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Frieda: Ein Demenz-Krimi
Frieda: Ein Demenz-Krimi
Frieda: Ein Demenz-Krimi
Ebook320 pages4 hours

Frieda: Ein Demenz-Krimi

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About this ebook

„Früher hat man ja geglaubt, dass Männer ohne Haare nicht so recht kraftvoll sind“, ich deute mit dem Finger in Richtung seines Schrittes, „aber da kann ich Sie beruhigen. Mein Johann zumindest …“ „Entschuldigen Sie, Frau Stern“, fällt der Hauptkommissar mir ins Wort, „ich weiß Ihren Hinweis wirklich zu schätzen. Weswegen ich eigentlich gekommen bin, ist der Vorfall in Ihrem Badezimmer.“ Er sieht mich an und es entsteht eine kurze Pause. Schließlich fährt er fort: „Sie wissen schon, man hat eine junge Frau in Ihrem Bad tot aufgefunden.“

Eine lebhafte demenzkranke Dame und ein von Heimweh geplagter Hauptkommissar werden mit einem rätselhaften Verbrechen konfrontiert. Die Fährte der Täter führt in längst vergangene Ereignisse zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Polen. Weiterhelfen kann nur Frieda, die zwar zeitweise ihren eigenen Sohn nicht erkennt, aber dennoch ein tiefes Gespür für die Menschen um sich herum hat.

Auf humorvolle und spannende Weise taucht der Leser in die Gedankenwelt einer an Alzheimer erkrankten Frau ein, in deren Lebenswirklichkeit sich vergangene und gegenwärtige Erlebnisse zu einer einzigen Momentaufnahme verweben.
LanguageDeutsch
Release dateNov 11, 2014
ISBN9783738683172
Frieda: Ein Demenz-Krimi
Author

Meike K.- Fehrmann

Meike K.- Fehrmann wurde 1977 geboren und wuchs in Bad Sachsa im Südharz auf. Nach dem Abitur und längeren Auslandsaufenthalten in den USA und in Tansania, machte sie zunächst eine Ausbildung zur Gemeindepädagogin für Kinder- und Jugendarbeit bei der evangelischen Landeskirche in Nordrhein-Westfalen. Anschließend studierte sie Pädagogik und Ethnologie an den Universitäten Freiburg, Heidelberg und Mainz. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie an der Erstellung mehrerer Publikationen zur sozialpädagogischen Praxisforschung beteiligt. Nach der Teilnahme an einer Weiterbildung für Trauer- und Sterbebegleitung bei der Mainzer Hospizgesellschaft, arbeitete sie mehrere Jahre im Sozialdienst verschiedener stationärer Altenpflegeeinrichtungen. In den letzten Jahren sind von ihr Kurzgeschichten im Rahmen von Literaturwettbewerben in Anthologien erschienen. Mit "Frieda - Ein Demenz-Krimi" hat die Autorin im November 2014 ihren ersten Roman vorgelegt. Wenige Monate später folgte „Warum Herr Hagebeck sterben muss“. Heute lebt Meike K.- Fehrmann mit ihrer Familie in Oberbayern und ist Leiterin eines Weiterbildungsinstituts für Naturerlebnis-Pädagogik.

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    Book preview

    Frieda - Meike K.- Fehrmann

    Autorin

    1.

    Es dauert nicht mehr lange. Er muss gleich kommen. Diese faltigen Hände auf der Fensterbank. Sind das meine? Nein, das sind nicht meine. Das sind die Hände einer alten Frau. Ich bin noch jung. Meine Kindheit war schön, so schön. Dann kam der Krieg. Die Einfahrt liegt im Schatten. Ich sehe das Gesicht einer Greisin schemenhaft auf der Glasscheibe.

    Struppige weiße Haare. Das bin nicht ich. Bestimmt kommt er gleich. Ein Auto fährt in die Einfahrt und jemand steigt aus. Da ist sie wieder. Diese Frau, sie kommt mir bekannt vor. War sie schon mal hier? Die Frisur, wie Lilo Pulver, derselbe Bubikopf, nur rot. Meine Jugend war schön, aber dann kam der Krieg. Gleich muss Johann kommen. Die Frau ist an der Haustür.

    „Frieda?"

    Da ist sie schon in der Wohnung. Wie ist sie reingekommen?

