franzosen, vor ihnen das Meer. Abgeschlachtet werden oder ersaufen. Was für eine Wahl!

    »Die Schiffe sind…«, sagte er und stockte. Sein Blick glitt zum Rand der Klippen, welche sich in der einsetzenden Morgendämmerung schwach abzeichneten. Dort bewegte sich etwas! Wilbours Blick entging den Männern um ihn herum nicht. Allesamt drehten sie den Kopf und starrten zu den Klippen. Es waren Männer. Fünf oder sechs, welche sich behände auf sie zubewegten. Sir Thomas Biggs und drei weitere Berittene preschten den Gestalten entgegen. Mit gezogenen Schwertern kreisten sie die Männer ein. Dann folgte ein Wortwechsel. Die Leute um Wilbour konnten nichts verstehen. Die Ritter nahmen die Männer in ihre Mitte und begleiteten sie zu Wilbour.

    »Wer seid Ihr - Was tut Ihr hier?«, rief William.

    »Wir kommen von der „Lady Marianne". Wir haben wichtige Nachrichten, Sir. Nachrichten für Graf Doghan.«

    »Wer zum Teufel ist Lady Marianne?«, zischte Wilbour.

    »Herr, das ist unser Schiff. Wir liegen etwa zwei Meilen weiter östlich an der Küste. Wir haben auf Euch gewartet, Graf Doghan.«

    »Graf Doghan ist im Kampf gefallen. Ich bin Graf Wilbour und führe die Truppen.«

    »Wo, sagt Ihr, liegt Euer Schiff?«, fragte Thomas Biggs verunsichert. »Unsere Späher haben keine Schiffe gesehen!« Er trat mit seinem Ross direkt neben den Sprecher hin. Dieser hatte Angst vor diesem massigen, muskulösen, schwarzen Pferdekörper.

    »Herr - wir haben eben erst angelegt. In der Nacht war es zu gefährlich. Wir wussten ja nicht, was uns an der Küste erwarten würde. Und die Schiffe liegen in einer Bucht, welche von der Küstenlinie aus nicht einsehbar ist.«

    War das eine Falle? Verunsichert sahen die Männer Wilbour an.

    »Eathon - Ihr geht mit sechs Reitern Nachschau halten. Den hier nehmt Ihr mit«, er zeigte auf den ältesten der Männer vom Schiff, »und die anderen bleiben hier. Zur Sicherheit. Solltet ihr nicht zurück sein, bevor die Sonne ganz hinter den Hügeln dort hinten aufgegangen ist, werden wir die anderen hier töten!«

    Sofort ritten sie davon.

    Wilbour ließ einen Teil der Truppen die Umgebung sichern. Sie mussten jederzeit damit rechnen, dass die Franzosen von Süden oder Osten her auftauchten. Es war ein jammervolles Bild, als die schlafenden Soldaten aufgeweckt werden mussten. Die ersten paar Schritte gingen sie wie Betrunkene. Es wurde geflucht. Einige weinten. Sie waren am Ende.

    Thomas Biggs trat zu Wilbour hin. Der Regen weichte das Blut an seiner Rüstung wieder auf und ließ es in feinen Rinnsalen den Beinen nach über die Stiefel tropfen.

    »Ihr habt gut gekämpft, Sir Biggs. Und Ihr habt gut geführt!«

    »Danke, Graf - aber ohne Graf Henley hätte ich meine Leute nicht zusammenhalten können«, entgegnete Biggs.

