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Glaube, Sitte und Heimat: Dorfgeschichten
Glaube, Sitte und Heimat: Dorfgeschichten
Glaube, Sitte und Heimat: Dorfgeschichten
Ebook215 pages3 hours

Glaube, Sitte und Heimat: Dorfgeschichten

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About this ebook

Schauplatz der sieben Geschichten dieses Bandes ist das kleine Dorf Ellen. An der Stadtgrenze zu Düren, zwischen Köln und Aachen gelegen, gehört der Ort heute zur Gemeinde Niederzier. In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts lebten dort ungefähr sechshundert Menschen.

Die Erzählungen führen den Leser zurück in diese Zeit. Sie haben einen wahren Kern, vermeiden aber die authentische Wiedergabe der Ereignisse. Nicht Anekdoten stehen im Vordergrund dieses Buches, sondern die Denkweisen und Stimmungen, die sie möglich machten.
Die Geschichten erzählen von Freude und Leid, Liebe und Verrat und der Suche nach einem Platz in einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft.
Glaube, Heimat und Sitte bilden den Sockel, auf dem die Erzählungen ruhen. Ohne thematisiert zu werden, geben diese Werte den Geschichten ihre Originalität.
Ein weiteres verbindendes Element ist „die Ecke“, die „Agora“ der Jugend jener Zeit. Die Eckensteher, meist junge Männer, verstanden sich als Vertreter einer unangepassten Generation. Sie diskutierten alles, was im Dorf und der großen weiten Welt vor sich ging, und vergaßen dabei nicht, vorübergehende Dorfbewohner anzupöbeln oder vorbeieilenden Frauen und Mädchen nachzupfeifen.

„Die Eckensteher“, ein gesellschaftliches Kurzzeitphänomen, das mit der Halbstarken-Bewegung Ende der 60er Jahre sang- und klanglos verschwand, finden in „Glaube, Heimat, Sitte“ eine kleine, erzählerische Würdigung.
LanguageDeutsch
Release dateDec 16, 2014
ISBN9783738667172
Glaube, Sitte und Heimat: Dorfgeschichten
Author

Herbert Bachem

Herbert Bachem wurde 1942 in Ellen bei Düren geboren, wo er auch aufwuchs. Nach einer Lehre als Verkäufer war er Soldat, Lagerarbeiter, Vertreter, Gastwirt und von 1991 bis 2003 Oberamtsrat im Bundesministerium der Verteidigung. Jetzt ist er Skipper auf seiner Yacht Katharina. Neben verschiedenen Essays erschienen von ihm die Romane „Doch der Kopf blieb dran“ (2005), „VS-Vertraulich“ (2007) und „Lebensernte“ (2009).

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    Book preview

    Glaube, Sitte und Heimat - Herbert Bachem

    Für meinen Urenkel

    Lionel Vincent

    Danke Wenn ich in Danksagungen lese, von welcher Entourage manche Autoren während des Schreibens umgeben sind, wundere ich mich. Bei mir macht das Alles meine Frau. Entsprechend umfassend ist mein Dank an sie. Meine liebe Gudrun vielen, vielen Dank!

    Inhalt

    Katastrophensommer

    Die sieben Fußfälle oder Eine bemerkenswerte Beerdigung

    Der Gefangene

    Maria

    Maiball

    Dorfpolitik

    Vegetative Dystonie

    Nur wer die Vergangenheit kennt,

    hat eine Zukunft

    Wilhelm von Humboldt

    Katastrophensommer

    Keine Frage, die allgemeine Hysterie, ausgelöst durch die Rinderseuche BSE, ging Willi gehörig auf die Nerven.

    Um den Nachrichtensprecher zum Schweigen zu bringen, drückte er heftiger als nötig auf den Aus-Knopf des Autoradios und murmelte gleichzeitig: »Halt´s Maul.« Die Sendung drehte sich mal wieder um nichts anderes als dieses leidige Thema. Glaubte man den Medien, stand eine Epidemie biblischen Ausmaßes bevor, der mittelalterlichen Pest vergleichbar.

    Aber die Sache hatte auch etwas Gutes. Während das BSE-Theater seinen medialen Höhepunkt erreichte und Talkshows hierzu auf allen Fernsehkanälen liefen, fielen die Preise für Rindfleisch in den Keller. Diese Gelegenheit ließ sich Willi nicht entgehen und füllte seine Tiefkühltruhe mit Rinderfilets. Wenn er Glück hatte, würde sein Großeinkauf bis zur nächsten Panikattacke reichen. Vielleicht bekam er dann Gänse oder Schweine nachgeschmissen. Egal, er würde nehmen, was kam.