    „Frieda, was machst du denn da am Fenster? Schaust du nach dem Wetter?" Die Frau fährt sich durch das gefärbte Haar. Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn. Sie spricht mit einem merkwürdigen, harten Akzent.

    „Er kommt gleich."

    „Wer?"

    „Er kommt gleich, Johann."

    „Ach Frieda, Johann ist schon lange tot, wann begreifst du das endlich?"

    „Er kommt um diese Zeit immer von der Arbeit."

    „Setz dich aufs Sofa, ich habe dir Kuchen mitgebracht."

    Die Frau sieht mich an, als würden wir uns schon lange kennen. Aber das stimmt nicht. Sie ist keine meiner Freundinnen. Ich habe eine Fremde in meine Wohnung gelassen. Papa hat gesagt: Lass keine Fremden rein. Aber jetzt ist sie da. Sie stellt einen Teller auf den Tisch und legt ein Stück Kuchen darauf. Was soll ich tun? Ich könnte die Polizei rufen. Aber bis die da sind, hat sie mich bestimmt schon ausgeraubt. Die Kaffeemaschine gluckert in der Küche, dieser Duft! Der Kuchen sieht köstlich aus. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Sie ist in meiner Küche. Jetzt höre ich ihre Schritte im Flur näher kommen.

    „Du stehst ja noch immer am Fenster."

    Vielleicht ist sie gefährlich. Ich setze mich lieber hin. Kirschkuchen. Wir hatten einen Kirschbaum im Garten, damals in Pommern. Er blühte so schön. Pommernland ist abgebrannt.

    „Nimm dir ruhig. Warte, ich helfe dir. Du magst doch Kirschkuchen."

    Woher weiß sie das? Der Kuchen schmeckt. Ich werde Ärger bekommen. Ich darf von Fremden nichts annehmen. Vielleicht ist der Kuchen vergiftet. Die Frau isst selbst nicht davon. Aber etwas kommt mir an ihr doch bekannt vor. Es ist die Frisur. Wie Lilo Pulver. Nur die Farbe stimmt nicht.

    „Lieselotte."

    „Bitte?"

    „Lieselotte."

    „Ich heiße Svetlana."

    Svetlana? Der Akzent. Russisch.

    „Ich weiß", entgegne ich vorsichtig. Russen soll man nicht reizen.

    „Du machst mir manchmal Angst. Geht es dir gut?"

    „Natürlich."

    „Gut."

    Sie schaut mich forschend an. Ihre wässrigen grünen Augen wirken übergroß in ihrem schmalen Gesicht.

    „Ich habe einen Film gesehen. Mit Lieselotte Pulver."

    „Ach so. Und ich dachte schon, du wüsstest meinen Namen nicht mehr. Wann hast du ihn gesehen?"

    „Wen?"

    „Den Film."

    „Vor kurzem."

    „Dein Fernseher ist doch kaputt."

    „Sie ist eine gute Schauspielerin."

    „Ja, welchen Film hast du denn gesehen?"

    „Mit Lilo Pulver."

    „Sie hat in vielen Filmen mitgespielt."

    „Ja, sie ist eine gute Schauspielerin."

    „Sie lebt nicht mehr."

    „Wer?"

    „Lieselotte Pulver. Sie lebt nicht mehr."

    Wieso redet sie so laut mit mir? Ich bin nicht schwerhörig.

    „Ja, ja."

    „Schau, schon wieder hast du Kuchen unter den Tisch fallen lassen."

    „Ach."

    Sie beugt sich unter den Tisch. Ich sehe ihren Nacken. Er glänzt und ich rieche ihren Schweiß, der Geruch ist widerlich. Das billige Parfüm stinkt.

    „Was soll das? Und wer muss das wieder aufwischen? Ich! Meinst du, ich habe nicht schon genug zu tun mit dir? Den ganzen Tag arbeite ich und mein Haushalt muss auch noch gemacht werden, und dann verwandelst du hier auch noch alles in einen Saustall!"

    Ich mag es nicht, wenn man mich anschreit. Ihre Stimme klingt hysterisch, sie starrt mich aus riesigen Augen an. Rote Adern umsäumen ihre Iris.

    „Es tut mir leid. Ich hole einen Lappen."

    „Bleib sitzen. Du fällst sonst noch hin!"

    „Johann kann das machen. Er ist ein guter Mann."

    „Johann ist tot!", kreischt sie.