    Henley und Wilbour warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

    »Ihr seid ein sehr junger Ritter, Biggs. Aber Ihr versteht es, Euch wie ein Ritter zu benehmen!«

    Einen Moment dachte Wilbour nach, während er Biggs musterte. »Kenne ich Euch nicht?«

    »Ja, Graf - Ihr kennt mich vielleicht. Ich bin in Earlsbridge aufgewachsen. Zimmermann Biggs war mein Vater. Er hat oft für Euch gearbeitet.«

    »Aber natürlich!«, rief Wilbour aus, »der gute Biggs! Sein Tod kam sehr unverhofft. Jetzt weiß ich auch, woher ich Euch kenne. Ihr wart Knappe von Sir Frederic, oder nicht?«

    »Das stimmt. Nach Sir Frederics Tod wusste ich nicht wie weiter. Mein Vater war gestorben, meine Mutter bereits ein Jahr früher. Ich war allein. Da in Earlsbridge kein Bedarf an Knappen war, ging ich fort. Ich kam aber nicht weit, nur bis in die Grafschaft von Lesterbury. Der Zufall wollte es, dass ich im Wald vor Lesterbury Hilfeschreie hörte. Ich rannte, so schnell ich konnte. Kurz vor der kleinen Steinbrücke bei der Mühle sah ich, wie Wegelagerer zwei junge Frauen angingen. Die Jüngere wurde am Boden festgehalten, das Kleid vom Körper gerissen. Sie wehrte sich, so gut sie konnte, doch die zwei Männer über ihr wollten sie schänden. Die andere Frau wurde festgehalten und schrie, bis ihr einer der Männer mit der Faust in den Bauch schlug, sodass sie sich nach vorne krümmte und schwieg. Ich überlegte nicht. Ich hätte mir sehnlichst ein Schwert gewünscht, durfte aber noch keines tragen. Also packte ich meinen Wanderstock und das Gürtelmesser und stürzte mich auf die Halunken. Der Kampf war lange und heftig. Ich wurde verwundet, doch tötete ich zwei der Wegelagerer und schlug den dritten zum Krüppel. Sir Frederic hatte mir bis dahin schon einiges beigebracht!«, sagte er stolz.

    »Und wie wurdet Ihr zum Ritter?«, fragte Henley nach.

    »Die jüngere der beiden Frauen war die Tochter des Grafen von Lesterbury, von dem ich bislang immer nur gehört, ihn aber nicht gekannt hatte. Die andere Frau war ihre Zofe. Ich begleitete also die beiden Frauen zurück auf die Burg des Grafen und schleifte dabei den noch lebenden Wegelagerer mit. Als wir uns dem Tor näherten, kamen uns zwei Ritter entgegen. Ziemlich erstaunt über das, was sie sahen, hielten sie mich an.

    Die junge Frau erklärte sofort, was sich zugetragen hatte, worauf wir umgehend zum Grafen geführt wurden. Den Krüppel wollten sie mir abnehmen und ihn ins Verlies werfen. Doch ich bestand darauf, den Halunken selber abzuliefern. Und so lernte ich den Grafen persönlich kennen. Als Dank durfte ich in seine Dienste treten. Ein Jahr danach bestand ich alle Prüfungen und wurde zum Ritter geschlagen. Ich erhielt ein Haus, welches etwas außerhalb des Dorfes an den Hügeln liegt. seitdem darf ich den Titel «Sir Thomas Biggs» tragen und unter dem Wappen des Grafen von Lesterbury reiten.«

    »Wann seid Ihr nach Frankreich gekommen?«, fragte Wilbour.

    »Vor drei Monaten.«

    »Wenn wir wieder zuhause sind, müsst Ihr mich in Earlsbridge besuchen, junger Ritter!«

    »Graf Wilbour«, sagte Biggs zögerlich und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Darf ich fragen, wann Ihr letztmals Nachricht von zuhause hattet?«

    Wilbour hielt einen Augenblick inne, dachte nach und sagte dann: »Vor etwa achtzehn Monaten. Warum fragt Ihr?«

    Biggs zögerte erneut. »Es ist nur so, dass…«

    Ein aufgeregter Ruf unterbrach ihn.