    Willi erreichte den Ort Ellen. Bevor er seinen Bruder aufsuchte, der, im Gegensatz zu ihm, das Dorf nie für längere Zeit verlassen hatte, machte er am alten Friedhof halt, der mitten im Dorf lag. Kaum hatte er ihn betreten, befiel ihn wieder jenes seltsame Gefühl, das er nur schwer beschreiben konnte. Es war eine Art Trauer, in die sich ein wehmütiges Verlangen nach seiner Kindheit mischte. Nirgendwo auf der Welt wurde ihm so deutlich, dass es zu viel verlorene Zeit in seinem Leben gab.

    Langsam ging er an den Gräbern entlang.

    Bis auf wenige Ausnahmen kannte er alle Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Er wusste, dass die meisten in ihrem Leben viel Leid und Entbehrung hatten erdulden müssen. Es gab kaum eine Familie, die keine Angehörigen in einem der beiden Weltkriege verloren hatte. Aber auch jenseits dieser nationalen Tragödien und ihrer Folgen war das Leben hart gewesen. Alle, die hier lagen, hatten schwer arbeiten müssen, um sich und die Ihren über die Runden zu bringen. An einige erinnerte er sich nur als Greise. Aber es gab auch Verstorbene, deren ganzes Leben er vom ersten bis zum letzten Tag überschauen konnte. Insbesondere diese Schicksale bewegten ihn zutiefst. Die Frage nach dem Sinn des Lebens sprang ihn nirgendwo mit einer solchen Wucht an wie auf diesem Stückchen Land.

    Nachdem er seinen Rundgang beendet hatte, ging er zurück zum Auto, um zu seinem Elternhaus zu fahren. Doch bevor er in den Wagen stieg, fiel sein Blick auf die Ecke, die nur wenige Schritte von seinem Parkplatz entfernt war. Mein Gott, welche Erinnerungen verband er mit diesem unscheinbaren Platz! Er schüttelte lächelnd den Kopf. Nach so vielen Jahren fiel es ihm heute schwer, nachzuvollziehen, welche Rolle diese triste Kreuzung für die Dorfjugend damals gespielt hatte. Langsam, geradezu behutsam, ging er in Richtung des kleinen, menschenleeren Platzes.

    Als er ihn erreicht hatte, blickte er sich um, sah die alten, kleinen Backsteinbauten, in denen seit Generationen die gleichen Familien wohnten, die sattgrünen Linden, die den Abriss der alten Zwergschule überlebt hatten, und die gotische Backsteinkirche mit ihrem spitzen Turm und den beiden Glocken. Ihr Geläut hatte ihn an Festtagen, wenn beide gleichzeitig erklangen, stets begeistert.

    Wie schön sauber die Straßen sind, dachte er. Und wie hatten die in seiner Kindheit ausgesehen! Kuhfladen, Pferdeäpfel, Schmutz und Dreck, wohin man schaute. Er war sich nicht sicher, ob es überhaupt noch Pferde und Kühe im Dorf gab. Ihm fiel eine Geschichte ein, die sich Anfang der Fünfzigerjahre ereignet und das Dorf in helle Aufregung versetzt hatte. Er schmunzelte, als er an die damaligen Geschehnisse zurückdachte.

    Es musste Anfang Juli gewesen sein, als ein Bauer, wie jeden Abend, seine sechs Kühe von der Weide in den Stall trieb. Plötzlich stellte er fest, dass sich Rosa – eine seiner besten Milchkühe – seltsam benahm. Das Tier stolperte und schwankte, als wäre es besofen, und war kaum in der Lage, mit den übrigen Kühen Schritt zu halten. Auf dem Hof angekommen, gingen alle Tiere – bis auf Rosa – zu ihren Plätzen im Stall und freuten sich darauf, gemolken zu werden.

    Rosa irrte derweil auf dem Hof umher und reagierte weder auf ihren Namen noch auf laute Drohungen, ja nicht einmal auf das Schwingen des gefürchteten Knüppels, einem abgebrochenen Besenstiel, der sonst nie seine Wirkung verfehlte. Mal stolperte die Kuh in Richtung Geräteschuppen, dann in Richtung Misthaufen, dann zum Tor – nur nicht zum Kuhstall. Dem Bauer blieb nichts anderes übrig, als das Hornvieh erst einmal auf dem Hof zu lassen und seine Frau aus der Küche zu holen. Mit vereinten Kräften würden sie das Tier einfangen oder zur Stalltür treiben.