    Ich bin ganz still. Man soll gefährlichen Menschen nicht widersprechen, das macht sie nur noch gefährlicher.

    „Gut, dann mache ich es später selbst."

    „Du weißt genau, dass du das nicht kannst." Jetzt funkeln ihre Augen gehässig.

    „Meine Wohnung ist immer ordentlich", entgegne ich beleidigt.

    „Sie ist ordentlich, weil ich für dich aufräume."

    Sie steht auf und geht in die Küche.

    „Was hast du denn schon wieder mit dem Putzlappen gemacht? Frieda, wo ist der Lappen hin?", zetert sie aus der Küche.

    „Wo er hingehört."

    „Er ist nicht in der Küche." Sie kommt zurück.

    „Rück mal ein bisschen zur Seite. Dann muss ich den Kuchen eben mit der Serviette aufheben. Dass du aber auch alles verlegen musst!"

    Schon verschwindet sie wieder unter dem Tisch. Sie ächzt und der Tisch wackelt ein bisschen, weil sie mit einer Schulter beim Aufwischen dagegen stößt. Sie wird mir bestimmt meinen Schmuck stehlen. Was soll ich nur tun? Jetzt kommt sie wieder unter dem Tisch hervor. Ihr Gesicht ist rot vor Anstrengung. Da fällt mir etwas ein.

    „Bist du so nett und holst mir meinen Gabardinemantel?"

    In der Tasche seines Gabardinemantels hatte Papa damals die Pistole versteckt.

    „Was willst du denn mit dem Gabardinemantel? Es ist ein warmer Tag."

    Ach ja, es ist warm, natürlich.

    „Ich möchte etwas aus der Tasche holen. Etwas sehr Wertvolles."

    „Aus deiner Manteltasche?" Sie sieht mich skeptisch an.

    „Ja, genau. Er ist im Keller."

    Lieselotte wischt sich eine Strähne aus der Stirn.

    „Bitte." Ich schaue so flehend, wie ich kann.

    „Was du immer für Einfälle hast!" In ihren Augen blitzt Neugier auf.

    Dann steht sie auf. Als sie aus der Wohnzimmertür in den Flur geht, erhebe ich mich langsam. Leise, ich muss leise sein, wenn ich ihr folge. Die Beine wollen nicht mehr so recht. Mir schwindelt leicht. Von der Kellertür aus ruft sie:

    „Frieda, warum bleibst du nicht im Wohnzimmer?"

    Jetzt hat sie mich entdeckt.

    „Ich wollte dir nur den Weg zeigen."

    „Ich weiß, wo der Keller ist."

    Woher weiß sie das? Sie hat schon eine Hand auf die Klinke gelegt, jetzt drückt sie den Griff nach unten und öffnet die Tür. Ich bin ganz nah bei ihr.

    „Du gehst nicht mit nach unten. Die Treppe ist viel zu steil. Da stürzt du noch. Es ist sowieso ein Unding, dass du die Treppe nie hast erneuern lassen. Die ist ja lebensgefährlich."

    „Ja, genau." Das hat Johann auch immer wieder gesagt: Sei vorsichtig auf der Treppe.

    Ich stehe dicht hinter ihr. Sie steht nun auf dem Podest zur ersten Stufe, sie dreht sich noch einmal zu mir um, während ihre Finger nach dem Lichtschalter suchen.

    „Frieda, jetzt geh doch zurück ins Wohnzimmer, ich bringe dir deinen Mantel schon." Sie hat den Schalter gefunden und das helle Kellerlicht geht an.

    Ich bin selbst überrascht, mit welcher Kraft ich ihr den Stoß versetze. Mit schreckgeweiteten Augen starrt sie mich für den Bruchteil einer Sekunde an und stürzt dann rücklings hinunter. Ihr Körper poltert und kugelt in die Tiefe und schlägt mit einem dumpfen Krachen unten auf. Dann ist Stille. Interessiert schaue ich nach unten. Da liegt sie. Sie regt sich nicht. Ihre Lage ist unnatürlich, ein Bein abgewinkelt. Auf den Stufen rote, nasse Flecken, Blut. Ihr Kopf ist blutüberströmt. Nun hat ihr Gesicht dieselbe Farbe wie ihr Haar. Ich mache lieber schnell das Licht aus und schließe die Tür. Mein Herz rast und ich atme schwer. Ich lege eine Hand auf die Brust, drücke sie fest auf mein Herz und halte kurz inne. Ich sollte mich wirklich nicht so anstrengen, Johann hat voll und ganz Recht. Schwerfällig gehe ich zurück zum Wohnzimmer und lasse mich erschöpft auf die Couch sinken. Da fällt mein Blick auf einen Kuchenrest unter dem Tisch. Sie hat ihn übersehen. Lilo Pulver ist eine gute Schauspielerin, aber vom Saubermachen versteht sie nichts.

