Von langer Hand: Ein Roman
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About this ebook
Fern vom Weltgeschehen und doch mittendrin.
Die kurze Geschichte eines von langer Hand vorbereiteten Abenteuers.
Zeitlos und aktuell.
Von einem Augenzeugen erzählt.
Heinrich von Tiedemann
Heinrich von Tiedemann, geb. 1924, arbeitete zunächst als freier Schriftsteller, dann als ARD-Korrespondent in Afrika und Skandinavien. Er schrieb Romane, Kinderbücher und seine Erinnerungen. Er lebt heute in Aumühle bei Hamburg.
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Book preview
Von langer Hand - Heinrich von Tiedemann
Alles begann im Jahr zuvor.
Es war ein Bahnhof wie viele andere in Schleswig-Holstein, gebaut zu Kaisers Zeiten, verwischter Klassizismus und eigentlich sehr hübsch, wie aus einem Kinderbaukasten. Was hatte es früher alles gegeben, den Bahnhofsvorsteher, den Mann mit der steifen roten Mütze. Jetzt gab es ihn nicht mehr, schon lange nicht mehr. In den Zügen hielt sich der Ersatz auf, ein Schaffner oder Zugbegleiter, der, anstatt die herkömmliche Kelle zu schwingen, eine Trillerpfeife schrillen ließ. Zuweilen genügte ihm auch ein Winken, um den Zug wieder in Gang zu setzen.
Wie das auch jetzt geschehen war, nachdem Jean-Pierre Baye mit all seinem Gepäck auf dem Bahnsteig festen Fuß gefasst hatte und dem Zugbegleiter, der ihn scheinbar etwas ratlos beobachtete, etwas hilflos zulächelte. Sonst war niemand ausgestiegen, die Tageszeit war offensichtlich nicht danach, kein Reisender in spe war zu sehen. Auch in den Abteilen schien sich niemand aufzuhalten, zumindest in seinem war Jean-Pierre allein gewesen. Ein leerer Zug, der über ein Land fuhr, das einem Fremden wie unbewohnt erscheinen mochte, sofern er an städtisches Menschengewimmel gewöhnt war. Wenn man aber darüber länger nachdachte oder gar jemanden um Auskunft bat, erfuhr man, dass es Erntezeit war und mindestens die Hälfte der Bevölkerung damit beschäftigt sein musste. Hinter den Bäumen, die den Bahnhofsvorplatz säumten, schimmerten die Getreidefelder mit Gerste und Weizen, dazwischen die schmutzig wirkenden Halme des Raps und gleich daneben das sanfte unreife Grüngelb des Mais. Ein Junge mit einem Fahrrad stand vor dem Fahrkartenautomaten. Er hantierte geschickt und routiniert und zog ein bedrucktes Stück Papier aus dem Apparat, und bevor er weiter radelte, warf er Jean-Pierre einen flüchtigen Blick zu, der eine gewisse Aufmerksamkeit verriet, als habe er Jean-Pierre erkannt, was nun wirklich nicht möglich war, denn die beiden hätten sich wohl nicht einmal im Traum treffen können. Immerhin bemerkenswert war, was der Junge auf dem Fahrrad einige Minuten im Gedächtnis speichern würde: ein schwarzhäutiger, großer, dünner Mann mit weißem Kraushaar neben zwei großen Plastikkoffern. Ein schwarzer Jazzmusiker vielleicht? Die gab es ja überall, zumindest täglich irgendwo im Fernsehen. Die waren nicht immer aus Afrika oder Amerika, die gab’s längst schon überall, auch in der deutschen Provinz, Nachkommen von ausländischen Soldaten, wie der Junge von seinen Großeltern wusste. Vielleicht trat er womöglich im Städtchen im Hotel zur Sonne auf, wo schon Udo Lindenberg für ein großes Konzert in Lübeck oder Kiel geprobt hatte. Und auch eine Laienspielgruppe aus einem der umliegenden Dörfer präsentierte sich dort, meist zur Weihnachtszeit. Jean-Pierres Gedanken gingen vermutlich in eine vergleichbare Richtung. Während er überlegte, wie er sein Ziel, einen Gutshof in der Nähe, erreichen könnte, registrierte er den Blick des Jungen wie eine Berührung, wie das Gefühl, als habe man ihn am Ärmel seines Anzugs gezupft. Das Empfinden, ständig Aufmerksamkeit zu erregen, war nun nichts Neues für ihn, von Kindesbeinen an war es so gewesen, damit müsse er sich abfinden, hatten ihm seine Eltern wohl gesagt. Mit den Unterschieden gelte es, immer und überall zu rechnen. Er bückte sich, um die beiden Koffer anzuheben.