    Das gelang schließlich auch. Außer Atem und schweißgebadet konnte der Bauer Rosa endlich den Kälberstrick, der sonst als Geburtshilfe beim Kalben gebraucht wurde, um den Hals legen. Während er vorne zog, schob seine Frau die Kuh von hinten, und schließlich stand Rosa an ihrem angestammten Platz und konnte wie alle anderen gemolken werden.

    »Die bleibt morgen im Stall«, sagte der Bauer kurz und knapp, während er seine grün melierte Segeltuchmütze vom Kopf nahm, um sich damit den Schweiß von Glatze, Stirn und Hals zu wischen.

    »Das wird das Beste sein«, pflichtete seine Frau bei und ging in ihren Gummistiefeln schweren Schrittes und keuchend zurück zum Haus.

    Die beiden maßen dem Ereignis keine große Bedeutung zu, denn es kam immer wieder einmal vor, dass ein Tier, sei es nun eine Kuh, ein Schwein oder ein Huhn, verrückt spielte. Selbst der Hofhund oder die Katzen verhielten sich nicht an jedem Tag gleich, hatten ihre Launen genau wie Menschen und fingen sich deshalb auch gelegentlich einen leichten Fußtritt ein oder wurden von einer Kartofel getrofen, wenn sie es zu arg trieben.

    Der Bauer und seine Frau aßen – wie immer – in der Küche. Die Küche war der größte Raum im Haus. In der Mitte stand ein großer rechteckiger Tisch, an dem gut und gerne zehn Leute Platz fanden. Auch der Kohleherd war riesig. Er hätte ohne Weiteres in einer Speisegaststätte als Kochgelegenheit dienen können. Diese Einrichtungsgenstände stammten noch aus der Zeit vor dem Krieg, als noch saisonale Hilfskräfte für Arbeiten gebraucht wurden, die nun Maschinen erledigten. Die Terrakotta Fliesen des Fußbodens hatten ihre Lasur längst verloren und waren an besonders strapazierten Stellen deutlich ausgetreten. Über der Mitte des Tisches und in der Nähe des Herdes baumelten je zwei klebrige Fliegenfänger von der Zimmerdecke, die derart mit Stubenfliegen übersät waren, dass Neuankömmlinge kaum noch Platz fanden. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass es kaum einen Flecken in der Küche gab, der nicht von ihnen in Beschlag genommen wurde. Den Bauer und die Bäuerin störten sie offensichtlich nicht. Nur wenn sie dem Bauer über die Glatze krabbelten, verscheuchte er sie hin und wieder mit einer mehr oder weniger unbewussten Handbewegung.

    Es gab Reste vom Sonntag. Zuerst einen Teller Gemüsesuppe, dann Frikadellen und Kartoffelpüree, dazu Erbsen und Möhren. Die Eheleute sprachen während des Essens nicht miteinander. Das brauchten sie auch nicht, weil sie voneinander wussten, dass sich ihre Gedanken um die gleichen Dinge drehten.

    »So machen wir es«, sagte der Bauer, nachdem er fertig gegessen hatte, als hätten sie nach einem langen Gespräch eine Übereinkunft gefunden.

    Seine Frau nickte. Sie standen auf. Der Bauer ging Richtung Kuhstall, während sie die Küche aufräumte.

    Am nächsten Morgen, so gegen fünf, ging ein wütendes Unwetter nieder. Blitze, Regen und Hagel prasselten in einer Heftigkeit auf die Erde, wie man es seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Den wilden Zuckungen der Blitze folgten dröhnende Donnerschläge, die selbst Dorfbewohner mit besonders gutem Schlaf auf unsanfte Weise aus dem Bett trieben. Es war, als wollte die wütende Natur ihren Unmut kundtun und mit ihrer ganzen Gewalt gegen etwas protestieren, wenngleich niemand wusste, worum es sich dabei handeln konnte. Die verschlammten Gräben an den Straßenrändern konnten solche Wassermassen nicht in den Ellbach ableiten. Die Straßen verwandelten sich im Handumdrehen in Seen. Dann überschwemmte die Flut auch die Vorgärten, bis sie zuletzt die Höfe erreichte und dort die Jauchegruben in kurzer Zeit zum Überlaufen brachte.