    Er lag mit weit aufgerissenen Augen da und versuchte durch die Nase zu atmen, um ein Keuchen zu unterdrücken. Kalter Schweiß rann ihm vom Nacken zu den Oberarmen hinab und bildete kleine Rinnsale. Ein krampfhaftes Zittern durchlief seinen Körper.

    Kälte durchdrang ihn bis ins Innerste. Unfähig zu denken, waren aber seine Sinne bis aufs Äußerste geschärft. Er lauschte panisch, versuchte seinen Kopf etwas anzuheben, um mit seinem Blick die Dunkelheit zu durchdringen. Kamen sie wieder, seine Peiniger? Er machte sich keine Illusionen, dass sie wohl nur für einen Augenblick von ihm abgelassen hatten. Sein Rücken brannte wie Feuer an den Stellen, wo ihn die Peitsche aus Stacheldraht getroffen hatte. Die einzelnen Striemen hatten sich zu einem Flächenbrand vereinigt, der seine rohe Haut zerfurchte und sich tief in sein Fleisch grub. Seine Finger spürte er nicht mehr, die Kabelbinder, die sie umschnürten, waren viel zu eng gezogen. Er vermochte nicht, sich auf einen einzelnen Punkt seines Körpers zu konzentrieren, der Schmerz schien durch jede Pore zu kriechen. Angst, nackte Angst beherrschte ihn. Sein Herz schlug unnatürlich schnell, er spürte es in seinen Schläfen pochen. Sein Herzschlag erinnerte ihn für einen Moment an den Takt des Metronoms seines Klaviers, das er als Kind gerne auf ganz schnell eingestellt hatte. Ticktack, ticktack, ticktack, ticktack ... Die röchelnden Geräusche, die sich nun ungewollt seiner Lunge entrangen, durchrissen die Stille der Nacht in ungleichmäßigen Abständen, vermischten sich mit seinem leisen, angstvollen, jetzt nicht mehr zu unterdrückenden Wimmern und dem Herzschlag zu einem mehrstimmigen Konzert. Die Dunkelheit hüllte alles ein und schien die Geräusche der Nacht zu dämpfen. Er vernahm das Rufen eines Uhus aus dem nahegelegenen Wald und konnte jetzt auch das flackernde Licht einer Taschenlampe wahrnehmen. Er lag bäuchlings über einem großen Findling, wie sie in dieser Gegend häufiger zu finden waren, seine Füße streiften die warme Erde. Der kalte Felsen berührte seinen entblößten Bauch und seine rechte Wange, die er nun an den Stein geschmiegt hatte, so als wäre er sein Freund. Gerne würde er sich hinter dem Felsen verbergen, in dessen dunklen Schatten gleiten, aber es war ihm nicht möglich, sich zu bewegen. Sie hatten ihm die Hose heruntergezogen und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Plötzlich hörte er, wie jemand hinter ihn trat, feine Äste zerbrachen unter schweren Schritten, der Pegel der Taschenlampe war direkt auf seinen Rücken gerichtet, zerschnitt die Finsternis. Gespenstisch zeichnete sich ein Schatten auf dem unebenen Boden ab. Nackt und bloß fühlte er sich ihm ausgeliefert – diesem Schatten, der tänzelte im flackernden, kalten Licht. Zuerst spürte er das raue Leder von Stiefeln, die sich zwischen seine Knie drängten, und schließlich die harte Gummisohle an den Innenseiten seiner Oberschenkel, als seine Beine durch einen brutalen Tritt gespreizt wurden.