    Der Späher eilte herbei und berichtete außer sich: »Sie sammeln sich. Sie formieren sich zum Angriff. Keine zwei Meilen von hier, aus südlicher Richtung. Es sind etwa tausend Mann und viele Berittene!«

    Wilbour gefror das Blut in den Adern. Sofort ließ er die Truppen aufwecken und formieren. Er befahl, alles sehr leise zu tun. Er wollte nicht, dass die Franzosen hörten, dass sie sich zur Verteidigung aufstellten.

    »Henley und Biggs - Ihr nehmt Eure Truppen und sichert die Küstenlinie bis zu den Schiffen, sofern welche dort sind. Sie dürfen uns auf keinen Fall den Weg abschneiden!«

    Wilbour und William ritten die Linien auf und ab. Eilends türmten die Soldaten herumliegende Steine aufeinander und bauten so kleine Deckungen gegen die Pfeile der französischen Bogenschützen. Die Lage im Gelände war nicht so schlecht. Leicht erhöht, im Rücken der Abhang zur Küste, welcher im Notfall auch begangen werden konnte, von wo aber kein Angriff der Franzosen erwartet werden musste. Trotzdem saßen sie ziemlich in der Falle.

    Wieder kam ein Späher und berichtete, dass sich Teile des Feindes in Bewegung gesetzt hätten und nun noch etwa eineinhalb Meilen entfernt waren. Wilbour überlegte, wie lange es noch dauern könnte, bis die Franzosen über sie herfallen würden. In diesem Augenblick hörte er Hufschlag von der Küste her. Er sah, wie Eathon mit seinen Reitern zurückkam. Schon von Weitem winkte dieser aufgeregt. Beim Näherkommen rief er: »Sie sind da! Die Schiffe sind tatsächlich da!«

    Jetzt musste alles sehr schnell gehen! Wilbour ließ die Truppen sammeln und im Laufschritt den Weg zu den Schiffen antreten. Eine kleine Nachhut von knapp siebzig Mann und ein paar Reitern sollte dem Hauptteil der Truppen den Rücken decken und mit etwas Abstand folgen. Gleichzeitig schickte er Eathon wieder los. Er solle sollte ihnen die Soldaten und Matrosen von den Schiffen entgegenschicken, um sie nötigenfalls gegen den nachrückenden Feind zu unterstützen.

    Es dauerte einen Moment, bis die Truppen die geordnete Flucht antraten. Doch dann liefen die Männer mit ihren letzten Kräften, so schnell sie ihre Füße noch trugen. Vereinzelte krallten sich an den Sätteln der Berittenen fest und ließen sich einfach mitschleifen.

    Wilbour preschte mit seinem Schlachtross an der Spitze voran. Die Küstenlinie beschrieb vor ihnen eine leichte Biegung. Als sie durch diese ritten und in die dahinterliegende Bucht blicken konnten, schlug ihr Herz höher. Sie konnten es also doch noch schaffen! Sechs Schiffe unter englischer Flagge lagen in der Bucht vor Anker!

    Beim Eingang zur Bucht kamen ihnen die Soldaten und Matrosen der Schiffe entgegen. Sie kreuzten Wilbours Truppen im Laufschritt. Die Leute von den Schiffen waren ausgeruht und kampfbereit. Ein Melder rannte auf Wilbour zu: »Graf Doghan - Ihr sollt Eure Truppen über das Felsenband zum äußersten Schiff an dem Felsen dort führen!«, rief er und zeigte aufgeregt in die Bucht.

    »Graf Doghan ist gefallen - ich befehlige die Truppen!«

    »Verzeihung, Herr, diese Nachricht ist neu. Wie darf ich Euch ansprechen?«

    »Graf Wilbour von Earlsbridge«, entgegnete dieser knapp. »Warum müssen wir den Felsen nach in die Bucht reiten?«

    »Unser Kapitän weiß, dass Ihr verfolgt werdet. Wir haben nicht viel Zeit zum Verladen. Er hat sein Schiff an einer speziellen Stelle vertäut. Seht Ihr dort den senkrechten Felsen mit dem Plateau oben drauf? Dieses Plateau befindet sich auf der Bordlinie des Schiffes. Es sind Planken verlegt worden, damit Ihr, Eure Männer und die Pferde direkt auf das Schiff gelangen können. Die anderen Schiffe sind ihrerseits mit Planken verbunden. So können wir sehr schnell alle Männer und Pferde aufnehmen und auf die Schiffe verteilen. Mit den Booten bräuchten wir dafür zwei Tage!«, rief er und strahlte sichtlich stolz über das ganze Gesicht.