    Nun ging es nicht mehr nur um Regenwasser, sondern um ein Gemisch aus Wasser, Kot und Jauche, das sich in die Keller ergoss und sogar die Hauseingänge überflutete. Eine Katastrophe! Es würde Monate dauern, bis die Räume wieder trocken waren und sich der Gestank der Exkremente verzogen hatte. Zum Glück waren die eingekellerten Vorräte des Vorjahres um diese Jahreszeit schon weitgehend aufgebraucht und die neuen noch nicht eingelagert.

    Um sieben Uhr beruhigte sich das Wetter. Es war, als wollte der Himmel sagen: Das reicht fürs Erste, aber nehmt euch in Acht! Wie bei einem Rückzug nach gewonnener Schlacht zuckte in der Ferne hier und da noch ein Blitz als eine Art Warnung, sich ja nicht sicher zu sein, dass eine Wiederholung nicht möglich sei. Zwar ergossen sich noch immer heftige Regenströme, aber auch die waren bald verrauscht. Schwefelgelbe Wolken verkrochen sich am Horizont und machten einem sanfteren Himmel Platz, dessen Wolken von der Morgensonne goldgerändert waren.

    Die Menschen waren schockiert und verängstigt. Viele hatten während des Unwetters im Gebet verharrt, gesegnete Kerzen abgebrannt und zu Gott gefleht, das Schlimmste von Haus und Hof fernzuhalten. Ihre Bitten waren erhört worden. Es hatte keine Blitzeinschläge in Gebäude gegeben: Mensch und Vieh waren verschont geblieben. Man dankte Gott in Gebeten und nahm sich vor, alle Gelübde zu erfüllen, die man während des Unwetters im Stillen abgegeben hatte.

    Aber das Schlimmste sollte noch kommen. Das Gewitter war nur die Ouvertüre zu einer Serie von Unwettern gewesen, die das Dorf in den nächsten Tagen und Wochen heimsuchen sollte. Die Kette der Gewitter riss bis weit in den August hinein nicht ab, und man konnte nur hofen, dass der Herbst ruhiger werden würde.

    Verzweiflung machte sich breit. Der Pfarrer hatte bereits mehrere Bittgottesdienste abgehalten, aber auch das hatte nicht geholfen. Als Steigerung der heiligen Messen wurde eine Bittprozession zu Ehren des Heiligen Donatus von Münstereifel durchgeführt, der als Schutzpatron gegen Gewitter schon oft gute Dienste geleistet hatte. Die Prozession zog durch die ortsnahe Flur, und mit Sorge sahen die Teilnehmer, dass das Getreide flach auf den Feldern lag und in der Nässe zu faulen drohte. Welche Wonne war es an schönen Tagen, durch die Flur zu wandern und den Duft des Sommers mit seinem unvergleichlichen Aroma tief einzuatmen. Wie Gemälde wirkten dann die glänzenden Kornfelder, gerahmt von Mohn, Kornblumen und filigranen Gräsern. Und jetzt! Es roch nach nassem Stroh und Fäulnis. Die Wege waren schlammig, die Ackerraine ohne Farbe, ja, es war alles so traurig, dass selbst die Lerchen, die sonst allgegenwärtig waren, nicht mehr singen mochten.

    Es war wirklich zum Verzweifeln! Außer Beten konnte nichts helfen, das war klar. Aber es schien, als ob Gott die Bitten der Menschen nicht hören wollte, denn die Bittprozession war kaum eine halbe Stunde unterwegs, als sich der Himmel erneut verdunkelte. Gelb-schwarze Wolken zogen von Westen auf, und man beschloss, den Bittgang vorzeitig zu beenden, um zu Hause zu sein, wenn sich die Schleusen des Himmels erneut öfneten.

    Ein deutlicheres Zeichen für seinen Unmut konnte Gott nicht senden.

    An die Kuh Rosa erinnerte sich im Dorf zu diesem Zeitpunkt niemand mehr. Schließlich hatte man genug andere Sorgen, als auch nur einen Gedanken an eine verrückte Kuh zu verschwenden, die mittlerweile längst zu Rinderbrust, Rinderbraten und Wurst verarbeitet worden war.

    Das änderte sich schlagartig, als eine zweite Kuh in gleicher Weise erkrankte.