    Der Mann hinter ihm sagte kein Wort. Er konnte ihn nicht einmal atmen hören, als dieser mit kräftigen riesigen Pranken seine Gesäßbacken auseinanderdrückte. Als die abgerundete Eisenstange seinen Anus durchbohrte, durchzuckte ihn ungeheurer Schmerz, er bäumte sich ächzend auf, seine Muskeln versuchten reflexartig verzweifelt mit letzter Kraft dagegenzuhalten. Aber es war zwecklos. Der andere fuhr unbeirrt fort in seinem Tun und drückte die Stange langsam tiefer und tiefer in seinen Leib, indem er sie hin und her drehte. Dann ertönte plötzlich das Geräusch eines Motors in der Ferne und schwoll immer mehr an. Der Mann hinter ihm hielt inne, knipste die Taschenlampe aus. Das Motorengeräusch wurde lauter und für den Bruchteil eines Moments flackerte bei ihm die unsinnige Hoffnung auf, dass doch jemand kommen mochte, um ihn zu retten. Und tatsächlich schien das Auto direkt auf sie zuzuhalten. Konnte es sein, dass jemand in der Nacht auf diesen einsamen Feldweg eingebogen war? Wurde er endlich vermisst? Suchte jemand nach ihm? Dann erstarb das Geräusch genauso schnell, wie es näher gekommen war, und er vernahm wieder den Uhu, der sein schaurig eintöniges Lied sang.

    Ohne die Taschenlampe wieder anzuschalten, fuhr der Mann hinter ihm mit der Arbeit fort. Der stechende Schmerz steigerte sich bis ins Unermessliche und brachte ihn dem Wahnsinn nahe. Sein Atem setzte für einen Moment aus. Schließlich wurde er von einer gleichgültigen Betäubtheit übermannt, der Schicksalsergebenheit, die ihn schon seit Stunden immer wieder ergriffen hatte. Gekämpft hatte er und verloren, nun stand das bittere Ende bevor, das ihm doch wie eine Erlösung entgegenzuschimmern schien. Mitten in den tobenden Qualen schlich sich die Ohnmacht immer näher, konnte sich aber noch nicht entschließen, von ihm endlich Besitz zu ergreifen. Als die Stange erbarmungslos weitergetrieben wurde von groben Händen, die zu keiner Seele zu gehören schienen, drängte sie durch den Darm, zerfleischte die Organe und endlich, endlich wurde ihm schwarz vor Augen, das Zucken seiner Gliedmaßen spürte er nicht mehr.

    Aber mitunter gibt es keinen gnädigen Gott, der Tod hockt in einer Ecke und wartet. Er hatte noch keine Lust, den Armen zu holen, und so erwachte dieser einige Minuten später aus seiner Ohnmacht aufgepfählt. Kein Schrei konnte sich ihm entringen, denn sein Mund war zugestopft. Lediglich Geräusche, wie sie ein vor Schmerzen ächzenden Tier vernehmen lässt, drangen durch den Knebel. Ein Winseln und Wimmern, das kaum mehr etwas Menschliches hatte. Die Eisenstange wurde in eine mit frischem Beton aufgefüllte Grube gesteckt, Holzkeile verhinderten, dass die Stange umfiel. Er hatte selbst das Loch ausheben müssen, fast einen Meter tief. Und nun zuckte er unkontrolliert, die Stange drang Zentimeter um Zentimeter weiter vor in seine Eingeweide, bis sie zum Stillstand kam, vom Rippenbogen gestoppt und den dazwischen eingeklemmten Muskeln, Organen und Nervenbahnen. Die Hölle war aus ihren Tiefen herausgestiegen, um ihn zu quälen, kam ihm in einem letzten, kurzen, klaren Augenblick der Erkenntnis zu Bewusstsein, bis die schier unmenschliche Gewalt der Schmerzen jegliches Bewusstsein ausschaltete. Aus der Ferne hätte man ihn für einen Hampelmann halten können, der mit zuckenden Gliedmaßen tanzte nach einer Melodie, die nur er selbst zu hören vermochte im hüpfenden Licht der Taschenlampe, die wieder eingeschaltet worden war. Doch schließlich verlosch auch diese und nur der Mond lugte hinter den Wolken mit blassem Antlitz hervor. Der Tod ließ sich Zeit und Gott blickte viele Stunden lang nicht auf die Erde hinab in dieser lauen Nacht am Rande des Taunus. Erst als der Morgen graute, erbarmte er sich und bereitete mit dem letzten Atemzug, rasselnd und schwer, seiner Qual ein Ende. Den fast nackten, unterkühlten Körper erfasste Todesstarre. Der alte Flickenmantel, den man ihm übergeworfen hatte, blähte sich in dem aufkommenden Wind, rötliche Sonnenstrahlen tanzten auf der Krempe des alten, viel zu großen Huts, der das Gesicht fast vollständig verdeckte. Fast gleichzeitig kamen mit den ersten Sonnenstrahlen die Krähen zum Frühstück aus ihren Nestern. Kaum hatte die Erste ihre Entdeckung ihren Artgenossen vermeldet, kreiste bald ein ganzer Schwarm der Rabenvögel um das unverhoffte Zubrot, das dort für sie aufgespießt stand. Über das Feld streifte der Wind, in sanften Wellen wogten die gelben Blüten und ein neuer Spätsommertag brach an. Nur das Donnern der Flugzeuge vom Frankfurter Flughafen durchschnitt alle paar Minuten die Stille des Morgens. Die Rhein-Main-Region war erwacht.