    »Gehen Sie zu Ihrem Kapitän und beglückwünschen Sie ihn in meinem Namen zu diesem guten Plan!«, sagte Wilbour. Dann gab er den Befehl weiter nach hinten und galoppierte los.

    Der schmale Pfad entlang der Klippe war gefährlich - mit Wagen wäre er unpassierbar gewesen. Schon gingen die ersten Pferde und Soldaten über die Planken auf das erste Schiff und verteilten sich sofort auch auf die anderen Schiffe.

    Es beeilten sich alle und trotzdem dauerte und dauerte es! Schneller war es einfach nicht möglich. Zwei Pferde waren bereits abgestürzt, das eine hatte den Reiter mit sich ins Meer gerissen. Das Pferd hatte überlebt und war ans Ufer geschwommen. Der Reiter war durch seine Waffen und die Panzerung in die Tiefe gezogen worden.

    Dann plötzlich hörte man Kommandos und Lärm, welcher vom hintersten Ende der Truppen her ertönte. Wilbour, der zu Fuß auf einen Felsvorsprung gestiegen war, blickte über die immer noch große Zahl von Soldaten und Reitern hinweg, welche noch verladen werden mussten. Er brauchte nicht lange, um die Situation zu erfassen. Die Nachhut seiner Truppen wurde angegriffen. Die Franzosen waren also nachgerückt, wie er dies befürchtet hatte.

    Etwas mehr als die Hälfte der Truppen war zu diesem Zeitpunkt schon verladen worden. Der ganze Rest drängte nun verständlicherweise zur Bucht um so rasch wie möglich auf die Schiffe zu gelangen. Die Kampflinie befand sich nun noch etwa tausendfünfhundert Fuß von der Bucht entfernt. Sie bewegte sich aber in hohem Tempo vorwärts auf die Bucht zu. Die wartenden Truppen wurden buchstäblich zusammengedrückt. Eine sehr gefährliche Situation! Eng aufeinandergepferchte Soldaten konnten nicht kämpfen!

    William traf bei Wilbour ein. »Die machen uns fertig. Wir sitzen hier auf dem Präsentierteller!«

    »Nehmt Euch zwei zusätzliche Trupps und geht zur Nachhut zurück. Unterstützt sie! Wir müssen die Franzosen hinhalten. Um jeden Preis!«, schrie Wilbour.

    »Und wie soll ich da hingelangen, wenn alles verstopft ist?«

    »Reitet an der Wasserlinie dem Strand entlang. Das ist die einzige Möglichkeit!«

    William stieg auf sein Schlachtross und sammelte die Trupps. »Mit dem schweren Schlachtross durch den nassen Sand!«, murmelte er und schüttelte den Kopf.

    William traf bei der Kampflinie ein. Sofort gingen seine Truppen zum Gegenangriff über. Zusammen mit den Soldaten der Schiffe gelang es ihnen, die Franzosen festzusetzen.

    »Sie dürfen keinen Fuß mehr Richtung Norden gehen!« schrie er in die Reihen.

    Kurz darauf passierte etwas, das keiner erwartet hatte. Die französischen Linien zogen sich wieder langsam zurück. Zuerst brach bei den Engländern Jubel aus. Doch dann erfuhren sie auch gleich den Grund für den Rückzug.

    Eine Welle von Pfeilen sirrte durch den Himmel auf die englischen Truppen nieder. Dann noch eine und noch eine. Viele Männer fielen in den ersten paar Sekunden. Dann setzte Panik ein. Die Soldaten von den Schiffen hatten keine Schilde dabei. Sie gingen hinter ihren Kameraden der Landtruppen in Deckung. „Tock, tock, tock…" Wieder eine Welle.