    Es war an einem Tag in der zweiten Augusthälfte, als ein weiterer Bauer ein höchst merkwürdiges Verhalten bei einer seiner Kühe feststellte. Bei Erna zeigten sich die gleichen Symptome wie seinerzeit bei Rosa. Nun wurde die Sache zu einem Thema, und zwar bei allen Bewohnern des Dorfes. Zum ersten Mal brachte man die Wetterphänomene und die Erkrankung der Kühe miteinander in Verbindung. Mehr und mehr setzte sich die Überzeugung durch, dass die Gewitter und der Kuhwahnsinn zwei Seiten derselben Medaille seien.

    An Vermutungen und Theorien, wie die Dinge zusammenhängen könnten, fehlte es nicht. Aber die letzte Erklärung für die Heimsuchungen wollte einfach nicht gelingen, was die Verunsicherung der Dorfbewohner noch steigerte.

    Selbstverständlich hatte man sich in den Nachbargemeinden umgehört, um zu erfahren, wie dort die Lage war, und natürlich hatten auch dort Gewitter gewütet. Aber es schien tatsächlich so zu sein, dass das Zentrum der Unwetter regelmäßig über Ellen lag. Und von erkrankten Kühen wusste in den anderen Orten niemand etwas. Das klang alles wenig ermutigend, und erste Stimmen wurden laut, die befürchteten, der Ort Ellen könne im Laufe der Zeit unbewohnbar werden.

    Auch wenn die Gebete das stärkste Mittel im Kampf gegen den Untergang waren, so suchte man doch auch nach irdischer Abhilfe. Einige Dorfbewohner versuchten, die Sache nüchtern zu analysieren, um so den Ursachen des Unheils auf die Schliche zu kommen. Man fragte zum Beispiel danach, ob die Gewitter in regelmäßigen Abständen kamen. Wöchentlich vielleicht? Oder alle zehn Tage? Kamen sie an bestimmten Wochentagen häufiger als an anderen? Vielleicht freitags öfter als dienstags? Niemand wusste es. Man versuchte sich gemeinsam zu erinnern, stellte aber schnell fest, dass die Wahrnehmungen weit auseinandergingen.

    Bei den Kühen war die Sache einfacher. Die Tiere wurden, wenn es hell wurde, auf die Weide getrieben und, bevor es dunkel war, zurück in den Stall gebracht. Mehr gab es da nicht zu sagen. Und doch lag genau hier die Lösung des Problems.

    Wer letztlich die entscheidende Frage als Erster stellte, wurde nie eindeutig geklärt. Sie stand plötzlich im Raum und führte zum Schlüssel des Rätsels. Sie lautete ganz simpel: Auf welchen Weiden hatten Rosa und Erna gegrast?

    Nachdem klar war, dass sie auf direkt nebeneinander liegenden Wiesen gestanden hatten, fiel es den Menschen wie Schuppen von den Augen, denn diese Wiesen hatten eine Gemeinsamkeit: Über sie hinweg ging eine Hochspannungsleitung, die seit dem 1. Juli Strom führte!

    Der Zusammenhang war ofenkundig. Niemand konnte bestreiten, dass der Beginn des Katastrophensommers exakt mit der Inbetriebnahme der Hochspannungsleitung zusammenfiel.

    Alles war nun zu erklären: Die Hochspannung sättigte die Luft mit Elektrizität, die sich dann über Ellen (vielleicht angezogen durch den hohen Kirchturm?) entlud. Über die Kühe brauchte man kein Wort zu verlieren. Es war ein Wunder, dass nur Rosa und Erna erkrankt waren. Elektrische Strahlen dieser Dimension hätten – da war man sich sicher – die ganze Herde wahnsinnig machen können!

    Obwohl man wusste, dass die Ursache allen Übels nicht von heute auf morgen zu beseitigen war, ging ein Aufatmen durch den Ort. Es war also nicht der Zorn Gottes, der sie getrofen hatte. Es gab eine irdische Ursache.

    Willi war so in Gedanken, dass er einen Schreckenslaut von sich gab und heftig zusammenzuckte, als ihm plötzlich jemand von hinten auf die Schulter schlug.

    »Maria und Josef«, hörte er sagen, »mach dir nicht ins Höschen!«

    »Ach, ich war nur in Gedanken«, entgegnete Willi, der sich sofort wieder gefasst hatte, während er sich umdrehte.

    »Kennst mich wohl nicht mehr?«, fragte sein Gegenüber und wartete gespannt auf Antwort. Als Willi nicht sofort reagierte, fuhr der Neuankömmling fort: »Ich bin es, der liebe Lukki!«

    »Lukki«, erwiderte Willi überrascht, »nein, dich hätte ich jetzt wirklich

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