    Sascha stand in der Tür des alten, etwas heruntergekommenen Bauernhauses und strich mit seinen schwieligen Händen über seinen Blaumann. Der Stoff war faltig und voller Flecken, die schwarzen Gummistiefel reichten ihm fast bis unter die Knie. Die Morgensonne hatte den Hof gerade erfasst und tauchte die Giebel von Wohngebäude und Scheune in einen strahlenden Goldton. Der junge Bauer ließ den Blick schweifen. Das leuchtendgelbe Feld vor ihm, dahinter der Wald in saftigem Grün. Alles lag friedlich da, das Land breitete sich vor seinen Augen aus, als er um die Ecke des Hauses schritt und die ersten warmen Strahlen auf dem braungebrannten Gesicht wohlig genoss. Für einen Moment schloss er die Augen und sog die frische Morgenluft tief ein.

    Der Nebel hing noch über dem Wald hinter den Feldern, die Hügel des Taunus in der Ferne waren noch verdeckt. Er seufzte und fuhr sich durch das strähnige Haar. An einem Morgen wie diesem, an dem sich das charakteristische Panorama dem Auge noch verbarg, hätte der Hof auch höher im Norden liegen können, irgendwo in Schleswig-Holstein oder Mecklenburg in der Nähe des Meeres, wo Lucie jetzt lebte. Nun war es schon zwei Jahre her, seitdem sie ihn verlassen hatte und aufs flache Land an die Ostsee gezogen war, zurück zu ihrer Familie. Er seufzte noch einmal und trat mit der Spitze seines Stiefels einen Stein beiseite, der kantig über den grauen Asphalt rollte. Eine ganze Schar Krähen flog über das Haus und riss Sascha aus seinen Gedanken. Wie ein schwarzes Band durchschnitten sie in langer Reihe den Himmel. Er zog unwillkürlich den Kopf ein und wunderte sich über das ungewohnt laute Gekrächze. Sie hielten auf die alte Vogelscheuche zu, hinten im Gelbsenffeld in der Nähe des Waldrands, nur ihre Konturen waren zu sehen, der riesige schwarze Hut und der flatternde Mantel. Etliche der schwarzen Vögel saßen bereits auf der mannsgroßen Puppe, andere umkreisten sie lautstark. Sascha musste grinsen und strich sich über die unrasierte Wange. Das kratzende Geräusch der Bartstoppeln auf seiner rauen Hand erinnerte ihn daran, dass er sich dringend rasieren musste, wenn er heute Abend ausgehen wollte. Verdutzt beobachtete er für einen Moment das Treiben der Vögel aus der Ferne. Diese frechen Viecher hatten keinen Respekt vor der Attrappe, die die Saat schützen sollte. Aber warum auch? Er hatte gelesen, dass Krähen über eine Menge Intelligenz verfügten, so dass sie diese Abschreckungsmaßnahmen der Menschen sicher schnell durchschauten. Aber sein alter Herr hatte darauf bestanden, die Vogelscheuche aufzustellen, weil sie immer dort gestanden hatte, jedes Jahr aufs Neue.