    Für William gab es nun nur noch zwei Möglichkeiten. Die erste war, einen Sturmangriff auf die Franzosen zu führen, um den Abstand zum Feind soweit zu verringern, dass die Bogenschützen auf ihre eigenen Leute schießen mussten. Die zweite war der Rückzug in Richtung Norden. Doch sein Befehl von Wilbour ließ diese Möglichkeit nicht zu.

    Soeben wollte er den Befehl zum Angriff geben, als wieder Pfeile durch den Himmel zischten. Doch diesmal gingen sie über den Truppen der Franzosen nieder! William blickte auf die Klippen und sah dort Henleys und Biggs' Bogenschützen. Sie hatten ja den Auftrag, die Küstenlinie zu sichern, die Flanke der abziehenden Engländer zu schützen.

    Offenbar hatten sie den Kampflärm gehört und die Bogenschützen zur Klippe geführt.

    Nun fielen die Franzosen reihenweise. Sie waren nun genau in der Situation, in welcher sich vorher die Engländer befunden hatten. Angriff oder Rückzug? Das Zögern war sichtbar, während weitere Soldaten fielen.

    Offenbar waren die französischen Truppen nun auch stark dezimiert und ebenso erschöpft. Nach einer Weile des Ausharrens zogen sie sich zurück, begleitet von weiteren Pfeilsalven von den Klippen her.

    Der Rückzug der französischen Truppen machte den Anschein, als würde sich ein angeschossenes Tier davonschleppen und immer und immer wieder einen Teil von sich selbst auf dem Küstenstreifen liegenlassen. Tote Franzosen lagen wie Blutstropfen in der Spur, welche das Tier zurück ließ. Hunderte!

    Der Beschuss wurde eingestellt und die Bogenschützen verschwanden so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Der Jubel blieb diesmal aus. Die Männer waren zu erschöpft dafür.

    Der Verlad der Truppen ging weiterhin zügig voran. Mittlerweile waren praktisch alle Männer und Pferde verladen. Einzig die Nachhut, die sich weiter in Richtung Bucht zurückgezogen hatte, harrte noch am Ufer aus.

    Wilbour wartete ungeduldig auf Henley und Biggs mit ihren Truppen. Diese mussten den Weg über die Klippen suchen und dann schnellstmöglich zur Bucht gelangen. Die Nachhut konnte Wilbour erst abziehen, wenn Henley und Biggs eintrafen. Es dauerte aber noch mindestens eine halbe Stunde, bis die Truppen am Rand der Klippen sichtbar wurden. Erstaunt stellte Wilbour fest, dass viele Soldaten fehlten. Andere waren verwundet und mussten getragen werden. Offenbar hatten die Franzosen tatsächlich versucht, die Engländer an der Flanke anzugreifen. Er sah nun aber auch Henley und weiter hinten Biggs, die ihre Leute zur Eile antrieben. Ihr Pfad zur Bucht war noch steiler als es derjenige der übrigen Truppen gewesen war. Trotzdem schafften sie ihn ohne weitere Verluste.

    Henley und Biggs brachten ihre Truppen auf die Schiffe. Sie postierten ihre Bogenschützen sofort auf dem vordersten Schiff, um den Verlad der immer noch wartenden Nachhut zu sichern.

    Nun waren nur noch etwa vierzig Mann und ein Dutzend Reiter am Ufer. William war eben von seinem Schlachtross abgestiegen und wollte es über die Planke führen, als Alarm gegeben wurde.

    Das letzte Aufbäumen der Franzosen! Im Sturmangriff stoben sie dem Strand entlang auf die Bucht zu. Die verbliebenen Engländer drängten nun auf allen möglichen Wegen zur Verladeplanke und hasteten an Bord. Ein Pferd scheute und stieß einen Ritter von der Planke. Er ersoff jämmerlich.