»Kann ich Ihnen helfen?« sagte ich, nachdem ich all die Gedanken beiseite geschoben hatte, die mir in den letzten Minuten durch den Kopf gegangen waren. Es war wirklich ein seltsamer Moment, dieses Wiedersehen! Unsere erste Begegnung vor mehr als fünfzig Jahren hatte, wenn man es ganz simpel sagen wollte, auf einem anderen Planeten oder weniger bombastisch formuliert, in einer anderen Welt stattgefunden. Und doch war es wie gestern. Das rasende Fortschreiten der Zeit, besser der Lebenszeit, wird nie stärker empfunden als im Augenblick unverhofften oder überraschenden Wiedersehens. Sogar ein Empfinden von Neugier stellt sich sein, wie damals, als man das Treffen vor sich hatte.
Es war nicht an einem Bahnhof wie jetzt, sondern in einem Hafen, dem von Dakar, der Hauptstadt der jungen Republik des Senegal an der Westspitze des afrikanischen Kontinents. Ich hatte gerade das Frachtschiff verlassen, das mich und meine Frau in diese doch nach allgemeinem Gefühl durchaus abgelegene Gegend gebracht hatte, die »Steinhöft«, kaum sechs Tausend Tonnen Verdrängung und in stürmischer See durchaus labil, zumindest so sehr, um mich über eine Woche hindurch seekrank und lebensmüde in der Kabine festzunageln. Das ist schnell vergessen, wie erfahrene Seefahrer wissen, zu denen ich mich nicht rechne. Es war gegen Mittag und die Sonne heiß wie eine Kochplatte, war doch der Fahrtwind an Deck, der uns den Übergang vom gemäßigten zum tropischen Klima so angenehm hatte werden lassen, wie abgestellt verschwunden. Der Botschafter der Bundesrepublik, ein Bayer, blond, kleinwüchsig und muskulös, hatte meiner Frau sofort die Hand geküsst und sie an sich gezogen, als wolle er damit ausdrücken, endlich einen respektablen Menschen in dieser gottverlassenen Gegend entdeckt zu haben. Ich stand etwas abseits mit dem Blick auf einige Zollbeamte, deren mögliches Misstrauen mich beunruhigte, hatten wir doch unseren gesamten Hausstand in einer großen Kiste an Bord verfrachtet. Tatsächlich forderte einer der tiefschwarzen Uniformierten meine diversen Dokumente, um die Einreise zu legitimieren. Die Sprache, in der er uns seine Wünsche mitteilte, schien Französisch zu sein, gab uns jedoch einige Rätsel auf. Nun kam Jean-Pierre Baye ins Spiel. Er hatte die ganze Zeit über abseits gestanden und uns beobachtet, wie wir senegalesischen Boden betraten, – so jedenfalls hatte ich diesen Augenblick empfunden, mehr Entdecker als einfacher Tourist oder Geschäftsreisender. In makellosem Französisch mit etwas verhärteten Konsonanten sprach er mich an, hieß mich willkommen, nahm mir die Papiere ab, die ich unschlüssig in der Hand hielt, gab sie dem Zöllner, nahm mich und meine Frau am Arm und zog uns zu einem Mercedes Wagen, der den schwarz-rot-goldenen Stander Westdeutschlands trug. Er half uns ins Auto, klappte die Tür zu und winkte dem Botschafter, der daraufhin etwas überrumpelt eilig neben dem schwarzen Fahrer Platz nahm. Schon fuhren wir los, während Monsieur Baye uns mit einem Lächeln winkend verabschiedete.
Treffen dieser Art prägen sich ein. Sein Gesicht, breit und zugleich faltig, ewig zum Lächeln bereit, der große, wie meine Frau sagte, »freundliche« Mund, Augen, die vielleicht von der ewigen Hitze Afrikas etwas entzündet wirkten, und »auffallend natürliche« Zähne, wie sie auch gesagt hatte, und was immer sie damit meinte. Dies alles traf auch hier zu, auf dem Bahnhof im nördlichen Deutschland. Jean-Pierre schien sich in einem halben Jahrhundert kaum verändert zu haben, abgesehen von den nun fast gänzlich weiß gewordenen krausen Haaren. Neger verändern sich nicht so wie Weiße, so sagte man das früher. Doch Neger gab es ja längst nicht mehr, zumindest nicht in unserer deutschen Sprache. Daran wie jemand und wer dieses Wort noch in den Mund nahm, konnte man erkennen, wes Geistes Kind er angeblich war.
Als ich nach Afrika »abkommandiert« worden war, sagten Leute zu mir, ich ginge jetzt »zu die Negers« und man lachte. Wo war man ihnen, den »Negers« schon mal begegnet? Im Kinderlied, als Sarotti-Mohr und in der Wiener Hofburg, wo einer sogar ausgestopft stehen sollte. Ich hatte einen Freund aus einer