    Dieser störrische alte Mann! Bei dem Gedanken an seinen Vater spuckte Sascha verächtlich auf den Asphalt. Noch immer verstand er es, ihm seinen Willen aufzuzwingen. Das Treiben der Krähen wurde immer toller. Irgendetwas stimmte da nicht. Sie versuchten unter den Hut der Vogelscheuche zu gelangen, um dort zu picken. Schließlich fiel der Hut herunter. Er segelte zu Boden, drehte vorher noch eine Pirouette, so als würde die Puppe ihren Hut ziehen, um jemanden zu grüßen. Sascha zog die Stirn in Falten und kniff die Augen zusammen. Die Umrisse des Strohkopfes zeichneten sich scharf im Gegenlicht des noch jungen Morgens ab. Die Krähen stürzten sich wie toll auf die dunkle Kugel über dem Mantel. Ein ohrenbetäubender Lärm ging von ihnen aus. „Weg mit euch!, rief Sascha mit heiserer Stimme und stapfte durch das Feld auf die Puppe zu. Er mochte Krähen nicht und ihre immer größer werdende Menge ließ ihm einen unangenehmen Schauer über den Rücken laufen. Die Pflanzen standen schon hoch, reichten ihm bis über die Hüfte und gelber Blütenstaub blieb an seinem Blaumann haften. „Verschwindet!, er fuchtelte mit den Armen durch die Luft, klatschte verärgert in die Hände, doch die Krähen ließen sich nicht von ihm stören. Immer zahlreicher wurde ihre Schar und sie hielten unbeirrt auf den Strohkopf zu. Geblendet von der Morgensonne, trennten Sascha nur noch wenige Meter von der Vogelscheuche. Er versuchte mit an die Stirn gelegter Hand die Augen abzuschirmen, die im grellen Gegenlicht schmerzten. Ein Jumbojet donnerte über seinem Kopf hinweg und als er in den Schatten des Waldrandes trat, blieb er abrupt stehen. Langsam senkte er seine Hand. Er spürte, wie sein Atem stockte, das Blut schien in seinen Adern zu gefrieren. Der Mund öffnete sich unwillentlich, die Augen weit aufgerissen, starrte er mit entsetztem Blick auf die Vogelscheuche. Aber da war kein Strohkopf. Stattdessen glotzte er in die toten Züge eines blutüberströmten Menschenkopfs, dem die Krähen die Augen ausgepickt hatten und über den sie sich laut streitend hermachten. In wildem Gerangel versuchten sie einander Haut- und Fleischfetzen abzujagen und die besten Stücke zu ergattern.

    Sascha sackten die Beine weg. Ein unwiderstehlicher Würgereiz überkam ihn und er übergab sich in die gelbe Blütenpracht, besprenkelte sein rechtes Hosenbein mit Spritzern des Erbrochenen. Er fing den Sturz unbeholfen mit den Händen reflexartig ab, kniete für wenige Sekunden auf dem Ackerboden, erlangte aber schnell sein Gleichgewicht zurück und richtete sich hektisch auf. Dann drehte er sich um und wandte sich von der Vogelscheuche mit zitternden Gliedern ab. Er atmete tief durch, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und ging unsicher und langsam ein paar Schritte zurück in Richtung Hof, verfiel dann aber in panisches Rennen. Er fühlte sich verfolgt von dem lauten Krächzen der schwarzen Schar, so als würden sie ihm im Nacken sitzen. Er stolperte mit den etwas zu großen Gummistiefeln, fiel hin, tauchte für einen Moment in das gelbe Meer ein. Ein Marienkäfer krabbelte langsam an einem Stängel empor, nur wenige Zentimeter von seinen Augen entfernt. Sascha rappelte sich wieder auf und hastete auf wackeligen Beinen, immer wieder strauchelnd, weiter. Er kämpfte sich durch das Gewirr aus Stängeln und Blüten und es schien ihm, als wollten die Pflanzen ihn umschlingen und daran hindern, sich von der grauenhaften Gestalt zu entfernen. Es konnte nicht sein, schoss es ihm durch den Kopf. Es war vollkommen ausgeschlossen! Aber das Schreien der hungrigen Krähen belehrte ihn eines Besseren. Er brauchte sich nicht umzuwenden, um zu wissen, dass dort tatsächlich ein Mensch aufgespießt stand. Im Haus angekommen, wählte er außer Atem und mit zittrigen Händen die Nummer des Polizeinotrufs.