    Nun waren alle Männer und alle Pferde an Bord, die Segel wurden gesetzt und die Anker gelichtet. Der Wind in der Bucht war schwach und es dauerte ewig, bis die Schiffe die Küstenlinie überquerten. Die Bogenschützen beider Parteien deckten sich gegenseitig mit allem ein, was sie noch zur Verfügung hatten. Irgendwann, nach endlosen Minuten waren die Schiffe außer Reichweite der Pfeile.

    Ein Aufatmen ging durch die Männer. Die erschöpften Soldaten kauerten dicht beieinander. Es blieb der Schiffsmannschaft kaum Platz, ihre Arbeit zu tun. Da aber alle wussten, dass die Überfahrt nach England nicht lange dauern würde, fanden sie sich damit ab.

    Wundschneider und ein Geistlicher kümmerten sich um die vielen Verwundeten. Einige Soldaten weinten. Keiner schämte sich dafür. Andere aßen Brot und tranken verdünntes Bier.

    Die letzten zwei Tage waren die Hölle gewesen. Jeder hatte alles gegeben, doch viele blieben nun zurück. Sie waren auf dem Schlachtfeld gefallen oder wurden kampflos und auf Distanz von irgendeinem französischen Pfeil getroffen worden. Auch viele Ritter waren gefallen; Grafen, Hauptleute und Knappen. Die Geschichte hatte ihren Tribut gefordert! Wer es bis hier auf die Schiffe geschafft hatte, konnte Gott für das Glück danken, das ihm zuteil geworden war.

    Wilbour ließ die Männer zählen. Die Nachricht schmerzte ihn zutiefst. Von den über dreitausend, welche Doghans Truppen zu Beginn dieser Kriegsphase gezählt hatten, hatte er schlussendlich gerade mal etwas mehr als zweihundert retten können.

    Er stellte sich vor, wie in den Dörfern die Nachricht von der Ankunft der Schiffe in der Heimat verbreitet werden würde und doch jede Frau, jede Mutter und jeder Vater oder die Kinder hofften, dass ihr Liebster auf einem der Schiffe war.

    »Graf Henley«, sagte Wilbour, als dieser zu ihm hin trat, »ich danke Euch. Ihr habt das Leben all dieser Männer auf den Schiffen gerettet. Die Franzosen hätten uns an der Küste fertiggemacht.«

    »Ich habe erneut viele Männer verloren, als Euch die Franzosen an der Flanke angreifen wollten. Aber wir haben standgehalten! Und da ist noch etwas…«, er zögerte kurz, »Biggs hat einen sehr großen Anteil am Erfolg. Es ist erstaunlich, wie er in seinen jungen Jahren kämpft und gleichzeitig führt. Er behält die Übersicht, auch wenn es noch so hektisch wird. Ein unglaublicher Kerl…!« Nachdenklich schaute Henley zurück zum Strand, von dem sie sich stetig weiter entfernten.

    »Ich habe ihn auch beobachtet. Er ist erstaunlich«, sagte Wilbour. »Das sind genau die Männer, die irgendwann Geschichte schreiben!«

    Henley klopfte Wilbour freundschaftlich auf die Schulter und wollte gerade etwas sagen, als ein Ruf vom Ausguck über das Deck hallte.

    »Zwei Soldaten! Steuerbord, dort bei den Klippen!«

    Alle schauten zurück und konnten oben auf den Klippen zwei englische Soldaten sehen. Diese gestikulierten wild und riefen etwas, was aber keiner verstehen konnte.

    Der Kapitän trat an die Reling und zückte sein Fernrohr. »Das sind zwei von uns! Sie schwenken eine kleine Fahne!«

    »Was für eine Fahne?«, fragte Wilbour aufgeregt.