    Hauptkommissar Georg Maindl erreichte den Wimmerhof erst geraume Zeit nach seinen Kollegen. Mit quietschenden Reifen hielt er vor dem alten Bauernhaus. Schon wieder hatte er sich verfahren, als er, von Wiesbaden kommend, den Aussiedlerhof gesucht hatte. Verärgert würgte er den Motor ab und griff hektisch nach seiner braunen Ledertasche. Längst schon hätte er sich ein Navi kaufen sollen, hatte sich aber bisher stets dagegen gewehrt. Schließlich war sein Orientierungssinn immer ganz ausgezeichnet gewesen. Dennoch nahm er sich nun vor, gleich am Nachmittag eins zu besorgen, denn er wollte nicht zum Gespött der anderen werden, weil er sich als Oberbayer aus der Provinz nicht in dem verschachtelten Straßennetz des Ballungsgebiets zurechtfand. Erstaunlich, dass es hier tatsächlich Bauernhöfe gab, die in einer so ländlichen Abgeschiedenheit liegen, obwohl die Großstadt nur wenige Kilometer entfernt ist, dachte er, als er aus dem Auto stieg und unmittelbar in einen Kuhfladen trat. „Zerfix!, entfuhr es ihm und er versuchte den Schmutz von seinen neuen schwarzen Lederschuhen abzustreifen. Lisa hatte ihm gesagt, hier in der Stadt taugten seine alten Trekkingschuhe nicht, die er sonst jeden Tag im Dienst getragen hatte. Er würde sich damit nur lächerlich machen. „Auf de hob i hean kinna...!, knurrte er verärgert und schlug die Tür seines blauen Mazdas kräftig zu. Er zog ein Taschentuch aus der Jackentasche und wischte sich kleine Schweißperlen von der Glatze. Der Wimmerhof bestand aus einem alten Bauernhaus mit hohen Giebeln und einer großen Holzscheune. Rundherum lagen Felder, auf denen vor allem Getreide angebaut wurde und die vom Waldsaum begrenzt wurden. Am Horizont wölbten sich sanft die Hügel des Taunus in den stahlblauen Himmel. Maindl ließ seinen Blick kurz über die Umgebung schweifen und fixierte dann seine Kollegin, Cornelia Schwarz, die eilig auf ihn zukam. Ihre langen braunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihre schlanke Gestalt bewegte sich in vollkommener Harmonie, so sanft waren ihre Bewegungen beim Gehen, als würde sie schweben. Dennoch war sie durchtrainiert und Maindl hatte an eine Tänzerin denken müssen, als er das erste Mal hinter ihr im Flur des Präsidiums hergegangen war und seinen Blick kaum hatte von ihrem muskulösen Rücken abwenden können. Sie deutete kurz auf seine Schuhe und grinste: „Dass ausgerechnet du … Aber Maindl war nicht zum Scherzen zumute und winkte mit einer kurzen Handbewegung ab. „Komm zur Sache, was haben wir?, fragte er die junge Kollegin und seine Stimme klang dabei schärfer, als er es beabsichtigt hatte.

    Sofort verschwanden die Grübchen auf ihren Wangen und sie sah ihn ernst an. „Bisher nicht viel, antwortete Cornelia und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Da drüben im Raps steht ein Mann aufgepfählt, es gibt Schuhabdrücke und etwas weiter hinten am Waldrand einen großen Findling mit Blutspuren. Sie deutete mit dem Zeigefinger in Richtung Feld, auf dem schon etliche Polizisten herumstanden und wartend zu ihm hinüberblickten. „Das ist doch kein Raps, erwiderte Maindl knapp, „wir haben schon Ende August. Am Rande des gelb leuchtenden Feldes stand eine Art Vogelscheuche mit langem Mantel – der Gepfählte. Maindl nickte den Kollegen zu, aber sie standen zu weit weg, um seine Geste deuten zu können. Nur einer hob die Hand zum Gruß, es war Özkan Yilmas. „Und das nennst du nicht viel? Maindl schaute aufmerksam zu dem Gepfählten, vor dem ein Kollege kniete und Fotos schoss. Krähen flogen wie wild um ihn herum. „Wir haben erst mal alles so gelassen, bis du da bist, fuhr sie fort und er versuchte zu ergründen, ob in ihrer Stimme der Hauch eines Vorwurfs über seine Verspätung zu hören war. „In dem Haus wohnen Alfred und Sascha Wimmer, Vater und Sohn", erklärte sie weiter. Sie zeigte zu dem Bauernhaus, vor dem ein Mann mittleren Alters in einem Blaumann und schwarzen Gummistiefeln

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