    »Es ist… nein, es ist ein Wappen! Das Zeichen eines Ritters. Ein stehender, roter Löwe mit einem weißen Schild! Sie tragen beide Wundbandagen. Sie müssen verletzt sein.«

    »Tilley!«, stieß Wilbour aus. »Sir Tilley von Staffordshire!« Sein Magen zog sich zusammen. »Was rufen die Männer? Kann sie jemand verstehen?«, rief er aufgeregt die Leute auf dem Schiff an.

    »Du da oben!«, rief der Kapitän zum Ausguck hoch, »nimm das Hörrohr und lausche! Und du dort, nimm eine Fahne und schwenke sie. Die sollen sehen, dass wir sie erkannt haben.« Der Matrose schwenkte eine Fahne nach Backbord.

    Es war eine eigenartige Situation. Unten am Strand waren immer noch die Franzosen zu sehen, oben auf den senkrechten Klippen zwei englische Soldaten. Nur wenige Meter voneinander getrennt, und doch gegenseitig unerreichbar.

    »Klarmachen zur Wende!«, rief der Kapitän und die Schiffsbesatzung wirbelte wie ein Haufen Ameisen auf Deck und in der Takelage herum.

    Genau das wollte Wilbour auch vorschlagen. Doch auf dem Schiff hatte er keine Befehlsgewalt. Sie mussten wieder näher an die Küste, um zu verstehen, was die Männer riefen. Anlegen konnten sie unmöglich. Sie mussten außer Reichweite der französischen Bogenschützen bleiben.

    Sie näherten sich bis hart an die Grenze der möglichen Schussdistanz. Nun begann der Mann im Ausguck mitzuteilen, was er hörte.

    »Ich kann sie kaum verstehen. Sie sprechen einen alten englischen Dialekt, den fast keiner mehr spricht.«

    »Das tun sie mit Absicht«, rief Henley, »damit sie die Franzosen nicht verstehen können!«

    »Verstehst du den Dialekt?«, rief der Kapitän zum Ausguck.

    »Ja, Kapitän - die sprechen wie meine Großmutter!«, rief er und lachte.

    »Sie rufen etwas von einem Fluss, den sie überquert haben… und im Wald versteckt,... kein Feindkontakt... Marsch zur Küste nicht möglich… Verletzte und keine Pferde.« Dann zögerte er kurz und fuhr fort: »Sie warten dort im Versteck, bis Hilfe kommt oder sie verhungert sind!«

    »Was jetzt?«, fragte der Kapitän

    Erstaunt über die Frage, blickte ihn Wilbour an »Wir müssen ihnen irgendwie mitteilen, dass wir sie verstanden haben!«

    Der Kapitän winkte einen Matrosen zu sich und wies ihn an, mit Plankenpech ein großes 'JA' auf das Vorsegel zu malen.

    Das Vorsegel wurde gerafft und die Buchstaben groß aufgemalt. Dann wurde das Segel wieder gesetzt. Einen Augenblick lang standen die beiden Engländer auf den Klippen ganz still. Dann winkten sie mit der Fahne und verschwanden hinter der Klippenkante.

    Der Kapitän nahm wieder Kurs aufs Meer hinaus.

    Wilbour war hin- und hergerissen. Was sollte er nun tun? Offenbar hatten sein Freund Tilley und die zurückgelassenen Verwundeten überlebt und warteten beim Fluss, versteckt im Wald. Sie rechneten nun damit, abgeholt zu werden.

    »Kapitän!«, rief Wilbour und rannte über die kleine Treppe vom Hinterdeck aufs Hauptdeck, wo sich der Kapitän aufhielt.

    »Kapitän - kennt Ihr die Küstenlinie südwärts gut?«

    »Ich bin sie drei- oder viermal abgesegelt. Warum fragt Ihr?«

    »Ich muss Euch unter vier Augen sprechen!«

    Zusammen gingen sie in die Kapitänskabine.

    »Was habt Ihr vor?«, fragte der Kapitän.

    »Ich muss diese Verwundeten dort herausholen! Diese

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